Sonntagsritual

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Rea Norden

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Es ist Sonntag, kurz nach halb zehn und wenn ich später die Brötchenkrümel vom Laken streiche und den Kaffeefleck aus dem Satinbezug des Kopfkissens wasche, werde ich mir wieder sagen, dass es so schlimm doch gar nicht um uns stehen kann. Schließlich frühstücken wir gemeinsam im Bett und wie viele Paare tun das schon noch, nach sechs gemeinsamen Jahren?

Unser Sonntagmorgen verläuft nach einem festen Ritual. Davon haben wir etliche und sie beginnen mit dem Öffnen unserer Augen. Wenn ich aufwache, schaue ich zu dir rüber und hoffe, dass du noch schläfst. Falls nicht, drehst du den Kopf zu mir, lächelst mich an, wir treffen uns in der Mitte des Bettes und während unsere Lippen sich flüchtig berühren, fühle ich nichts. „Frühstück?“, fragst du. „Klar, Frühstück!“, antworte ich, schlage die Bettdecke zurück, schwinge mich in die Senkrechte und gehe in die Küche.

Eine gute Stunde später haben wir Krümel im Bett, Marmelade auf der Oberlippe und einen Kaffeefleck auf dem Bettbezug. Im Hintergrund läuft der Fernseher, Vogelgezwitscher dringt durch das gekippte Fenster und die weißen Chiffonvorhänge bewegen sich sanft fließend in der schweigenden Morgenluft. Alles wie immer. Die Welt ist in Ordnung. Zu wissen, was passiert, ist ein gutes Gefühl. Das gibt Sicherheit. Viele Menschen haben nicht die leiseste Ahnung, was sie als nächstes tun sollen und das ist echt blöd. Vor allem sonntags.

Eine halbe Stunde später duschst du, dann ich, anschließend gehen wir im Stadtpark spazieren. Ich mache unzählige Fotos und während du alle paar Meter auf mich warten musst, checkst du deine Firmenmails. Irgendwann sind wir zurück in unserer beneidenswert schicken Altbauwohnung mit dem hübschen Stuck an den viel zu hohen Decken und den knarzenden Echtholzdielen, die wir mal furchtbar romantisch fanden, uns heute aber meist nerven. Vor allem nachts, wenn einer aufs Klo muss und der andere vom Krach im Flur wach wird. Würde man alleine wohnen, würde es weniger stören. Die eigenen Schritte kann man für gewöhnlich besser ertragen.

Irgendwann schmeiße ich den den Laptop an, du setzt dich mit der Zeitung auf die Couch und alle beide genießen wir unsere eingespielte Zweisamkeit. Immer, wenn deine Zeitung raschelt, überlege ich kurz, ob ich dich fragen soll, was in der Welt so los ist, aber eigentlich will ich’s gar nicht wissen. Nicht von dir. Und du nicht erzählen. Nicht mir. Stattdessen stehst du früher oder später auf und stellst wortlos lächelnd das Radio lauter. Ich fand Oasis schon immer scheiße, du stehst drauf. Sei`s drum. Während du an mir vorübergehst, berührst du mich kurz reflexartig im Nacken. Eine Gänsehaut bekomme ich davon schon länger nicht mehr - was nach einer solchen Zeit aber ganz normal ist. Meine Nervenenden sind deine Berührung einfach gewohnt. Genauso gewohnt, wie wir uns.

Während ich dir nachsehe, wie du ins Bad gehst, fällt mir ein, dass ich am Morgen vergessen habe, die Betten zu machen. Es ist Sonntag, kurz nach neunzehn Uhr, ich streiche Brötchenkrümel vom Laken, wasche den Kaffeefleck aus dem Satinbezug des Kopfkissens und stelle fest, dass es so schlimm doch gar nicht um uns stehen kann. Schließlich haben wir erst heute früh noch gemeinsam im Bett gefrühstückt. Und wie viele Paare tun das schon noch, nach sechs gemeinsamen Jahren?
 
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Aufschreiber

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Hallo Rea Norden,

willkommen auf der Leselupe!
Ich habe Deinen Text gelesen, mich Deiner sprachlichen Fähigkeiten erfreut und kurz nachgedacht, wie denn das in meiner eigenen Beziehung aussieht. - Und dann habe ich aufgeatmet, weil wir diese Rituale nur in einem verschwindend geringen Umfang haben. - Vielleicht ist ja genau deshalb für mich Dein Text ziemlich bedrückend, ein bisschen beängstigend, sogar, denn so will ich nicht "enden".

Hat mir jedenfalls sehr gefallen.

Beste Grüße,
Steffen
 

Rea Norden

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Hallo Steffen und vielen Dank für deine Rückmeldung! :)

Ich empfand es gestern etwas schwierig, zu entscheiden, was ich denn als Einstiegstext überhaupt posten soll - so ohne jegliches "Hallo" vorab. Deshalb freue ich mich, wenn meine Wahl auf eine Szenerie fiel, deren Stimmung (zumindest bei dir) ankam.

Muss mich hier die Tage erst mal noch bisschen umsehen, hoffe aber, wir lesen uns künftig häufiger. :)

Beste Grüße zurück,
Rea
 

Dimpfelmoser

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Hallo Rea Norden,

einen, wie ich finde, sehr gelungenen Text hast Du hier eingestellt. Ein wenig deprimierend, vielleicht gerade weil es so nachvollziehbar ist. Kann schon Anlass sein, die eigenen Rituale (die ich grundsätzlich eigentlich sehr wichtig finde) zu hinterfragen. Jedenfalls habe ich dies sehr gerne gelesen.
Eine Kleinigkeit: "... was sie als nächstes tun sollen und das das ist echt blöd."

Viele Grüße
Dimpfelmoser
 

Rea Norden

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Hallo Dimpfelmoser!
Eine Kleinigkeit: "... was sie als nächstes tun sollen und das das ist echt blöd."
Oha ... Ich habe diesen Text mehrfach durchgelesen, doch meinst du, ich hätte das doppelte "das" bemerkt? Offensichtlich nicht. Immer wieder spannend, was so ein Hirn alles für uns regelt. Manchmal sollte es das wohl besser lassen. ;) Danke für den gezielten Hinweis und dein Feedback im Allgemeinen. Freut mich, wenn du etwas damit anfangen konntest.

Viele Grüße zurück,
Rea
 

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Zu wissen, was passiert, ist ein gutes Gefühl. Das gibt Sicherheit. Viele Menschen haben nicht die leiseste Ahnung, was sie als nächstes tun sollen und das ist echt blöd. Vor allem sonntags.
Super Einstandstext, liebe Rea!

Da steht wohl das verflixte Siebente kurz bevor...
Es ist so eine Sache mit der Sicherheit und den Ritualen, oder?

Sie bieten Halt - viel mehr, als uns meistens bewusst ist. Sie gaukeln aber auch eine Sicherheit vor, die lähmend wirken kann und zu einer Art Stillstand führt. Den Schritt ins Neue, Ungewisse fürchten wir alle ja von Natur aus (die einen mehr, die anderen weniger) - ob wir das wollen oder nicht. Dann vielleicht doch lieber beim Vertrauten bleiben?

Nicht die leiseste Ahnung zu haben, was man - in diesem Fall als Paar - als Nächstes tun soll...da lese ich in der treffenden Formulierung zum Einen das Gefühl des Sollens (und das "soll"ist bekanntlich nie gut, wenn es in den eigenen Gedanken oder Sätzen zur Gewohnheit geworden ist) als Teil (oder Symptom?) des Problems, aber natürlich vor allem das Thema der abhandengekommenen "Ahnungslosigkeit", welche hier in der positiven Deutung die Bereitschaft und Offenheit für Noch Nicht Erlebtes und Spontanität meint; Abenteuer, neue Impulse, Vorwärtsbewegung.

Es stellt sich natürlich immer die Frage, welche äußeren Umstände und inneren Befindlichkeiten und Bedürftigkeiten dazu führen, wenn ein Paar diesen Punkt erreicht, wo der Dialog nicht mehr passiert, weil es weniger riskant ist und auch stressfreier, die unangenehmen Gedanken, Empfindungen und Wahrnehmungen Thema werden zu lassen. Das ist bei jedem Paar anders. Gleich bleibt aber die Frage: wo würde es hin führen, spräche man dem Partner gegenüber aus, wie man wirklich empfindet oder was für einen so nicht mehr funktioniert? (und weiß man Letzteres selbst eigentlich genau?)

Im besten Fall führt es zu einer gemeinsamen Weiterentwicklung. Aber dazu bedarf es eines gewissen Maßes an Gefestigtheit beider Partner, um nicht die Kränkung als ersten Impuls zu mächtig werden zu lassen. Und die Erkenntnis, dass man sich auch in einer Partnerschaft als Individuum weiterentwickelt und ein "eigenes" Leben führt. Ich behaupte aber, dass, wenn man als Paar an diesem Punkt die Kurve kratzt, eine Bindung und Vertrautheit aufbauen kann, die eine tolle Basis für ganz viel genüssliche Ahnungslosigkeit sein kann. Dann bekommen auch die gemeinsamen Rituale eine andere Wertigkeit.

Der Text ist herrlich unprätentiös gehalten und die leise Melancholie darin spricht mich persönlich sehr an! Sehr gerne gelesen!

Lieber Gruß,
fee
 

Rea Norden

Mitglied
Liebe Fee,
ich danke dir für deinen so ausführlichen Kommentar und für das Teilen deiner Gedanken, die du dir darüber gemacht hast - vermutlich sind es mehr, als ich selbst mir gemacht habe ... ;)

Ja, mit der Liebe, das ist so eine Sache und ich denke, im Laufe der Zeit schleicht sich bei vielen Paaren eine gewisse Alltagsblindheit ein. In wieweit sie tatsächlich von abflachendem Interesse aneinander erzählt oder lediglich den mitunter etwas einnehmenden Verpflichtungen des Lebens geschuldet ist, kann man von außen wohl nie so recht sagen und vermutlich sind sich auch viele Paare nicht ganz im Klaren darüber, was da überhaupt so vor sich geht. Der Mensch ist nun mal ein Gewohnheitstier und wenn er nicht aufpasst, gewöhnt er sich auch an das Schöne, das er mal so wertgeschätzt hat. Ob es wirklich weniger schön geworden oder nur vertrauter und dadurch "unspannender" geworden ist, da kann man direkt weiter drüber nachgrübeln.

Du hast allerhand interessante Ansätze genannt, was mir allerdings besonders gut gefällt, ist deine
tolle Basis für ganz viel genüssliche Ahnungslosigkeit
:D

Möge sie sich bei allen Paaren breitmachen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, wie die hier geschilderte. ;)

Ganz lieben Dank nochmals für dein Feedback und viele Grüße zurück,
Rea
 

Mimi

Mitglied
Hallo Rea,
mir ist Dein Text vom Sprachstil auch positiv aufgefallen...
Vielleicht könnten an einigen Stellen, die Sätze weniger "verschachtelt" formuliert werden, aber übermäßig gestört hat es den Lesefluss, meiner Ansicht nach nicht.

Die scheinbar bedrückend melancholische Nuancierung dieser Beziehungsroutine ist für den Leser gut erkennbar und wird bis zum Schluss immer deutlicher...
Selbst eine Resignation der beiden Charaktere ist spürbar.
Du beschreibst das auf eine sehr anschauliche Art, ohne dabei affektiert sentimental zu klingen.

Tja, warum bleibt man noch ein Paar...?
Da gibt es sicherlich viele Erklärungen.
Eine mögliche Erklärung, die der Text auch andeutet, (und die viele Menschen wahrscheinlich nachvollziehen können) ist die Gewohnheit, sozusagen die typische Zweckehe, weil der Mensch sich in der Regel vor Veränderung und der Ungewissheit eher scheut.
Nun, nicht wenigen Menschen fehlt da auch die Lust und der Mut für den Ausbruch aus einer Beziehungsroutine.

Summa summarum :
Insgesamt ein gelungener Einstieg in die Leselupe...

Gruß
Mimi
 



 
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