Sprachverfall

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Man hört heute überall
in der Umwelt Sprachverfall.
Ob im Kino, in Kantinen --
ringsum nur noch Sprachruinen.
Der Verfall nimmt seinen Lauf,
und es hält ihn niemand auf.

Doch es gibt ihn nicht erst heute,
vieles ging verloren, Leute:
Wir verloren den Dual,
doch den Leuten ist's egal.
Von den Wörtern fehlt ein Drittel,
wir verloren auch das Mittel
einer doppelten Verneinung,
wie drück' ich jetzt meine Meinung
ohne dieses Mittel aus?
Selbst das "e" fällt vielfach raus,
erstmal wird es einfach stumm,
dann entfernt man es darum.

Um den Schaden klein zu halten,
wo die bösen Mächte walten:
England und Amerika
rufen: "Noch sind Wörter da,
die Ihr längst vergessen gabt,
schön, dass Ihr sie wieder habt,
denn wir hoben sie Euch auf!"
Sprachverfall nimmt seinen Lauf.
Wehe bald dem Genitiv,
der steht schon bedenklich schief.
Und er fällt in Kürze, weil
so finden wir es schließlich geil.

Seit die Menschen Schrift erfanden
kam uns immer mehr abhanden,
nur vier Fälle sind noch hier,
wehe, wehe, wehe mir.
Griechisch und sogar Latein
stimmen in den Wehlaut ein.
 

namibia

Mitglied
Lieber Bernd,

Sprachverfall - das ist mir auch ein persönliches Anliegen. Ich weiß, dass sich Sprachen immer einem natürlichen Wandel unterziehen, wenn man jedoch bedenkt, dass der gute Geheimrat Goethe noch einen Wortschatz von 18.000 Worten hatte und die Bild - Zeitung mit 300 Worten jongliert, dann komme ich ins Nachdenken.

Daher: danke für das vortrefflich formulierte Gedichte, dessen Inhalt Zeile für Zeile nur unterstreichen kann!

Sprachleidenschaftliche Grüße

Anna
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Danke Anna. Das Gedicht ist janusköpfig, denn die These vom Verfall ist zwar nicht gar zu alt, aber das Schimpfen auf den Verfall schon. Und doch wird die Sprache sich lediglich weiterentwickeln.
Ein wesentlicher Verfall trat durch die Standardisierung auf, die dazu führte, dass plötzlich Redewendungen, Formen und Wörter, wie dem Bernd seine in diesem Satz, falsch wurden.

Somit brauchen wir uns also keine wirklichen Sorgen zu machen. Nur, dass ich meinen itzgründisch-fränkischen Heimatdialekt nicht rictig lernen konnte, ist schade. Aber es war Ziel der Eltern in meiner kindheit, uns Hochdeutsch beizubringen. Erst nach vielen Jahren merkte ich, dass falsch nicht falsch, sondern Dialekt ist.
Und dass das Verschlucken von Endsilben ein natürlicher Prozess ist.

Goethes Gedichte lesen wir nicht mehr im Original, sondern in adaptierter Fassung.
 

namibia

Mitglied
Ja, Bernd, auch der Dialekt liegt vermutlich Wandlungen. Dennoch liegt in der doch sehr starken Reduktion der Sprache auf vielfach reine Kürzel und wenig Adjektive in meinen Augen eine Gefahr des Missverstanden werdens.

Aber natürlich ist das Thema sehr komplex und Sprache ales Untersuchungsobjekt äußerst spannend.

Ich muss direkt einmal nachsehen, ob ich tatsächlich keinerlei Original- Goethe gedichte in meinem Bücherschrank finde.

Best regards

Anna
 

James Blond

Mitglied
Lieber Bernd!

Sicher hat das Schimpfen um den Verfall eine lange Tradition. Erstaunlicherweise geht es dabei selten um den augenscheinlichsten Verfall der eigenen Person, obgleich der Verfall jedwelcher Kultur(en) überwiegend von der älteren und alternden Generation beklagt wird. :)

Aber um den Sprachverfall geht es trotz des gleichlautenden Titels wohl eher nicht, sondern um Veränderungen, welche wohl jede Sprache, die gesprochen wird, im Laufe der Zeit erfährt.

In der Tat versammelt der Text einige Beispiele aus der Grammatik, der Orthografie und des Wortschatzes, in dem die Veränderungen am offensichtlichsten sind.

Wohltuend ist an dem vorliegenden Text, dass er nicht in das übliche Seniorengejammer einstimmt, sondern aufzeigt, dass Veränderung zur Sprache gehört, wie Wasser zur Seefahrt. Dabei sorgen die Trochäen für eine heitere, launische Stimmung: man solle das Gejammere nicht zu ernst nehmen.

Allerdings frage ich mich, ob das Aufgezeigte tatsächlich den Kern der Sprachkritik trifft. Wenn von Sprachruinen die Rede ist, so steht für mich dabei weniger ein fehlender Ablativ oder falscher Genitiv im Vordergrund, sondern die gedankenlose und oberflächliche Verwendung. Man nutzt die zahlreichen Möglichkeiten, die Sprache bietet, nur noch selten. An die Stelle der Paraphrase ist die wortgetreue Wiederholung getreten, das Kennzeichen der copy&paste Generation. Begriffsfolgen werden im Sinne einer pc konstruiert und anschließend nur noch durchgereicht. Die semantische Differenzierung, die in der Ausschöpfung verschiedener Sprachmöglichkeiten liegt, wird nicht mehr erkannt, wie auch der Sprachstil als individuelles Kennzeichen abhanden gekommen ist, was zwar schon immer für Amateure galt, nun aber auch in zunehmenden Maße für Profis: Schriftsteller und Lyriker, die es eigentlich besser wissen und können sollten, offenbaren teilweise eine erschreckende Spracharmut, die sich in verzweifelten Neologismen zu kaschieren sucht.

So beschreibt der Begriff "Sprachverfall" die nachlassende Fähigkeit der Sprecher, sich mittels Sprache adäquat ausdrücken zu können, die allgemeine Verflachung des Sprachgebrauches ist das Symptom, nicht aber die Ursache und wer meint, durch das Insistieren auf elaborierte Sprachcodes auch das Denken verbessern zu können, wird erleben müssen, dass man Hungernde nicht dadurch satt bekommt, dass man sie mit Messer und Gabel essen lehrt.

Zu alldem sagt das Gedicht nichts, es steigt auf das Thema ein, um es in die Suppe der "Schon-Immer-So-Gewesen-Wahrheiten" zu einrühren: Nicht aufregen, nicht ärgern, ist doch alles nicht neu. Ironie wird versucht, indem das Gejammer deklamatorisch ins Katastrophale gesteigert wird:

Der Verfall nimmt seinen Lauf,
und es hält ihn niemand auf.


Zur Ironie passt "niemand" nicht so gut, weil damit eine (tatsächliche) Unmöglichkeit angedeutet wird. Mit "keiner" würde hingegen die Ironie bestätigt. (Zum Unterschied: Gibt es niemanden oder findet sich keiner?)

Und er fällt in Kürze, weil
so finden wir es schließlich geil.


Falls dieser Kracher beabsichtigt war: Es geht voll daneben, tötet Sprachwitz und Ironie und landet platt auf dem Boden der Sprachtatsachen.

Seit die Menschen Schrift erfanden
kam uns immer mehr abhanden,


Ganz gleich, wie man's dreht: die Satzaussage bleibt falsch, denn die Entwicklung der Schrift hat mit Sprachverfall oder -verlust weder zeitlich noch kausal etwas zu tun.

Leider habe ich in dem Gedicht eine entsprechende Pointe vermisst. Es dreht sich ein wenig im Kreis, ohne ein Resumee zu ziehen, das über die Beschreibung hinaus führt:

Griechisch und sogar Latein
stimmen in den Wehlaut ein.


Gern kommetiert

Grüße
JB
 



 
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