Sternenherz

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ArneSjoeberg

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Er lag auf dem Rücken, hatte den Kopf zur Seite gedreht und blickte durch das große Schlafzimmerfenster in einen Himmel, an dem die ersten Sterne zu glitzern begannen. Marianna hatte sich in seinen Arm gekuschelt, ihr Haar kitzelte seine Wange und sie atmete ruhig und gleichmäßig. Er fühlte ihre Wärme und noch etwas, für das er keinen Namen hatte. Es füllte das Schlafzimmer mit einem Nebel aus Gefühlen und Gerüchen, der Moschusduft ihrer Haut war darunter ebenso wie seine Hoffnung, dass sie nie mehr fortgehen möge. Es waren die Hormone, die noch in seinem Blut unterwegs waren und ihn Dinge sehen und fühlen ließen, nur weil er sie sich wünschte. Niemand kann in die Zukunft schauen, nicht einmal, wenn er wissen möchte, ob seine heutigen Wünsche morgen noch immer da sind.
Er drehte seinen Kopf vorsichtig noch mehr zur Seite und genoss den Ausblick durch das bis zum Fußboden reichende Fenster auf den Ziegelsee unter ihnen. Das Wasser reflektierte den Lichterschein der nächtlichen Schweriner Innenstadt und malte lustige Kringel aus Licht und Schatten an die Wände des Schlafzimmers.
„Du wohnst schön hier“, flüsterte er.
Mit einem katzengleichen Schnurren richtete sie sich auf, öffnete im Sitzen ihren Strumpfhalter und zog ihre Strümpfe aus. Dann kuschelte sie sich wieder an ihn. Sie atmete noch immer heftig und der Schweiß ließ ihre Haut glänzen, als wäre sie aus Silber.
„Du bist eine der wenigen Frauen, die ich kenne, die keine Strümpfe brauchen“, murmelte er.
Sie lachte leise. „Dankeschön. Der Hormonerguss macht dich wohl mutig? Aber keine Frau der Welt braucht heute noch Strümpfe. Männer brauchen sie. Ich wollte dir eine Freude machen.“
„Ich habe doch nie ...“
Ihre duftende Hand auf seinem Mund stoppte ihn. „Du redest nicht viel. Das macht es leicht, dir genau zuzuhören. In manchen deiner Ansichten bist du ein Dinosaurier.“ Sie lachte leise. „Aber ich mag das an dir. Und noch einiges mehr. Zum Beispiel, dass du nicht so viel fragst, obwohl du allen Grund dafür hättest.“
Natürlich hatte er die, sogar jede Menge. Zum Beispiel, warum sie ihn nicht hatte das machen lassen, was ein Mann mit einer Frau in einer solchen Situation gewöhnlich tut. Doch es gibt eine Zeit zum Fragen, und dieser Moment war es ganz gewiss nicht.
Mit Bedacht antwortete er: „Was ich über deine Vergangenheit weiß, habe ich von anderen und von dem, was ich gesehen habe. Ich habe viel zu lange nach hinten geschaut in meinem Leben und es war ein Fehler. Ich will ihn mit dir nicht wiederholen.“
Sie richtete sich ein wenig auf, blickte ihn prüfend an und küsste ihn mit geöffneten Augen. Ein Lichtschein huschte durch das Zimmer, vielleicht die Spiegelung eines Autoscheinwerfers auf der anderen Seite des Sees, und etwas zwischen ihren nackten Brüsten reflektierte das Licht.
„Das ist ein Sternenherz.“
„Ich habe doch nichts gefragt.“ Das Testosteron tobte noch immer durch seine Adern und es machte seine Stimme rau.
„Doch hast du. Ich kann dich hören, auch wenn du nichts sagst. Schon vergessen?“
„Also gibt es doch die sprechende Stille?“
Sie gab ihm einen langen Kuss. „Zwischen uns? Vielleicht!“ Dann lachte sie leise. „Ja, ich erzähle dir ihre Geschichte, du neugieriger Teddybär. Es ist eine uralte Legende.“
Er schloss die Augen und lauschte ihrer Stimme. Die Welt war so unglaublich weit entfernt.

„Ich stamme aus dem Volk der Yupik, das vor langer Zeit am Kap Deschnjow siedelte. Es sind Verwandte der Eskimos und bei Ihnen gibt es viele schöne Geschichten. In der vom Sternenherz spielt sogar einer meiner Vorfahren eine Rolle. Er hieß Tikaani, war ein junger Jäger und als er eines Tages auszog, um Wild zu erbeuten, traf er in den verschneiten Wäldern ein wunderschönes junges Mädchen mit roten Haaren, das sich verirrt hatte. Obwohl es bitter kalt war, trug sie nur ein dünnes Kleid und lief barfuß durch den Schnee. Sein Herz entbrannte in tiefer Liebe zu ihr und er nahm sie mit sich. Als er mit Ahala in der Nacht in sein Dorf zurückkehrte, erleuchtete ein mächtiges Feuer den Himmel über ihnen, wie es auch die ältesten Dorfbewohner noch nie gesehen hatten.“
„Es wird ein Polarlicht gewesen sein. Vielleicht nach einem besonders heftigen Sonnensturm“, brummte er.
„Psst! Es ist doch eine Legende und da gibt es keine Sonnenstürme, sondern nur Sternenfeuer. Es ist hart dort in der Kälte der Polarregion und die Menschen lebten nur von dem, was die Natur ihnen gab. Mein Ururgroßvater Tikaani liebte meine Ururgroßmutter Ahala über alles, und jedes Mal, wenn er zum Fischen aufs Meer hinausfuhr, dachte er nur an die Heimkehr zu seiner geliebten Frau. Dann kam ein böser Winter, in dem das Volk der Yupik großen Hunger litt. Die Natur war knauserig gewesen mit ihren Gaben und darunter litten nicht nur die Menschen, sondern auch die Tiere.
In der Nacht, in der meine Urgroßmutter Mauja geboren wurde, brannte wieder der Himmel über Kap Deschnjow mit der gleichen Heftigkeit wie an dem Tag, als Tikaani Ahala im Wald gefunden hatte. Die Ältesten traten zusammen und beratschlagten. Am nächsten Morgen verboten sie allen, auf das Meer zum Fischfang hinaus zu fahren. Sie sagten, ein Stern sei vom Himmel auf die Erde gefallen und hätte böse Geister ausgespien, die den Geist der Menschen und der Tiere verwirrten.
Meine Ururgroßeltern hatten schon vor der Geburt Maujas hungern müssen und das Verbot traf sie hart, aber Tikaani hielt sich an den Befehl der Ältesten. Zwei Tage später war Ahala, die schon bei der Geburt ihrer Tochter nur knapp dem Tode entronnen war, so geschwächt, dass sie keine Milch mehr für Mauja hatte. Tikaani war verzweifelt und beschloss, auf Fischfang zu gehen, obwohl er wusste, dass er dafür aus dem Dorf verjagt werden konnte. Er küsste seine Frau zum Abschied und ging über das Eis auf das Meer hinaus, um in einem Eisloch Fische zu fangen. Viele Stunden musste er laufen, bis er eine offene Stelle fand und es wurde später Abend, bis er mit seinem Fang heimkehrte.
Die Ältesten warteten bereits auf ihn, aber nicht um ihn zu bestrafen, weil er das Verbot übertreten hatte, sondern um ihn zu trösten. Ahala hatte durch die Geburt ihrer Tochter und den folgenden Hunger zu viel Kraft verloren und war gestorben. Tikani wollte ohne seine Frau nicht leben, und da er seine Tochter Mauja bei seinem Volk in Sicherheit wusste, wanderte er wieder auf das gefrorene Meer hinaus. Stunde um Stunde, bis ihn seine Füße nicht mehr tragen wollten. Als er eine Höhle fand, die aufragende Eisschollen gebildet hatten, setzte er sich nieder, um dort zu sterben.
In den nächsten Stunden fraß sich die Kälte in seinen Körper, er hörte Ahala nach ihm rufen, so deutlich, als stünde sie neben ihm und da wusste er, dass er bereits Fieber hatte und den nächsten Morgen nicht mehr erleben würde. Er schloss die Augen und wollte sie nie mehr öffnen. Plötzlich knirschten Schritte im Schnee, dann umschlangen ihn nackte Arme und ein warmer Körper drängte sich an ihn.
Tikaani riss die Augen auf, doch die Dunkelheit in der Höhle war so tief, dass er nichts erkennen konnte. Ahalas Stimme erklang an seinem Ohr: „Warum bist du hier?“
„Ich will ohne dich nicht leben“, antwortete er und spürte, wie sie missbilligend den Kopf schüttelte. „Dein Leben gehört nicht dir. Es gehört unserer Tochter, und wenn du es wegwirfst, habe ich den falschen Mann geliebt.“
„Aber ohne dich ist die Welt so dunkel“, antwortete er.
„Dann mache ich sie dir wieder hell“, sagte Ahala und er hörte ein Lächeln in ihrer Stimme. Gleich darauf fühlte er, wie sie ihm etwas um den Hals legte. Sie sagte: „Es ist ein Sternenherz. Es wird dir dein Leben erhellen, und wenn du dereinst gehen musst, dann wird sie unsere Tochter tragen und nach ihr ihre Tochter. Sie alle werden den Menschen wiedersehen, den sie lieben, wenn sie einmal von ihm getrennt werden. Genau, wie auch du mir wiederbegegnen wirst.“
Dann umarmte sie meinen Ururgroßvater noch einmal fest und ging wieder hinaus ins silberne Mondlicht. Barfuß, nur mit ihrem dünnen Robbenfellkleid, hinein in die tödliche Kälte und verschwand, als wäre sie nie da gewesen. Mein Ururgroßvater schlief ein, und als er am nächsten Morgen aus seinem Fiebertraum erwachte, ging er nach Hause und wurde seiner Tochter ein guter Vater.“
Er brummte: „Er hätte entweder erfroren oder total entkräftet sein müssen.“
Sie legte ihm ihre duftende Hand auf den Mund. „Psst. Es ist doch nur eine Legende, du unromantischer Bär. Tikaani wurde ein guter Vater und irgendwann Ältester. Aber einmal in jedem Jahr, an dem gleichen Tag, an dem Ahala gestorben war, wanderte er aufs Meer hinaus, und wenn er am nächsten Morgen zurückkehrte, strahlten seine Augen vor Glück. Er wurde irgendwann zu alt, um noch aufs Meer hinauszugehen und wollte die Kette Mauja schenken, aber sie besaß keinen Verschluss. Nichts und niemand konnte sie von seinem Hals lösen und es war, als sei sie mit ihm verwachsen. Erst als er starb, öffnete sich das Sternenherz von selbst und Mauja konnte es anlegen. Und nach ihr meine Großmutter und meine Mutter.“

„Komische Legende. Irgendwie gibt es doch bei sowas immer eine Lehre, die man daraus ziehen kann.“
„Vielleicht erkennst du sie nur nicht?“
„Hm, vielleicht.“ Aus seiner Ermattung war Müdigkeit geworden, aber seine Neugier meldete sich. „Kann ich sie mal sehen?“
„Natürlich, wenn du sie öffnen kannst?“
„Warum ziehst du sie nicht über deinen Kopf?“
„Das geht doch nicht, Dummerchen. Dafür ist sie zu eng. Öffne sie.“
Grummelnd drehte er sich zur Seite und tastete nach dem Lichtschalter. Sie hatte sich ein wenig aufgerichtet und er betrachte die Kette aufmerksam. Ein kleiner, vielleicht daumennagelgroßer, elfenbeinfarbener Stein bildete den Anhänger und in ihm pulsierte gleichmäßig ein dunkles rotes Licht. Je länger er hinschaute, umso beruhigender wirkte es, fand er. Fast, als passe sein Herzschlag sich der Frequenz des Leuchtens an. Er besah sich die Kette. Jedes Glied war ein filigran gearbeiteter, winziger Drache, der sich in seinen Schwanz verbissen hatte. Sie sah alt aus und doch gleichzeitig, als wäre sie gestern erst gekauft worden.
„Sieht aus wie Silber, aber ich habe noch nie Glieder mit so einer seltsamen Form gesehen.“
Er suchte an ihrem zarten Hals nach einem Verschluss in der Kette, aber er fand ihn nicht. Glied für Glied bildete eine makellose Reihe ohne jedwede Erhebung oder Unterbrechung. Stirnrunzelnd blickte er sie an. „Wo ist der Trick?“
In ihren Augen irrlichterte etwas, das da nicht hingehörte. „Es ist kein Trick.“

Nachbemerkung: Als ich die erste Fassung dieser Geschichte vor vier Jahren schrieb, wohnte ich in einem Plattenbau im Süden Schwerins und dachte nie daran, noch einmal umzuziehen. Das Schlafzimmer, das ich hier beschreibe, existierte nur in meiner Fantasie. Vor einem Jahr hat das Leben anders entschieden und ich zog in den Norden in eine Wohnung in einem neu gebauten vierstöckigen Haus mit fußbodenhohen Fenstern. Vor ein paar Wochen fiel mir diese alte Geschichte wieder ein und noch immer bekomme ich Gänsehaut, wenn ich sie lese. Denn wenn ich den Kopf im Bett drehe, sehe ich, wie sich die nächtlichen Lichter Schwerins im Ziegelsee unter meinem Schlafzimmerfenster spiegeln ...
 

molly

Mitglied
Hallo Arne,

Die Legende von Sternenherz gefällt mir sehr und natürlich hat sie auch eine "Lehre":
Schau nicht zurück, du hast eine Aufgabe.
Hier könntest Du noch eine Leerzeile einfüfgen, dann weiß man gleich, dass "Er" unterbricht.

„Es wird ein Polarlicht gewesen sein. ...
" Er brummte: „Er hätte entweder ...

Sehr gerne gelesen
Liebe Grüße
molly
 



 
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