Stille Nacht

Olivier O.

Mitglied
Dunkel war die Nacht, die Tristan umhüllte. Hellwach aber lag er da und starrte an die Decke. Er starrte in sie hinein, versuchte sie zu durchdringen, wollte irgendwie in sie hineinsehen. Vielleicht, auch wenn die Möglichkeit noch so gering war, würde sie, die schlichte, einfache Bretterdecke, eine Antwort haben. Eine Antwort! Denn Tristan selbst hatte nur Fragen, Fragen über Fragen, nur keine Antworten. Jeden Abend lag er wach im Bett, starrte die tausendmal verdammte Decke an und bettelte nach Antworten, oder wenigstens nach Hinweisen auf Antworten! Schlaf fand er dabei nur selten, die verdrängten Probleme – oh Fragen! – des Tages schwappten im Dunkeln in seinen Kopf und folterten ihn dort zu Tode. Die Decke war ihm übrigens keine Hilfe, denn sie antwortete ihm nie, blieb erbarmungslos stumm, nicht ein Geräusch gab sie von sich, keinen Laut, keinen Wink, nichts. Nichts! Alles in seinem Kopf war Nichts und wieder Nichts und trotzdem war er so voll von dieser dröhnenden Leere. «Lass mich raus, lass mich gehen aus diesem grausamen Gefängnis, ich will mich ausbreiten und im endlosen Himmel aufgehen!», schrie eine besonders grausame Stimme in seinem Kopf. Er wollte sie ersticken. «Warum hast du nicht dies getan, nicht das gesagt, jenes entschieden, warum, warum, warum!», donnerte es entgegen. Tristan konnte nichts mehr davon hören, er wollte allein sein in seinem Kopf. Hilfesuchend wandte er sich an die Decke. Doch sie zeigte sich unberührt, stumm und kalt hing sie über seinem Gesicht.

Da begann es in seinem Körper zu kitzeln, er fühlte sich wie geladen durch das ewig gleiche Herumliegen. Der Strom der kommenden Bewegung schien greifbar in seinen Armen und Beinen zu pulsieren, es zuckte und blitzte in seinen Nerven. Noch konnte er sich zurückhalten, hatte dem erbarmungslosen Trieb aber nicht mehr viel entgegenzusetzen. Plötzlich, so plötzlich, dass Tristan nicht einmal etwas davon hätte ahnen können, sprang sein Oberkörper auf; es war, als hätte sich eine Sprungfeder gelöst, senkrecht starrte er nun an die Wand am anderen Zimmerende, gräulich starrte sie zurück. Die Spannung in seinen Fasern hatte sich wieder gelegt und er fragte sich verwirrt, was das Ganze gewesen sei. Ehe er sich versah, lag er wieder, das Geschehene schien wie ein entfernter Traum. Im Glauben, Frieden gefunden zu haben, schloss er die Augen. Schwarz.

Bilder blitzten auf. Fragen jagten durch die Stille, schrien auf, um ihn vom Schlaf abzuhalten. Gnadenlos hackten sie auf Tristan ein. «Fort ihr Geier!», warf er ihnen entgegen, «Ich mag zwar schon tot sein, doch atme ich noch! Lasst mir die Totenruhe, zumindest, bis auch mein Geist vergangen ist, dann fallt über das her, was geblieben ist. Es werden nichts als Erinnerungen sein. Und auch die sind bald verdorben!» Aber sie hörten ihm nicht zu und zerfrassen ihn bei lebendigem Leib. Draussen rauschte ein einzelnes Auto vorbei, dessen Lärm die meisten Geier verscheuchte. Sein Körper war unversehrt. Der orangene Schein der Strassenlaterne blendete ihn, als er nach draussen schaute. Ein einzelner Geier sass auf der Lampe. Tristan fühlte sich fiebrig. Schnell drehte er sich zur Seite, um dem beissenden Blick des Vogels zu entgehen. Er starrte an die Wand, doch sie war noch stiller als die Decke. Also drehte er sich noch einmal, nun lag er wieder auf dem Rücken, das Gesicht schaute nach dem Himmel, der doch irgendwo über seiner Gefängniszelle liegen musste. Die Augen suchte nach einem Anhaltspunkt, wo sie sich hätten festklammern können, einem Ort, wo Schlaf und ewige Ruhe versteckt wären. Doch die Decke blieb unnachgiebig, während die Bretter sich hinter ihrer Uniformität versteckten. Sie waren alle gleich, auch wenn winzige Unterschiede vorhanden schienen. Wie Soldaten, in Reih und Glied, grau und uniform. Ein Brett nach dem anderen, dazwischen kleine Rillen. Sie zogen vor seinen Augen vorbei, Schäfchen nach Schäfchen passierte sein Blickfeld, während er die Dunkelheit abtastete. Brett. Rille. Nächstes Brett. Nächste Rille. Auf einmal war alles vergessen, Tristan war frei geworden, frei und müde. Die Fragen waren plötzlich weit weg und erschienen fast schon unwirklich da draussen bei den Geiern, ausgesperrt in der Kälte. Immer wieder fielen ihm die Augen zu, nur um dann sofort wieder aufzuschrecken, fast als hätten sie durch die geschlossenen Lider etwas gesehen, das seinem Bewusstsein verborgen geblieben war. Tristan selbst war inzwischen eingeschlafen, nur sein Körper wehrte sich noch, als wäre er der Einzige, der noch von den Geiern wusste. Einige Male noch zuckte das Fleisch vergeblich, dann gab es sich ebenfalls der Versuchung hin und kam zur Ruhe.

So vergingen einige Minuten. Ruhig und rhythmisch ging sein Atem, die Augen blieben fest geschlossen und die Glieder schlaff. Sein Geist jedoch war bereits wieder erwacht und fieberte weiter. Tristan hing nun kopfüber von der Decke, die er eben noch angestarrt hatte. Sein Haupt füllte sich langsam mit rotem, kochendem Blut, es pochte in seinen Schläfen, drückte in seinem Kopf, schmerzte in seinen Adern. Er wand sich im Versuch, der misslichen Lage zu entkommen. Gleich einem Schmetterling, der verzweifelt versucht, sich aus seinem Kokon zu schälen, versuchte er die Beine aus der unsichtbaren Schlinge, die beide Knöchel fest zusammenhielt, zu zerren. Vergebens. Er rang weiter, verbissen, unerbittlich wendete und drehte er sich, und kam doch nicht weiter. Langsam wurde ihm schwindelig, die Welt um ihn herum immer dunkler, immer weiter entfernte er sich von seinem Bett, er konnte es kaum noch erkennen hinter dem dicken Schleier, der sich vor seine Augen gelegt hatte. Da rutschte er plötzlich aus seinen Fesseln hinaus und fiel dorthin, wo eigentlich der Boden hätte sein müssen. Doch da war keiner. So fiel und fiel er immer weiter in den unendlich tiefen Abgrund, immer weiter durch das schwarze Nichts. Fast hätte Tristan vergessen, dass er immernoch fiel, denn kein Lüftchen zog an ihm vorbei, keine Brise strich durch seine Haare. Und doch fiel er weiter. Langsam begann er, die Hoffnung zu verlieren, nahm bereits Abschied vom Leben, denn der Aufprall nach so einem Sturz musste ja fatal sein. Noch einmal blitzten die grossen Momente seines kleinen Lebens auf, nur einzelne Bilder, ohne Zusammenhang blickten ihn bekannte wie unbekannte Gesichter an. Im Hintergrund lief Musik. Es war kein bestimmtes Stück, vielmehr klang es, als ob alle Lieder, die er jemals gehört hatte, gleichzeitig abliefen. Vergangene, längst verdrängte Liebe stieg wieder hoch, unerreichbare, unglückliche, aber auch erfolgreiche; unerreichbar fern war das alles und doch zum Greifen nahe. Ein letztes Mal flackerten ein paar einsame Lichter auf, dort ein Lachen, hier ein Weinen; alles drehte sich um ihn und verschmolz zu einem einzigen Bild. Es war leer, und doch sah er alles. 27 Jahre leben aufgelöst und in ein einziges Bild gegossen. Flüche konnte er dort sehen, Schwüre, Wünsche – und Fragen. Einzelne Momente schwammen darin, gestiegen aus den Tiefen seines Unterbewusstseins. Er erblickte sich selbst, inmitten einer Masse, ein Stück Treibholz im Ozean. Ein gewaltiger Sturm warf ihn herum, im Augenwinkel waren eben noch seine Freunde gewesen, jetzt lagen sie schon weit zurück. Alles, was sein Leben bestimmt hatte, war weg, für immer. Immernoch hämmerte im Hintergrund die Musik, mit jedem Ton schlug sie auf Tristan ein, immer weiter glitt er in die ewige Nacht, versank darin. Ein gewaltiger Paukenschlag erschütterte den Boden, plötzlich sah er gar nichts mehr. Einige Sekunden vergingen, ohne dass etwas passierte. Aus dem Nichts erschien ein Lichtstrahl. Langsam erhellte sich die Gegend und er fand sich auf einer Parkbank wieder, nun aber allein, ganz allein. Er starrte zu den Sternen, und sie starrten zurück. Sie sagten nichts. Seine Freunde waren verloren, gegangen, um ihn herum blieb einzig das schwarze Grün der Bäume. War das der Tod? Das Holz der Lehne bohrte sich in seinen Rücken. Tristan wollte aufstehen, doch er konnte nicht. Angeklebt, gefangen. Die Hölle also? Sein Kopf schmerzte, er weinte bitter, ohne zu wissen warum. Den Kopf auf die Hände gestützt schlief er ein.

Als er wiedererwachte – es schien ihm, als wären nur wenige Sekunden vergangen – fand er sich zu seiner Überraschung im vertrauten Schlafzimmer wieder. Draussen vor dem Fenster glaubte er, das erste Grau des rettenden Morgens zu erkennen, aber die Bretterdecke hing unverändert über seinem Kopf. Tristan war sich ganz sicher, nicht geträumt zu haben; so fern das ganze ihm auch vorkam, er spürte, dass es real gewesen war. Trotzdem blieb das Geschehene ein Rätsel. Auch das Abtasten des ganzen Körpers nach Spuren des Sturzes führte zu keinem klaren Ergebnis. Es musste also doch alles Einbildung gewesen sein! Tristan spürte, wie sich der Schreck langsam löste und der Verwirrung Platz machte. Nein! Das konnte kein Traum gewesen sein! Und falls schon, dann musste er noch immer träumen. Ja, das musste es sein; er war noch gar nicht erwacht. Es galt also einfach das Ende abzuwarten, wie grausam der Weg dahin auch immer sein würde. Er schloss die bleiernen Lider, Schlaf täte sicher auch im Traum gut, vielleicht würde dieser zweite Schlaf nun sogar traumlos vergehen.

Kaum hatte er die Augen geschlossen, fühlte er eine drückende Hitze in sich aufsteigen, sein gesamter Körper schien zu kochen und zu dampfen, Schweissperlen rollten seine Stirn hinunter. Um einer weiteren Tortur zu entgehen, warf er die Augen auf und glaubte, zu erwachen. Doch er lag nicht mehr in seinem Bett. Tristan lag auf einem grossen Steinquader, der Raum um ihn herum war weiss getüncht, glühende Scheinwerfer strahlten gnadenlos; seine Haut brannte im erbarmungslosen Licht. Der grau-schwarze Granitstein zischte wo sein nackter Körper die glatte Oberfläche des seltsamen Altars berührte. Dieser war so unmenschlich heiss, dass man nicht mehr wirklich sagen konnte, ob er nun heiss oder kalt sei. Trotzdem schien Tristan keinen Schmerz zu verspüren. «Seltsam…», dachte er sich, der gleichzeitig unglaublich fasziniert war von seiner eigenen Folter. Er wurde eins mit dem Stein, dem urnatürlichen, dem Ursprünglichsten, was man auf der Erde finden kann, Leben und Tod trafen sich im Hier und Jetzt und vereinigten sich zur ewigen Stille. «Denn weder Leben und Tod sind still. Nur wo sie aufeinandertreffen, am Rand der Zeit, am Übergang von einem Zustand in den anderen, nur dort kann es still sein. Nur dort. Denn vor allem der Tod ist überhaupt nicht still, nein, er lärmt höllisch; die Kirchenglocken an der Beerdigung: ohrenbetäubend, der Trauermarsch: ein Höllenlärm, die hohen Absätze der Trauerdamen knallen, ihre Kleider rauschen. Lärm, Absätze auf Stein, Leben auf Tod, der Knall, das Ende des Endes und des Anfangs, was kommt dazwischen, hinter dem Anfang liegt schon das Ende? Das Ende der Anfang des Anfangs und der Anfang das Ende des Endes…» Tristan wurde schwarz vor Augen. Ein gleissender Blitz, ein Knall und er lag wieder im Bett. Hatte es nie verlassen. Oder doch? Verwirrung. War er nun weggewesen oder waren es nur verirrte Gedanken gewesen, die sein Bett verlassen hatten? Er wand sich im Zorn, versuchte etwas aufzutreiben in seinem Kopf, woran er sich hätte festhalten können. In all dieser Anstrengung überrollte ihn wieder die Müdigkeit und nach kurzem Kampf fiel er in einen tiefen, todgleichen Schlaf.

Das Licht des nahenden Morgens erhellte sein Zimmer und traf auf seine geschlossenen Augen, was irgendetwas in seinem Körper in Bewegung setzte, was wiederum dazu führte, dass Tristan kurz darauf die Lider öffnete und seinen Oberkörper aufrichtete. «Morgen, endlich Morgen! Doch… wirklich Morgen? Oder wieder eine Täuschung? Wieder ein Traum? Habe ich überhaupt geträumt? Das können ja nur Bilder direkt aus der Hölle gewesen sein…» Mit seltsam metallischem Geschmack auf der Zunge rieb er sich die Reste Schlaf – Traum? – aus den Augen, einzige Zeugen der vergangenen Nacht. Dann warf er in grossen Bogen die weisse Federdecke zurück. Sein Bett war anders als sonst gänzlich weiss bezogen, eingefasst von einem dunkelbraunen Holzrahmen. Tristan hasste dieses Bett, nur schon, weil es ihn jeden Abend geradezu spöttisch anlächelte und hämisch flüsterte, dass auch heute Abend der Versuch ergebnislos sein würde, und dass er niemals Schlaf finden könnte. Das Bett genoss es, jede Nacht Tristan aufs Neue leiden zu sehen; mit einem bestialischen Grinsen empfing es ihn, sobald er sich schlafen legen wollte. Doch das war erst der Anfang. Manchmal flüsterte es ihm solch bösartige Dinge zu, dass auch ein normaler Mensch niemals Schlaf gefunden hätte.

Nun aber schwang Tristan endlich seine Beine aus dem Bett und stand auf. Unter seinen Füssen lag ein alter blauer Orientteppich, der sich bis zur Türe erstreckte. Er torkelte aus seinem Zimmer, durch den Gang und über die Treppe bis nach unten. Das gleissende Licht dort blendete ihn, die Zimmer waren blütenweiss getüncht, wie auch schon sein Schlafzimmer. Er konnte sich nicht erinnern, dass sie immer so hell-blendend gestrichen gewesen waren. Immerhin war ihm nicht mehr so heiss, sein Gesicht blieb dennoch leicht gerötet, insbesondere im Gegensatz zu den bleichen Wänden. Er wollte gerade Platz nehmen auf dem abgewetzten Ledersofa, da erblickte er an der gegenüberliegenden Wand, weiss auf weiss, seinen Grossvater. Tristan erschrak fast zu Tode. Grossvater nämlich war, soweit er sich erinnerte, zwei Tage vor seiner Geburt gestorben. Er kannte sein Gesicht nur von alten Photographien. Er öffnete den Mund, wie um etwas zu sagen.

Doch bevor es dazu kam, durchtrennte ein Blitz die Luft, die Welt wurde schwarz, und Tristan lag wieder in seinem Bett. Schweissgebadet, ja keuchend, beruhigte er sich: Es war alles nur ein Traum gewesen. Aber kaum waren die letzten Worte verklungen, kreischte draussen ein einsamer Geier. Langsam erhob sich das Tier in die Lüfte und verschwand am Horizont.
 



 
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