Stiefel

Fasler

Mitglied
Hermann fühlte sich erbärmlich. Mit beiden Händen hielt er sich am Rand der Wasserschüssel fest und starrte in den Spiegel.
Sein Gesicht war eingefallen, irritiert stürzten die Blicke ins Leere. Obwohl er verzweifelt danach suchte, konnte er sich nicht mehr erinnern, wie er früher einmal ausgesehen hatte. Das heimtückische an der Vergänglichkeit war, dass sie sich schleichend bemerkbar machte und ehe man sich versieht, einem die Keule über den Schädel zieht.
Abgesehen von den roten Äderchen unter dem linken Augen, war seine Visage kreidebleich.
Näher im Spiegel betrachten wollte er sich nicht. Selbst wenn die Qualität miserabel und das Glas abgegriffen war, jagte ihm der Anblick jedes Mal einen ungeheuren Schrecken ein. Er wusste, dass die Reaktion auf das neue Medikament sich bald legen und in wenigen Tagen ganz verschwunden sein wird. Das Klosett am Ende des Zimmers strahlte eine unheimliche Anziehung auf ihn aus und am liebsten hätte er sich sofort darauf geworfen. Doch in Anbetracht der harten Konsequenzen wäre ein Erbrechen nur kurze Wonne.
Schließlich wurde sein Abfluss Tag und Nacht überwacht und ein zu hoher Gehalt an der unverdauten Menge des Medikaments hätte sofort Alarm geschlagen.
Das Licht im Badezimmer war schwach und der dämmrige Bewurf hatte seine Pupillen aufgeblasen. Ständig sah er Leute mit Mydriasis.
Auch wenn die Sonne senkrecht im Zenit stand, hatten die meisten Menschen Eulenaugen.
Es klopfte heftig an der Tür und Hermann zuckte unwillkürlich zusammen.
"Ich komme gleich", rief er und schaufelte sich literweise kaltes Wasser ins Gesicht.
Er drehte den Hahn ab und steckte sich eine Zigarette an, um den Chlorgeruch zu überdecken. Neben seinem Bett lag eine abgetragene Jacke und unter einem Stuhl stand ein schwarzes Stiefelpaar. Gute Schuhe waren das unentbehrlichste auf einer Auswärtsmission, hatte ihm Professor Piesack versichert. Wieder hämmerte es gegen seine Tür und Hermann hörte wie das dünne Holz zersplitterte. Er schlüpfte schnell in die Stiefel und öffnete die Tür.
Zwei dunkle Flecken starrten ihn an. Der Korridor war noch schlechter beleuchtet als seine Kabine.
Hermann erkannte seinen Nachbarn, der ihm stets als ein unheimlicher, verschrobener und eigenartiger Charakter aufgefallen war.
Obwohl sie schon etliche Jahre auf der selben Etage wohnten, kannte er seinen Namen nicht und bis zu diesem Punkt hatten die beiden kein einziges Wort gewechselt.
Er versuchte seine Übelkeit zu vergessen und zwang ein loyales Lächeln auf sein Gesicht.
"Wir warten auf sie", bemerkte der Kerl ungesüßt. Offensichtlich hatte er mit ähnlichen Beschwerden zu kämpfen, denn sein Gesicht hatte die Farbe von Erbrochenem.
Hermann machte eine Schritt auf den Korridor, zog die Tür hinter sich zu, drehte den Schlüssel und machte ein Zeichen, dass er bereit war zu gehen. Schweigend stieg er hinter dem Mann die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Vor dem Gebäude waren drei Fahrzeuge. Zwei davon: kleine Lastkraftwagen, mit geschlossenen Anhängern. Hermann kletterte auf die offene Ladefläche des Dritten. An den Seitenwänden waren Bänke angebracht, auf denen bereits Männer saßen. Hermann erkannte Joe Salomon, der zusammen mit ihm die Ausbildung bei Professor Piesack gemacht hatte. Mit einem flüchtigen Lächeln nickte er Joe zu und setzte sich neben ihn.
"Jetzt geht es los", sagte er, als sich das Fahrzeug in Bewegung setzte.
Den Fahrer hatte Hermann nicht gesehen, schließlich waren die Scheiben verdunkelt und aus ultrahartem Glas oder einem ähnlichen Produkt. Der Konvoi fuhr langsam zum Stadttor.
Eine Gruppe barfüßiger, schmutziger Kinder lief hinter dem letzten Fahrzeug her.
"Ich werdet alle sterben", rief einer der Knaben und riss eine Grimmasse. Hermann blickte zu seinem Nachbarn. Noch ehe der düstere Kerl eine Reaktion erkennen lies, öffnete sich ein Fenster jenseits der Straße und eine ausgemergelte Frauengestalt erschien.
"Alle sterben", murmelte Hermann leise und beobachtete, wie die nackten Kinderfüßchen zwischen den Baracken verschwanden.
Das Haupttor war rund um die Uhr bewacht und hermetisch abgeriegelt. Ohne Erlaubnis war die Kolonie unmöglich zu betreten oder zu verlassen. Der Konvoi hielt und aus einem kleinen Verhau stiefelte eine Gestalt in den Morgendunst. Es war Professor Piesack.
Straff ging er zu einem Fahrzeug und unterhielt sich einen Augenblick mit einem Fahrer. Dann wurde langsam das gusseiserne Tor aufgezogen und der Konvoi setzte sich in Bewegung. Als sie langsam an den Wachen vorbei rollten, bemerkte Hermann wie ihn Professor Piesack anstarrte. Eine erdrückende, unbarmherzige Kälte umgarnte ihn.
Hermann hörte einmal mehr die Worte: gute Schuhe waren Unentbehrlichste auf einer Auswärtsmission und er blickte instinktiv an sich hinunter und versicherte sich, ob er sie auch anständig geschnürt hatte. Sein Herz pochte wie wild und er wendete den Blick ab.
Das Gesicht von Joe, das ihn anstarrte und offenbar etwas gesagt hatte, rüttelte ihn aus der Tagträumerei.
"Eine ganz schöne Aufmachung, wegen dieser Mission, nicht wahr?", erwiderte er.
Der grimmige Kerl, der ihn vor wenigen Minuten in seiner Wohnung abgeholt hatte, öffnete eine Kiste, die hinter der Kabine auf der Ladefläche angebracht war. Allein die Tatsache, dass er einen Schlüssel dafür hatte, um die schwere Stahlseilverbindung zu öffnen, weckte in Hermann das ungute Gefühl, dass dieser Mann mehr Einfluss hatte, als die übrigen.
Wenn er sich bloß an seinen Namen erinnern könnte, würde ihn der Kerl vielleicht nicht weiter wie feuchten Dreck behandeln. Die Kiste war genau so lang und hoch, dass fünf Schnellfeuerwaffen bequem darin verstaut wurden. Wortlos teilte sie der Mann aus, indem er sie herauszog, mit einem schnellen Blick prüfte und hinter sich in die Luft streckte.
Bald darauf saßen fünf Männer mit fünf Waffen vor sich auf der Ladefläche. Die nächsten zehn oder zwanzig Minuten fuhren sie durch eine karge Steppe, die an allen vier Himmelsrichtungen einzig und allein der Horizont begrenzte. Gesteinsbrocken und kleine Felsformationen waren die aufregendsten landschaftlichen Merkmale. Das Fahrzeug in dem Hermann saß war kleiner und wendiger als die anderen zwei und die Lenker machten sich offensichtlich einen Spaß daraus, unvermutete Manöver hinzulegen. Sie umkreisten den Konvoi mehrere Male, wie Möwen einen beladenen Fischkutter, ehe sie pfeilgerade davon rasten. Hämmerte der Kerl mit der flachen Hand auf die Kabine, änderte das Fahrzeug schlagartig den Kurs.
"Die meisten hier draußen", sagte Joe leise zu Hermann, "wissen wann der Konvoi die Stadt verlässt und treiben sich deshalb nicht auf der Straße herum." Wortlos nickte Hermann.
Er spähte über die Brüstung hinunter und fragte sich, wo sich die Straße erstreckte.
Es waren einzelne Spurrinnen im Boden zu erkennen, aber von einer durchgehenden Straße konnte nicht die Rede sein.
"Hast du Angst davor, Gebrauch von der Waffe zu machen?", wollte Joe plötzlich wissen.
Hermann war die Frage peinlich, denn er spürte wie alle Augen auf ihm rasteten.
Bisher hatte er das schwere Kaliber nur für Ausbildungszwecken benutzt.
Er schüttelte den Kopf und antwortete nicht.
"Wenn uns Banditen überfallen, können sie alle zeigen was in ihnen steckt", hörte er seinen Nachbarn sagen. Der Kerl starrte einen nach dem anderen durchdringend an.
Hermann war irritiert. Es lag etwas unmissverständlich fürsorgliches in seiner Aussage, auch wenn sie dadurch nicht minder ernst und kalt wirkte.
"Sie wissen, was diese Halunken mit ihnen machen, wenn sie ihnen in die Hände fallen?" Hermann erinnerte sich, dass die Guerillas die Verhörmethoden der spanischen Inquisition kannten, diese an ihren Gefangenen erprobten und ständig weiterentwickelten, um die Qual und den Tod ihrer Opfer hinauszuzögern. Pfählen zählte zu den schonungsvollsten Hinrichtungsarten. Hermann spürte plötzlich einen heftigen Schmerz im Unterleib.
"Die meisten dieser verfluchten Kreaturen sind unorganisiert und haben alle Hände voll zu tun sich gegenseitig abzuschlachten. Trotzdem war es ihnen in den letzten Jahren irgendwie gelungen, so etwas wie ein feudales System aufzubauen. Ein sagenumwobener König hatte offenbar viele der zerschlagenen Stämme zusammengeführt und zu einer Miliz vereint. Stellen sie sich vor", sagte der Kerl und stieß einen Jauchzer aus.
"Vor wenigen Wochen schickte er eine Gruppe Abgesandter, um mit uns zu verhandeln."
"Und?", fragte ein gekrümmter Mann mit feistem Gesicht.
"Was wollten sie?" Der Wortführer machte ein überraschtes Gesicht, als hätte er das erste Mal in Erwägung gezogen, dass diese Gruppe wirklich verhandeln wollte.
"Keine Ahnung", sagte er. "Wir haben alle abgemurkst, ehe sie den Mund aufmachten." Wieder legte sich eine Stille über die Männer und Hermann betrachtete die Landschaft.
Er dachte an den König und stellte sich einen barbarischen Mann vor, der Tag ein Tag aus Exekutionen leitete und sich jede Frau nahm, die er begehrte. Vielleicht trug er einen Kranz aus Federn und saß auf einem Thron aus Bambusstangen. Womöglich hatte er eine schwere Kette um den Hals hängen, in die das Gebein seiner Feinde geflochten war.
"Wir nähern uns einer Wasserstelle, die von den Wilden gerne besucht wird", sagte der Anführer, der in der Mitte in der Ladefläche stand und sein Gewehr auf dem Dach der Fahrerkabine abstützte. In der Kolonie hatte er gehört, dass alle Quellen jenseits der Stadtmauern vergiftet waren. Stehende Gewässer hatten exorbitante Anteile an Schwermetallen und zeigten Radioaktivität. In der Kolonie wurde das Wasser mit Chlor und anderen Chemikalien angereichert, ehe es zum Trinken und Waschen tauglich war.
Hermann versuchte seine Gedanken zu zerstreuen, aber er wusste nicht womit.
Wenn er an die Mission dachte und an das Ziel, wurde ihm wieder übel. Dachte er an die Stadt und sein miserables Leben, die faule, ätzende Luft und die erbärmlichen Zustände, fiel es ihm schwer nicht an die Rasierklinge zu denken. Das einzige was ihn nicht schon längst am Freitod gehindert hatte, waren Bücher. Auch die Mädchen, die er gelegentlich von den Kneipen mit nach Hause brachte, waren eine angenehme Abwechslung. Selten hatte er eine davon je wieder gesehen, was ihn jedoch nicht im Geringsten berührte.
Wahrscheinlich würden sie ohnehin nur in die Spelunke gehen, um Männer zu finden, die sie mit nach Hause nahmen und begatteten. Schließlich gab es Boni und Sondermarken für jede Schwangerschaft und eine hohen Zuschuss für gesunde Kinder. Hermann kränkte die Vorstellung, was mit den untauglichen Kindern passierte. Immerhin lag die Wahrscheinlichkeit, ein deformiertes Kind auf die Welt zu bringen, bei eins zu drei und das führte unweigerlich zu dem Gedanken, dass einige dieser Missgeburten seine eigenen waren. Halbherzig rief er sich ins Gedächtnis, in den letzten Jahren mit mehr als achtzig Frauen geschlafen zu haben und es erforderte keine höhere Mathematik, zu erörtern, wie viele inkurable Kinder das ergab. Ein harter Knall riss ihn jäh aus den Gedanken und er spürte wie das Fahrzeug abrupt bremste.
"Was ist los?", hörte er den Mann neben sich fragen. Niemand antwortete. Der Scharführer hatte die Waffe über die Fahrerkabine gestreckt und knurrte missbilligend. Joe wollte aufstehen, aber der Kerl stieß ihn zurück und fauchte ihn an.
"Still halten", sagte er.
"Ein eigenartiges Objekt, etwa zwei Kilometer von uns entfernt. Seiten sichern!" Hermann spürte einen Schauer der Erregung durch seinen ganzen Körper laufen und plötzlich sah er diesen König vor sich, der mit blutüberströmten nackten Körper einen schreienden Menschen ausweidete. Mit zitternden Händen schulterte er das Gewehr und streckte es über die Brüstung. Er wusste nicht wohin er zielen sollte und lugte über den Lauf zu den anderen. Keiner schien wirklich zu wissen, wie der Befehl auszuführen war. Der Kerl klopfte zweimal auf das Dach und das Fahrzeug setzte sich langsam in Bewegung.
"Es könnte ein Hinterhalt sein", murmelte er vor sich hin.
"Wie sieht es auf den Flanken aus", wollte er wissen.
Drei Mal hörte Hermann ein leises "Nichts", dann wiederholte er es.
Eine ungemütliche Stille folgte und plötzlich zerfetzte ein ohrenbetäubender Lärm die Luft.
Der Kerl hatte drei Schüsse abgefeuert und stellte anschließend das Gewehr hochkant.
Der Wagen beschleunigte und Hermann blickte zurück auf die großen, dunklen Fahrzeuge, die mit jedem Wimpernschlag kleiner wurden. Angespannt saßen die Vier im Heck und warteten bis der Wagen zum Stillstand kam. Aufgewirbelter Staub vermischte sich mit einem Geruch von süßlichem Schweiss.
"Los! Alle runter von der Ladefläche." Einer nach dem anderen hüpften sie über die Brüstung und sofort erkannte Hermann den Körper, der blutüberströmt im Sand lag.
Alle drei Schüsse hatten ihr Ziel getroffen und dem Opfer Hals und Schulter zerrissen.
Der Kopf der Frau war beinahe vollkommen abgetrennt und trotzdem stieg ein leises dumpfes Wimmern von der Kreatur am Boden auf. Der Kerl zog ein langes Messer aus seinem Gürtel und kniete sich neben den Körper. Die Frau lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden und das Winseln erstickte im Sand.
Hermann fragte sich, wie die Laute immer noch aus dem Mund und nicht, wie es doch viel logischer erschien, aus dem klaffenden Loch im Genick aufstiegen. Der Kerl warf sie mit einem kräftigen Stoß auf die Seite, wobei der Kopf und das Gesicht nach unten im Sand stecken blieb. Es stiegen immer noch leise Klagen auf und unter den Schichten von primitiver Kleidung rührte sich etwas. Schamlos entblößte der Mann den Körper der Frau und ein winziger Säugling kam zum Vorschein; von den Schüssen offenbar unversehrt, aber vom Gewicht der toten Mutter, schwer getroffen. Der Kopf war blau und die Nase platt.
Unwillkürlich griff sich Hermann ins Gesicht. Er selbst hatte eine platt gedrückte Nase, was in der Kolonie sehr selten zu sehen war. Außerdem glaubt er andere Ähnlichkeiten mit der kleinen Kreatur an sich selbst festzustellen. Der Kerl stand wieder auf und lächelte.
"Nur ein Kind", murmelte er und wie auf Befehl, lachten die anderen drei. Nur Hermann fühlte sich nicht nach Lachen. Er konnte die Augen nicht vom Säugling nehmen, der fror und seine kleinen Arme suchend nach der wärmenden Brust der Mutter ausstreckte.
"Wir haben noch einmal Glück gehabt", versicherte ihnen der Scharführer, steckte das Messer zurück in die Scheide und ging zur Rampe zurück.
"Worauf warten sie noch!", brüllte er schließlich zu Hermann, der wie festgewurzelt vor dem nackten Kadaver stehen blieb. Als er im Fahrzeug saß, bemerkte er, wie ihn der Mann unverwandt anstarrte. Hatte es mit seiner Nase zu tun, fragte er sich und fühlte sich dabei erbärmlich, seine Gedanken an solche Kleinigkeiten zu verschwenden. Hermann errötete.
"Sie glauben mir nicht", sagte der Kerl schließlich. Er seufzte und zog eine besorgte Visage.
"Diese Rebellen sind gerissen, wenn es dazu kommt zivilisierte Menschen in einen Hinterhalt zu locken. Sie machen sich unsere Menschlichkeit zu nutzen. Sie glauben, ich bin ein Schwein und ein Sadist, weil ich diese Frau erschossen habe", sagte er plötzlich, aber nichts daran erweckte den Anschein eines Vorwurfs.
"Aber ich versichere ihnen, ich habe schon so manches Leben gerettet, weil ich meine Befehle ausübe und nichts dem Zufall überlasse." Hermann spürte den Drang etwas zu sagen, aber er fühlte sich unheimlich klein und unbedeutend.
"Wie weit ist es noch bis zur Fabrik", wollte er wissen, um nicht ganz den Mut zu verlieren.
Der Mann, der das Wort Menschlichkeit mit sich in Verbindung brachte, nachdem er einer Frau den Kopf weggeschossen und ihr Kind dem sicheren Tod überlassen hatte, grinste.
Das Fahrzeug hatte wieder die volle Geschwindigkeit erreicht und umkreiste den Konvoi, wie eine schwere Bleikugel, die an einer Kette im Kreis geschwungen wurde.
"Nicht mehr weit", murmelte er.

Endlich erschien am Horizont ein trüber, grauer Fleck, der sich schnell zu allen Seiten hin ausdehnte. Eine große, unbewegliche Säule erhob sich und bald erkannte man die schmalen Fabrikschlote und der Rauch wurde lebendiger und detailreicher. Ein widerlicher Geruch verbreitet sich. Umrisse von Menschen wurden sichtbar und die nackte Flanke eines immensen Gebäudes wuchs etliche Stockwerke in die Höhe.
Diesseits der Anlage war das ganze Grundstück von doppelten Zäunen, Gräben und Stacheldraht umschlossen. Das kleine Fahrzeug hatte sich dem Konvoi genähert und sie rollten langsam auf das Tor zu. Hermann hatte sich die Versorgungsfabrik anders vorgestellt.
Er rügte sich, so naiv gewesen zu sein, die Fabrik mit den Bildern aus seiner Vorstellung, die aus den alten Büchern herrührten, in Verbindung gebracht zu haben. Hermann sah sich die Gesichter der Wachen an. Wenn's möglich war!?, dachte er sich und schauderte.
Diese armen Seelen wirkten noch beklagenswerter, als die Menschen in der Kolonie.
Die Lastkraftwagen wurden zu den Rampen kommandiert, die sich wie graue, verblichene Zungen aus dem Gebäudekomplex streckten.
"Wir steigen aus", sagte der Befehlshaber und die Männer hüpften von der Ladefläche.
"Sie können sich entspannen", fügte er hinzu und lächelte.
Eine Gestalt in hohen, weißen Gummistiefeln ging auf das Ende einer Rampe hinaus.
"Bob Brecher!", rief er feierlich und streckte die Hand zum Gruß hinunter.
Brecher reichte ihm die Hand und sie unterhielten.
Hermann hörte den Namen und plötzlich erinnerte er sich. Brecher! Natürlich.
Er hatte diesen Namen etliche Male gehört und gelesen. In Zeitungen, auf Plakaten und an der Klingel neben seiner Tür. Die Heckklappen der Lastkraftwagen wurden zur Seite geworfen und sofort wurde damit begonnen, die Fahrzeuge zu beladen.
"Ein paar Bastarde sind heute früh entkommen", hörte er den Mann zu Brecher sagen.
"Sie haben nicht zufällig etwas gesehen?" Bob runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. "Nein. Wir haben eine reibungslose Fahrt hinter uns und nichts ungewöhnliches erlebt", konstatierte er nachdenklich.
"Du siehst nicht gut aus", bemerkte Joe, der Hermann sanft auf die Schulter klopfte.
"Ach? Was du nicht sagst.", erwiderte er mürrisch. Brecher machte ein finsteres Gesicht und Hermann beobachtete, wie seine Finger angespannt über die Waffe tasteten.
"Wir werden unsere Augen offen halten und bei der Rückfahrt danach Ausschau halten", sagte er schließlich.
"Ich wusste, dass man auf sie zählen kann", sagten die Gummistiefel auf der Kante.
Brecher entfernte sich, scharte seine Männer um sich und machte sie auf die Entlaufenen aufmerksam und rief zu erhöhter Vorsicht auf.
"Wir gehen jetzt einen Happen essen, dann sind die Wägen vollgeladen." Schweigend gingen die fünf einen perlweissen Korridor hinunter. Brecher öffnete eine Tür und winkte die Männer der Reihe nach durch. Ein starker Geruch von Sauerkraut und Fleisch stieg aus der Öffnung. Hermann, der sich hundsmiserabel fühlte, hatte Mühe mit den Männern Schritt zu halten und erreichte die Tür als Letzter. Gerade wollte er Joe folgen, als sich Bob Brecher ihm in den Weg stellte. Verdutzt starrte er ihn an.
"Begleiten sie mich ein Stück", sagte sein Nachbar und ging nachdenklich den Korridor zurück. Hermann folgte ihm ohne ein Wort des Widerspruchs. Er hatte das Gefühl, dass etwas unheilvolles auf ihn wartete und er spürte den Drang Brecher von hinten den Schädel einzuschlagen. Sie kamen auf das Gelände hinaus und Brecher ging an einer grauen, modrigen Hausmauer entlang. Hermann schwitzte stark und er hatte Mühe ein Bein vor das nächste zu setzen. Bob blieb vor einer Tür stehen, die nicht zu den anderen passte.
Er zog einen Schlüsselbund aus der Tasche und zupfte besonnen daran herum. Schließlich steckte er einen langen, rostigen Schlüssel in das Schloss und öffnete die Tür.
"Bitte", sagte er und streckte den Arm aus. Es war nur undurchdringbare Dunkelheit und ein Geruch von Verwesung und Fäulnis zu erkennen. Hermann kniff die Augen zusammen und starrte in das schwarze Loch vor ihm. Er hatte das dumme Gefühl, dass es nicht klug war, allein mit Bob Brecher in diesen Raum zu gehen. Aber er wagte nicht, sich den Befehlen zu widersetzen und wie ein Blinder tastete er durch die Dunkelheit, bis die Leuchtstoffröhren über seinem Kopf wie Blitze zuckten und den ganzen Raum beleuchteten.
Er sah die grausame Fratze Brechers, der ihn mitleidlos anstarrte. Hermann fühlte sich plötzlich jeder Willenskraft beraubt und selbst als sich Brecher hinunterbückte, um seine Beine mit Lederriemen an einem Stuhl zu befestigen, protestierte er nicht.
Vielleicht war es die Art Bob Brechers, die ihm jetzt noch glauben machte, er führe nichts bößes im Schilde. Schließlich war jeder Griff von entschiedener Sorgfalt und Brecher legte offensichtlich großen Wert darauf, dass die Riemen nicht zu fest geschnallt waren.
"Ich werde das nicht genießen", sagte er und steckte seine Finger in dünne, braune Lederhandschuhe. Hermann war immer noch felsenfest davon überzeugt, dass dieser Mann keine fiesen Absichten hatte und bloß aus einer unerklärlichen Notwendigkeit handelte.
Er spürte die flinken Hände Brechers, die sich wie zwei Schlangen um seinen Hals legten. Hermann versuchte seinen Kopf zu drehen und zu wenden und flehte um sein Leben.
"Bitte... Herr Brecher... helfen sie mir", schluchzte er immer wieder.
Brecher antwortete nicht. Er würgte ihn kräftig, aber nicht lange genug, um ihm den Garaus zu machen. Kaum hatte er Hermanns Hals losgelassen, versetzte er ihm einen Hieb auf beide Augen. Noch ehe Hermann nach Luft schnappen konnte, hagelten weitere Schläge auf ihn ein und er spürte, wie die Haut auf seinen Wangen platzte und die Knochen dahinter barsten. Er glaubte immer, die Vorstellung Sterne zu sehen, existierte nur in Büchern.
Nun wusste er, dass dem nicht so war, und man tatsächlich Sterne sehen konnte.
"Sie lassen mir wirklich keine Wahl", sagte Bob und rieb sich dabei die Knöchel.
Er holte ein kleines Federmesser aus der Tasche und ritzte Hermann unaufhörlich an Armen und Beinen. Anfangs spürte Hermann die Stiche kaum, doch plötzlich sauste eine brennende Welle, wie kochendes Wasser über seine Haut und er musste Brüllen. Brecher mischte die Methoden und abwechselnd würgte, schlug und ritzte er sein gefesseltes Opfer, der alles in blankem Wahnsinn über sich ergehen ließ.
"Wissen sie was das wichtigste auf einer Auswärtsmission ist", wollte Brecher irgendwann wissen. Er hatte die Gurte geöffnet und Hermann hatte Mühe sich auf dem Stuhl zu halten.
"Gute Schuhe", sagte er und spuckte einen Zahn aus.
"Gute Schuhe sind das unentbehrlichste, auf einer Mission", stammelte er wieder. Brecher streichelte ihm dabei zart durch die Haare.
"Ganz richtig", flüsterte er und bückte sich langsam, wobei er tief in die Augen Hermanns starrte. Sachte öffnete er die Schuhe und zog sie vorsichtig von den Füßen.
"Und wissen sie warum?", wollte Brecher wissen. Hermann röchelte und durch einen Mund, dem beinahe alle Zähne fehlten, säuselte er: "Weil sie uns unterscheiden."
"Du bist ein guter Junge", bemerkte Brecher ehrfürchtig.
"Bald ist es vorbei", sagte er.
"Weißt du was wir in der Versorgungsfabrik holen?", wollte er wissen.
"Fleisch", sagte Hermann.
Brecher tobte. Er konnte seine Freude kaum verbergen oder spielte grandios.
"Ja, Fleisch. Und du weißt auch welches Fleisch es ist?" Hermann nickte.
"Barfüßiges Fleisch", sagte Brecher und zog dabei verspielt an Hermanns Zehen.
Plötzlich erhob sich ein Tumult hinter der Tür und eine Sirene ertönte.
Brechers Miene trübte sich und er zog ein tiefsinniges Gesicht.
"Sie haben die Entlaufenen aufgespürt", murmelte er leise.
Hermann dachte wieder an den Häuptling der Wilden, der wahrscheinlich jenseits der Fabriktore auf einem Thron saß und sich am Anblick gequälter Gefangener bereicherte. Noch ehe Brecher aufstehen konnte, wurde die Tür aufgeschlagen und Joe Salomon streckte seine Visage durch den Spalt. Sie hatte jede Unschuld und Einfältigkeit verloren.
"Was gibt es?", wollte Brecher ungeduldig von ihm wissen.
"Zehntausend... Tote", antwortete Joe und fiel dabei kopfüber auf den Boden.
In seinem Rücken steckte ein Küchenmesser. Instinktiv griff Brecher zu seiner Waffe.
Gerade rechtzeitig, ehe sich unzählige Gesichter wilder, zerzauster Gestalten in die Öffnung drängten. Sie waren alles barfuß und trugen Zeichen langer Entbehrung an sich.
Ohne Vorwarnung eröffnete Brecher das Feuer und die Leichen der Eindringlinge stapelten sich bis an die Decke, bevor sein Magazin blockierte. Der Strom der Wilden erschöpfte sich jedoch nicht im Geringsten und wie Ameisen kletterten sie rücksichtslos über die Leichenberge und stürzten sich auf Brecher. Steine und andere Gegenstände flogen durch die Luft. Hermann konnte sehen wie Brecher mit dem Federmesser mindestens zehn weitere erledigte, ehe ihn die Masse zu Boden riss und auf barbarische Art zerstückelte.
Hermann beachteten sie nicht und als er sich von dem Stuhl erhob und sich selbst in einer gebrochenen Scheibe sah, wusste er wieso. Er sah aus, wie einer von ihnen; vielleicht sogar noch heftiger entstellt. Über das gesamte Gelände verstreut lagen Scharen von Leichen.
Hermann ging zu den Rampen und machte sich ein Bild der Zerstörung. Alle Fahrzeuge waren in Brand gesetzt und ihre Fahrer auf die selbe Art hingerichtet wie Brecher.
Nur der Mann mit den weißen Gummistiefeln, stak nackt auf einem Pfahl über der Rampe. Offensichtlich lebte er noch, denn er rollte mit den Augen, als Hermann reglos darunter stehen blieb und ihn anstarrte. Die Ketten vor dem Tor waren durchbrochen und der Sand dahinter mit dem Blut der flüchtenden Wachen getränkt. Hermann ging hinaus und suchte im Sand nach Zeichen. Schließlich fand er die Spuren ihres Fahrzeugs und er entfernte sich von der Versorgungsfabrik. Er zog die Hand über sein Gesicht, um den Schaden zu erheben, den die Folter angerichtet hatte. Dabei stellte er fest, dass er schwerwiegende, aber nicht lebensgefährliche Verletzungen davon gezogen hatte. Als er sich vorsichtig über die platte Nase tastete, dachte er an den Säugling, der wenige Kilometer vor ihm, im Körper der toten Mutter lag. Trotz der Schmerzen peitschte er sich an und er spürte den heißen Sand unter seinen nackten Füßen. Es war ein Gefühl, dass er nicht kannte. Es hatte etwas aufregendes den Boden zu spüren und jeder Schritt war wie eine unvergessliche, neue Erfahrung. Hermann musste plötzlich Lachen. "Gute Schuhe", murmelte er und schüttelte dabei fassungslos den Kopf.
 



 
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