Stahl

Bo-ehd

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„Siehst ganz schön scheiße aus, Kumpel“, bemerkte Johannes Ebinger, als er den Plastiksack geöffnet hatte und in aller Ruhe einen ersten Blick auf die Leiche auf seinem Tisch warf. Schwere Verkehrsunfälle wie dieser waren für ihn trotz seiner jahrelangen Erfahrung als Bestatter immer ein Graus. Meistens waren die Köpfe der Opfer betroffen, und ihren grauenvollen Anblick wurde er manchmal tagelang nicht los.
Als er tags darauf mit der Reinigung begann, inspizierte er zunächst die Verletzungen. An der stark eingedrückten Schädeldecke, die offensichtlich Grund für den Tod war, war aus seiner Sicht nicht viel zu waschen, da sie noch weitgehend geschlossen war und nur aus einem Loch am Hinterkopf geblutet hatte. Aber die Fleischwunde an seinem Oberkörper, die hatte es in sich. Wie ein Pathologe fragt er sich, welcher Gegenstand im Cockpit eines kleinen Pick Ups in der Lage war, eine so schwere Wunde herbeizuführen.
Er wusch den 30 Zentimeter langen ausgefransten Riss äußerlich, spülte das Blut heraus, indem er ihn mit zwei Fingern geöffnet hielt, und stutzte. Da war etwas unterhalb des Rippenbogens, das ihn neugierig machte. Nach näheren Hinsehen entdeckte er eine Art Loch, das tief in den Körper führte. Es muss ein dünner Stab gewesen sein, ein Eispickel oder etwas Ähnliches, vielleicht ein Pfeil, mutmaßte er und fuhr mit der Reinigung fort. Plötzlich hielt er abermals inne. War es vielleicht ein Stoß mit einem langen, schmalen Dolch?
Ebinger hatte schon öfters Leichen mit sonderbaren Verletzungen auf dem Tisch liegen, aber nichts glich dieser. Und einen Schuss schloss er ebenfalls aus. Schusskanäle begannen immer außen auf der Haut mit einem Einschussloch. War das wirklich ein Unfall, oder hatte hier jemand auf raffinierteste Weise nachgeholfen?
„Spannende Frage“, murmelte er, zog seine Schürze aus und setzte sich an seinen Schreibtisch. Endlich mal wieder eine Leiche, die das trostlose Ausziehen, Waschen, Schminken, Anziehen und Aufbahren unterbrach. Ein bisschen Pathologe spielen, das war die einzige Abwechslung in dem routinemäßig ablaufenden Arbeitstag eines Bestatters.
Ebinger hoffte, dass ihm ein Blick in die frisch angelegte Akte weiterhalf. Die erste Seite war der Totenschein, der das auswies, was er schon wusste: Tod infolge eines Verkehrsunfalls. Die Unterschrift wies einen Namen aus, den er nicht entziffern konnte. Dann war da noch die Freigabebescheinigung, die ihm auch nicht weiterhalf. Das dritte Papier enthielt den Auftrag für die Bestattung, unterzeichnet von einem Heinz Messner. Mangels Angehöriger hatte er sich bereit erklärt, die Bestattungskosten zu übernehmen. Er hatte die kostengünstigste Form in Auftrag gegeben: Verbrennung, Entsorgung der Asche bis auf eine symbolische Menge, die in einer billigen Mini-Urne aus China gesammelt und wem auch immer ausgehändigt werden sollte. Keine Aufbahrung, keine Beisetzung, keine Andacht – nichts dergleichen, nicht einmal eine Todesanzeige in der Zeitung.
Ebinger überlegte, was er machen sollte. Richtig wäre auf jeden Fall, die Polizei zu informieren, aber er zögerte. Er war viel zu sehr Geschäftsmann, um die Sache einfach aus der Hand zu geben oder auf sich beruhen zu lassen. Ein solches Wissen musste doch irgendwie zu verwerten sein, kam es ihm. So tat er das Naheliegende, indem er sich erst einmal ein Gesamtbild des Vorfalls machte.
Interessiert verfolgte er in der Online-Ausgabe der Tageszeitung den Bericht über den Unfall. Er musste gar nicht zu Ende lesen, denn wenn er eins und eins zusammenzählte, war klar:
Hier lag eindeutig ein Mord vor, und der Unfall diente der Vertuschung. Er beschloss, bei Messner vorzusprechen.

*

„Setzen Sie sich!“, sagte Messner wenig freundlich. „Sie haben’s am Telefon ziemlich spannend gemacht.“ Messner Büro war ein weiß getünchter Raum mit einer spartanischen Einrichtung aus den 80er Jahren, fast so trostlos wie sein eigenes. An der Wand in seinem Rücken war der präparierte Riesenschädel eines Wildschweins aufgehängt.
„Es ist wegen der Leiche von Fred Richter, ihrem Geschäftspartner beziehungsweise Teilhaber …“, begann Ebinger zögerlich.
„Was soll mit ihm sein? Er ist tot.“ Messner schaute sein Gegenüber ungeduldig und mit großen Augen an und zuckte die Schultern. „Kommen Sie zur Sache, Herr Ebinger, ich habe nicht viel Zeit. Ab heute muss ich die Arbeit für zwei machen. Ich hab gedacht, mit dem Auftrag an Sie wäre die Sache erledigt.“
„Ja, natürlich, das ist ja soweit auch in Ordnung, aber …“
„Weshalb sind Sie dann hier?“ Messner wulstige Wangen begannen sich zu röten. Er wurde noch ungeduldiger.
„Es ist so, dass ich an dem Leichnam etwas entdeckt habe, etwas Ungewöhnliches, wenn ich das so sagen darf.“
„Hören Sie auf, so herumzudrucksen. Was ist los, worum geht es?“ Er schaute nervös auf die Uhr. „Was ist denn ungewöhnlich an einem Toten mit eingedrücktem Schädel?“
„Um diese Verletzung geht es nicht. Ich meine die tiefe Fleischwunde in seinem Brustkasten.“
„Die Fleischwunde? Die hat sich Richter selbst zuzuschreiben. Wir waren auf der Jagd, wissen Sie, und wenn man nachts Schwarzwild schießt, kann man nicht vorsichtig genug sein. Der wollte dem Keiler für den Transport die Vorderläufe zusammenbinden. Hat ganz übersehen, dass er ihm vorher einen Fangschuss hätte geben müssen. Ist sonst noch was unklar?“
Ebinger stutzte. Diese Antwort hatte er nicht erwartet. Aber warum ist der Typ so eiskalt und ekelhaft sachlich, fragte er sich. Der müsste doch längst Muffensausen haben. Er überlegte und entschied, das große Besteck auszupacken, stand langsam auf und tat so, als wolle er gehen. „Herr Messner, entschuldigen Sie bitte, ich bin da mit meinen Vermutungen wohl etwas übers Ziel hinausgeschossen. Bitte vergessen Sie, dass ich hier war. Ich werde meinen Bericht an die Polizei schicken, und dann ist die Geschichte passé. Für Sie und für mich.“
„Polizei?!“, polterte Messner. „Wieso wollen Sie einen Bericht an die Polizei schicken?“
„Es ist üblich und sogar Vorschrift, wenn man an einem Leichnam etwas entdeckt, was der Pathologe oder die Polizei möglicherweise übersehen hat.“
„Setzen Sie sich“, donnerte Messner abermals. „Geht’s mit Ihren Vermutungen vielleicht ein bisschen genauer?“
Ebinger hatte ihn. Das war so gut wie ein Geständnis. „Ich will‘ s kurz machen: In der Wunde befindet sich ein Loch, das ins Innere des Körpers führt. Es geht sehr tief, wie ich mich überzeugen konnte. Darf ich ehrlich zu Ihnen sein, Herr Messner? Es ist mir egal, was da wirklich passiert ist. Und es liegt mir fern, Druck auf Sie auszuüben oder sie gar erpressen zu wollen. Ich finde nur, Ihr Partner hat ein würdigeres Begräbnis verdient. Er war Teilhaber dieser Firma, jetzt gehört sie ihnen allein. Ein Armenbegräbnis, wie Sie es in Auftrag gegeben haben, finde ich ehrlich gesagt unter diesen Umständen ein bisschen schäbig.“
„Ich zahle die Kosten, obwohl ich rechtlich dazu nicht verpflichtet bin. Richter hat mit seinen spleenigen Ideen die Firma fast ruiniert. Da ist eine preiswerte Entso … Bestattung mehr als angemessen.“
Beide schwiegen für einen Moment. „Und was soll ich jetzt machen? Freiwillig und ohne jeden Nutzen? Was verlangen Sie nun genau von mir?“ Messner erwartete eine Forderung.
„Nochmal: Es liegt mir fern, Sie zu erpressen, Herr Messner. Ich möchte mich nur für den Verstorbenen einsetzen und Sie bitten, ihm ein Begräbnis zu gönnen, das seiner Stellung als Chef, vielmehr Co-Chef, und Teilhaber angemessen ist.“
„Und was ist der Unterschied?“
„Fangen wir beim Sarg an: Der besteht aus edlem Holz, ist innen mit weißem Samt ausgeschlagen, und die Beschläge …“ Er schaute Messner verunsichert an und zögerte einen Augenblick. „ … und die kosmetische Aufbereitung … und die Urnenbestattung …“
„… Mann, das ist mir doch völlig egal. Was schert mich die Ausstattung! Das meine ich nicht. Ich will wissen, wie sich die Kosten unterscheiden.“
„Nun ja“, druckste Ebeling. „Da gibt es schon einen Unterschied. Die einfachste Bestattung kostet, wie Sie wissen, etwa 1500 Euro, und die, die ich Ihnen vorschlage, knappe 10 000. Aber das sollte Ihnen die Sache wert sein.“
Messner schluckte. 10 000 ohne Gegenleistung! Das brachte ihn fast um den Verstand, aber er sah natürlich gleichzeitig das Risiko in Schwierigkeiten zu geraten. Deshalb stimmte er nach einer kleinen Denkpause zu. „Verdammt nochmal, jaaah. Nun beeilen Sie sich, dass wir die Sache hinter uns bringen. Wann ist die Einäscherung?“
„Die ist für übermorgen vorgesehen.“
„Das ist gut. Erledigen wir das wie Geschäftsleute. Ich überweise Ihnen heute die 1500 Euro gemäß Ihrem Angebot und meinem Auftrag, den Rest bekommen Sie nach der Einäscherung. Können wir uns darauf einigen?“
„Gern.“

*

Die Verbrennung des Leichnams erfolgte wie angemeldet, und als Ebeling die entsprechende Bescheinigung in der Hand hielt, schrieb er unverzüglich die Rechnung, fügte eine Kopie der Bescheinigung hinzu und fuhr nach Feierabend zu Messners Firma, um sie in den Briefkasten zu werfen. Dann wartete er. Vier Tage, sechs Tage, eineinhalb Wochen. Schließlich rief er Messner an, um die Zahlung anzumahnen.
„Ich rufe an wegen des fehlenden Betrages. Wir haben eine Vereinbarung, Herr Messner. Sie sol….“
„Ich soll gar nichts. Ich habe mir Ihre Preise noch einmal auf Ihrer Homepage angeschaut. Egal, wie ich rechne, ich komme nie und nimmer auf diesen Betrag, den sie da einfordern. Also: Vergessen Sie´s!“
„Das können Sie nicht machen. Ich hatte eine Menge Kosten …“
„Die werden Sie schon nicht umbringen. Auf jeden Fall sind wir quitt, und wenn Sie mich noch einmal belästigen, schicke ich ein paar dunkel gekleidete Herren mit Sonnenbrillen vorbei. Haben Sie mich verstanden?“
Ebeling legte vor Schreck auf und entschloss sich nach langer Überlegung, den Schaden privatrechtlich geltend zu machen und zusätzlich Anzeige zu erstatten. Für den Zivilprozess schätzte er seine Chancen für gering ein, weil die Beweislage schwierig war. Aber der Strafprozess könnte Fakten liefern, die bei der Zivilklage hilfreich sein könnten.
Zwei Tage später informierte er die Kriminalpolizei, die ihn prompt vorlud. Er brachte die Urne mit, stellte sie mitten auf den Schreibtisch von Kriminalhauptkommissar Rolf Becker und berichtete noch einmal ausführlich von seinen Beobachtungen und Vermutungen. „Und dann ist mir etwas aufgefallen, was für Sie sehr wichtig ist . . ."

*

Tags darauf wurde Messner vernommen.
„Nun erzählen Sie erst einmal, wie dieser gemeinsame Jagdausflug abgelaufen ist. Und geizen Sie nicht mit Details.“ Becker schaltete das Aufnahmemikro ein.
„Da gibt es nicht viel zu erzählen. Fred hat kurz vor Mitternacht einen Keiler geschossen. Wir wollten ihn in den stillgelegten Steinbruch am Hainweiher schleppen. Dort standen unsere Autos, mein BMW und Freds alter Pick Up. Fred ergriff die Vorderläufe, um sie zusammenzubinden, während ich mit den Hinterläufen beschäftigt war, als der Keiler plötzlich mit seinen Hauern um sich schlug. Dabei verletzte er meinen Freund. Er hatte in seiner Euphorie über das kapitale Tier den Fangschuss noch nicht gesetzt.
Als wir den leblosen Körper auf der Ladefläche seines Pick Ups festgezurrt hatten, sind wir losgefahren. Gleichzeitig. Vorher fragte ich ihn noch, ob er mit der stark blutenden Wunde fahren könne, und er antwortete, dass er es bis nach Hause schaffe. Als wir die Kreisstraße erreicht hatten, haben wir uns getrennt. Ich bin nach links in Richtung Rossbach abgebogen, wo ich wohne, Fred nach rechts in Richtung Eschenau. Von dem Unfall habe ich erst am nächsten Morgen erfahren.“
„Ich habe verstanden, Herr Messner: Das ist jetzt Ihre Version. Klingt plausibel, stimmt aber so nicht. Jetzt erzählen Sie mal, wie es wirklich war. Ich werte das dann als Geständnis, was sicherlich Ihre Strafe etwas reduzieren wird. Also, zurück auf Null: Wie war es wirklich?“ Becker schaute ihm erwartungsvoll in die Augen und stellte fest, wie sich Messners Kopf erhitzte. Als kleine Geste füllte er sein Wasserglas nach.
„Was soll ich noch erzählen? Ich kann Sie doch nicht anlügen, nur weil Sie etwas anderes hören wollen. Es war so, wie ich es gesagt habe.“ Messner bemühte sich, seine Nervosität zu verbergen, aber sein Gesicht wurde immer hitziger.
Becker zögerte noch einem Moment, dann ergriff er das Wort. „Na gut, wenn Sie darauf bestehen. Dann will ich Ihnen sagen, wie es war. Ob es der Keiler oder Sie waren, der die Fleischwunde verursacht hat, das lassen wir mal außen vor. Mich beschäftigt vielmehr dieses tiefe Loch. Wie ist das wohl entstanden?“ Er machte eine kurze Pause, beobachtete, wie Messner reagierte, und fuhr dann fort. „Sie haben ihn genau in die klaffende Wunde geschossen, in sein Auto gesetzt und die alte Karre den Steilhang hinunter fahren lassen.“
„Erschossen?“, empörte sich Messner. „Das können Sie mir nicht anhängen, Herr Kommissar.“
„Doch, doch. Wir haben heute Morgen Ihre Jagdwaffe sichergestellt. Der Hausmeister hat uns freundlicherweise in die Wohnung gelassen. Ihre Waffe hat das Kaliber 7,62, und Sie verwenden Stahlmantelgeschosse für die Saujagd, wie Ihr Patronenvorrat beweist. Bei Ihrem Schuss sind Sie davon ausgegangen, dass dieses wuchtige Geschoss wieder aus dem Körper tritt und unauffindbar bleibt. Es ist aber nicht ausgetreten. Und falls die Kugel tatsächlich noch im Körper steckte, sind Sie davon ausgegangen, das sie bei der Verbrennung des Leichnams schmilzt. Aber da haben Sie einen Denkfehler gemacht. Ihr Vollmantelgeschoss wäre bei 1500 Grad geschmolzen. Diese Temperatur wird aber bei einer Leichenverbrennung nicht erreicht. Wir haben die Kugel gefunden.“
Messner schloss für einen Moment die Augen, und als er sie wieder öffnete, war für ihn die Realität eine andere.
Becker bückte sich, hob die Urne vom Boden auf und stellte sie auf den Tisch. Messner wurde kreidebleich, als der Kommissar sie ein paar Zentimeter anhob und kreisförmige Bewegungen machte. In ihrem Innern machte es klapp, klapp, klapp wie eine Roulettekugel, die über die Rippen der Zahlenfelder rumpelt.
 



 
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