Der Nebel legt sich an die Fensterscheiben wie Zweifel auf ein klar strukturiertes Bewusstsein. Durch den altrosafarbenen Schirm einer Stehlampe fällt sanftes Licht auf einen nierenförmigen Glastisch, auf dem zwei aufgeschlagene Gedichtbände liegen: Paul Celans Atemwende und Ingeborg Bachmanns Anrufung des Großen Bären. Die Seiten sind offen bei Versen über das Verstummen. Zwei schwere Lesesessel stehen sich gegenüber.
»Schön, dass Sie gekommen sind. Nach dem, was Sie mir berichtet haben, ist das keine Selbstverständlichkeit. Es erfordert Mut.«
Der Angesprochene zuckt zusammen, als sei er überrascht, überhaupt noch hier zu sein.
»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Vielleicht sollten Sie die ganze Geschichte kennen.«
»Wir haben Zeit. Möchten Sie Tee?«
»Nein, danke. Flüssigkeit … war nie mein Ding.«
Ein schiefes Lächeln.
»Ich bin eher der abrupte Typ.«
Die Therapeutin nickt.
»Dann erzählen Sie. So, wie es sich für Sie richtig anfühlt.«
»Also … es gab eine Zeit, da war ich gern das, was ich bin. Auch wenn ich nie für Zwischentöne stand, sondern immer für das Unmissverständliche.«
Seine Stimme wird weicher.
»Meine allererste Verwendung war in einem Grundschulzeugnis. ›Weiter so!‹, schrieb der Lehrer. Ein Mädchen hatte sich in Deutsch von einer Vier auf eine Zwei hochgekämpft, und ich war Teil dieses kleinen Triumphes. Das Zeugnis hing gerahmt an einer Küchenwand.«
Eine Pause. Das Schweigen füllt sich mit Erinnerung.
»Ich war oft in Liebesbriefen zu finden. Faszinierend, mit welchem Überschwang Verliebte einander ihre Einzigartigkeit versichern. Viele haben mich groß und satt geschrieben, fast gemalt. Andere haben mich filigran verwirklicht, leicht geneigt, wenn ich Glück hatte, mit ausgewählter Tinte. Ich war die Gewissheit, dass alles gut bleiben würde.«
Er hebt die Brauen.
»Auch kulturell war ich gefragt. Einmal schaffte ich es in ein Booklet der Band Wir sind Helden. Im Song Denkmal durfte ich die Zeile ›Hol den Vorschlaghammer!‹ bekräftigen. Das Paar im Lied zerschlägt das Denkmal, das andere für sie errichtet haben. Ein Protest gegen überhöhte Erwartungen.«
»Eine wertvolle Botschaft.«
»Und genau deshalb einer der Einsätze, auf die ich stolz bin.«
»Sie hatten Ihren Platz gefunden.«
»So kann man es sagen. Natürlich wurde ich auch damals schon bei Beleidigungen und Streit herangezogen. Aber das hielt sich die Waage mit Staunen und Jubel. Selbst in harschen Tönen war ich Würze, nie das Hauptgericht.«
Die Therapeutin neigt den Kopf. »Und dann?«
»Dann setzte das Internet seinen Siegeszug fort. In Diskussionsforen zu den abseitigsten Themen und in Netzwerken, die sich sozial nennen, entstand eine neue Art zu sprechen: grell, scharf, atemlos. Empörung wurde zur Währung. Hass zur Dramaturgie. Und ich mittendrin.«
Das Ausrufezeichen rutscht im Sessel nach vorn.
»Sie stellten plötzlich drei, vier, fünf von uns nebeneinander. Als hätte einer allein nicht genug Gewicht.«
»Wie fühlten Sie sich dabei?«
»Wie ein Verstärker, durch den keine Musik mehr dringt. Kein Ausdruck mehr. Nur noch Druck. Sie hatten sich das Fingerspitzengefühl
amputiert.«
Die Therapeutin lehnt sich zurück.
»Sie hatten also den Eindruck, genutzt zu werden, ohne gemeint zu sein.«
»Sagen Sie ruhig: ausgenutzt.«
Ein stummes Nicken.
»Weil die Auflagen einbrachen und die Algorithmen Effekthascherei belohnen, ließen sich selbst Redaktionen anerkannter Blätter hinreißen. Früher riefen sie uns bei Ereignissen wie der Mondlandung oder Olympiasiegen. Heute genügt es, wenn bei den Oscars zwei Schauspielerinnen das gleiche Kleid tragen. ›Erwischt!‹«
Das Symbol presst die Lippen zusammen.
»Am schlimmsten ist es, wenn sie Menschen aufeinanderhetzen, bloß um Klicks zu kassieren. Arme gegen Reiche, Alte gegen Junge, Einheimische gegen Zugewanderte. Mit meinesgleichen als Zündholz.«
»Sie produzieren mit Ihnen heiße Luft. Das Problem kenne ich gut.«
Ein skeptischer Blick.
»Wirklich? Sie stehen doch in anspruchsvollen Texten. Essays, Lyrik, Prosa. Im Werther begegnet man über zweihundertfünfzig Strichpunkten. Ich habe nachgezählt.«
»Stimmt. Aber ich werde auch für akademische Schaumschlägerei missbraucht. Ich verleihe allem Tiefe, auch wenn da nur Dünnes steht.«
Ein kurzes Zögern.
»Und bei klugen Menschen wünschte ich mir manchmal, sie würden auf mich verzichten, damit sie zu Themen wie Klima, Armut, Gerechtigkeit klarer durchdringen könnten.«
Sie atmet tief ein.
»Ich bin schlicht ein Zwischending. Zu selbstbewusst für das Komma, zu scheu für den Punkt. Aber dafür lasse ich Raum. Für das, was weitergedacht werden will.«
Das Ausrufezeichen nickt bedächtig.
»Möchten Sie mir von Ihrer Erschöpfung erzählen?«
»Nun, da ich immer häufiger für Lärm und Furor eingesetzt wurde, fühlte ich mich zunehmend unwohl. Ich trug zur Eskalation bei, ohne es zu wollen.«
»Sie fühlten sich schuldig.«
Eine lange Pause.
»Irgendwo schon. Ich spielte ja mit im Orchester der Entrüstung. Andere Satzzeichen begannen, mich zu meiden. Ich schlief schlecht, schämte mich, rauszugehen. Die Welt schien voller Spiegel, in denen ich mich nicht mehr erkannte.«
Die Therapeutin lässt die Worte in den Raum sinken.
»Haben Sie versucht, sich zu verändern?«
»Ich habe es versucht, ja.«
Ein verlegenes Lachen.
»Wie Sie sehen, habe ich an mir herumgekratzt. Versucht, den Punkt unter mir, sagen wir, umzugestalten. Ich habe mich auf den Strich gestellt, um zu empfinden, wie es wäre … ich gebe es zu: ein Semikolon zu sein. Wie Sie.«
»Das ehrt mich fast ein bisschen.«
»Ja … aber so einfach ist es nicht. Die Menschen hätten mich trotzdem weiter als Ausrufezeichen verwendet. Wir sind gefangen in den Funktionen, die sie uns zuschreiben. Und vielleicht ist das das Bitterste: dass selbst der Versuch, anders zu sein, scheitert, wenn niemand bereit ist, neu hinzusehen.«
Stille.
»Und dann kam der Tag, von dem ich Ihnen bereits erzählt hatte. Der Tag, der mich davon überzeugte, dass es besser wäre, nicht mehr da zu sein.«
Das Ausrufezeichen erhebt sich mühsam und geht zum Fenster, die Schultern gesenkt. Der Nebel hat sich gelockert. Draußen, im gegenüberliegenden Klinikum, regt sich ein undeutlicher Schatten.
»Es war ein Montagabend. Ich wurde angefordert, in meinen Gedanken erschien die Szene. Ein Livestream. Ein junger Mann um die zwanzig. Sein Gesicht war eine einzige Fratze, in alle Richtungen verzogen. Er filmte sich dabei, wie er … mit einer Pistole in eine Umkleidekabine stürmte. Einer Mädchenbasketballmannschaft. Und er … er erschoss eines von ihnen.«
Ein schmerzhafter Atemzug.
»Im Chat schrieb jemand: ›Mach sie kalt! Ich will das Gesicht ihrer Mutter sehen!!‹ Und ich trug diesen Ekel mit.«
»Das muss unerträglich gewesen sein.«
»So sehr, dass ich in Verzweiflung ertrank. Ich dachte, die Welt wäre ein besserer Ort ohne mich. Der Hass würde nicht verschwinden, nein – aber ich würde ihn wenigstens nicht mehr verstärken.«
Die Therapeutin nickt kaum merklich.
»Und danach?«
»Ich habe in der Nacht kein Auge zugetan. Ich konnte das Mädchen nicht vergessen. Ihre rotgelockten Haare. Das hellblaue Trikot mit den Wolkenkratzern. Das Halogenlicht, zerschnitten von den Schreien.«
Ein zaghaftes Räuspern.
»Am Morgen legte ich in meiner Wohnung weißes Papier aus. Unbeschrieben, das war mir wichtig. Daneben eine Dose Tabletten. Ich wollte Debussy hören. Tiersen. Klänge, in denen ich verschwimmen könnte.«
Seine Stimme wird leiser.
»Ich legte mich auf das Papier und schloss die Augen. Die Klaviermelodien begannen, mich langsam in sich aufzunehmen. Dann klopfte es an der Tür. Eine Freundin. Ein Fragezeichen.«
Eine kurze Pause.
»Sie hörte die Musik, klingelte, rief nach mir. Ich konnte nicht aufstehen. Wollte es vielleicht auch nicht. Fühlte mich unwiederbringlich dem Grund verschrieben. Mein Herz schlug in einem langgezogenen Ton. Und dann antwortete ich dennoch, wie aus einer fremden Kehle: ›Komm rein.‹«
Ein schwaches Lächeln.
»Sie hatte einen Schlüssel. Wir vertrauten einander. Sie fand mich dort, mit der Dose. Ich hielt mir die Hände vors Gesicht.«
»Wie hat sie reagiert?«
»Sie kam leise zu mir, legte sich behutsam neben mich und flüsterte: ›Warum?‹«
Er schluckt.
»Es klingt vermutlich seltsam, aber ein Fragezeichen hat die perfekte Form für solche Momente, wie ein Ohr. Ich habe mich ihr nach und nach geöffnet. Sie hat nicht viel gesagt. Nur das Nötigste.«
»Was hat sie gesagt?«
»›Wir gehören zusammen, du und ich. Du rufst aus, ich frage nach. Wenn du gehst, ersetzen sie dich. Irgendwer schreit immer. Aber dann bist du weg.‹«
Er setzt sich wieder. Etwas aufrechter.
»Und ich begriff: Ich kann nicht gehen, wenn jemand fragt. Fragen suchen nach Antworten.«
Die Therapeutin faltet die Hände im Schoß.
»Deshalb sind Sie hier.«
»Nach ein paar Gesprächen mit ihr, ja. Ich habe Angst, wieder für das Falsche gebraucht zu werden.«
Er stockt.
»Eins weiß ich sicher: Das ›Wie wundervoll!‹ von früher ist noch in mir. Zwar verschüttet, aber nicht verschwunden.«
»Wissen Sie, was ich glaube?«
»Was?«
»Wir Satzzeichen verstehen oft mehr von menschlicher Kommunikation als die Menschen selbst. Wir sind Brücken, vom Denken zum Schreiben, vom Gefühl zur Bedeutung. Und wir spüren haargenau, wenn man uns falsch benutzt.«
Sie hält inne.
»Manche puffern, andere kündigen an. Manche ordnen, andere lassen offen. Unsere Rollen machen uns sensibel für das, was gesagt werden sollte.«
Er schaut sie an. Sein Blick ist wach.
»Wie schade, dass der Impuls im Menschen oft mächtiger ist als das Nachdenken.«
Sie seufzt mit einem Hauch Ironie.
»Wenn ich könnte, würde ich den Gebrauch von Ausrufezeichen auf höchstens eine Handvoll pro Tag beschränken. Was halten Sie davon?«
»Mhm. Sie beherrschen auf jeden Fall die Kunst des tröstenden Witzes.«
Sie schmunzelt.
»Ganz im Ernst: Es liegt an uns, den Schaden zu begrenzen, den die Menschen uns zufügen. Schließlich haben sie uns buchstäblich in der Hand. Wichtig ist, dass Sie erkennen, dass Sie mehr sind als Ihr Verwendungszweck. Ich kann Ihnen neue Denkansätze vermitteln und ein paar einfache Übungen beibringen. Sie werden dadurch Ihre Abgrenzungsfähigkeit stärken und sich selbst wieder bewusster wahrnehmen. Als hoffnungsvolle Nachricht: Ich habe in letzter Zeit viele Ausrufezeichen auf den richtigen Weg gebracht.«
Draußen löst sich der Nebel allmählich auf.
»Für heute soll es das allerdings gewesen sein. Kommen Sie nächste Woche wieder?«
Das Symbol für Nachdruck steht auf und zuckt mit den Schultern.
»Wahrscheinlich schon. Auch wenn wieder alles nach mir ruft.«
»Gerade dann.«
Kurzes Schweigen.
»Gerade dann.«
Als das Ausrufezeichen gegangen ist, bleibt die Therapeutin eine Weile stehen. Ihr Blick fällt auf die Verse.
Sie tritt ans Fenster, schaut zum Klinikum. Dort, hinter Glas, bewegt sich noch immer der Schatten.
Zwei Welten, getrennt durch Sinn und Raum
Doch manchmal, denkt sie, sind die Grenzen durchlässiger, als wir glauben
»Schön, dass Sie gekommen sind. Nach dem, was Sie mir berichtet haben, ist das keine Selbstverständlichkeit. Es erfordert Mut.«
Der Angesprochene zuckt zusammen, als sei er überrascht, überhaupt noch hier zu sein.
»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Vielleicht sollten Sie die ganze Geschichte kennen.«
»Wir haben Zeit. Möchten Sie Tee?«
»Nein, danke. Flüssigkeit … war nie mein Ding.«
Ein schiefes Lächeln.
»Ich bin eher der abrupte Typ.«
Die Therapeutin nickt.
»Dann erzählen Sie. So, wie es sich für Sie richtig anfühlt.«
»Also … es gab eine Zeit, da war ich gern das, was ich bin. Auch wenn ich nie für Zwischentöne stand, sondern immer für das Unmissverständliche.«
Seine Stimme wird weicher.
»Meine allererste Verwendung war in einem Grundschulzeugnis. ›Weiter so!‹, schrieb der Lehrer. Ein Mädchen hatte sich in Deutsch von einer Vier auf eine Zwei hochgekämpft, und ich war Teil dieses kleinen Triumphes. Das Zeugnis hing gerahmt an einer Küchenwand.«
Eine Pause. Das Schweigen füllt sich mit Erinnerung.
»Ich war oft in Liebesbriefen zu finden. Faszinierend, mit welchem Überschwang Verliebte einander ihre Einzigartigkeit versichern. Viele haben mich groß und satt geschrieben, fast gemalt. Andere haben mich filigran verwirklicht, leicht geneigt, wenn ich Glück hatte, mit ausgewählter Tinte. Ich war die Gewissheit, dass alles gut bleiben würde.«
Er hebt die Brauen.
»Auch kulturell war ich gefragt. Einmal schaffte ich es in ein Booklet der Band Wir sind Helden. Im Song Denkmal durfte ich die Zeile ›Hol den Vorschlaghammer!‹ bekräftigen. Das Paar im Lied zerschlägt das Denkmal, das andere für sie errichtet haben. Ein Protest gegen überhöhte Erwartungen.«
»Eine wertvolle Botschaft.«
»Und genau deshalb einer der Einsätze, auf die ich stolz bin.«
»Sie hatten Ihren Platz gefunden.«
»So kann man es sagen. Natürlich wurde ich auch damals schon bei Beleidigungen und Streit herangezogen. Aber das hielt sich die Waage mit Staunen und Jubel. Selbst in harschen Tönen war ich Würze, nie das Hauptgericht.«
Die Therapeutin neigt den Kopf. »Und dann?«
»Dann setzte das Internet seinen Siegeszug fort. In Diskussionsforen zu den abseitigsten Themen und in Netzwerken, die sich sozial nennen, entstand eine neue Art zu sprechen: grell, scharf, atemlos. Empörung wurde zur Währung. Hass zur Dramaturgie. Und ich mittendrin.«
Das Ausrufezeichen rutscht im Sessel nach vorn.
»Sie stellten plötzlich drei, vier, fünf von uns nebeneinander. Als hätte einer allein nicht genug Gewicht.«
»Wie fühlten Sie sich dabei?«
»Wie ein Verstärker, durch den keine Musik mehr dringt. Kein Ausdruck mehr. Nur noch Druck. Sie hatten sich das Fingerspitzengefühl
amputiert.«
Die Therapeutin lehnt sich zurück.
»Sie hatten also den Eindruck, genutzt zu werden, ohne gemeint zu sein.«
»Sagen Sie ruhig: ausgenutzt.«
Ein stummes Nicken.
»Weil die Auflagen einbrachen und die Algorithmen Effekthascherei belohnen, ließen sich selbst Redaktionen anerkannter Blätter hinreißen. Früher riefen sie uns bei Ereignissen wie der Mondlandung oder Olympiasiegen. Heute genügt es, wenn bei den Oscars zwei Schauspielerinnen das gleiche Kleid tragen. ›Erwischt!‹«
Das Symbol presst die Lippen zusammen.
»Am schlimmsten ist es, wenn sie Menschen aufeinanderhetzen, bloß um Klicks zu kassieren. Arme gegen Reiche, Alte gegen Junge, Einheimische gegen Zugewanderte. Mit meinesgleichen als Zündholz.«
»Sie produzieren mit Ihnen heiße Luft. Das Problem kenne ich gut.«
Ein skeptischer Blick.
»Wirklich? Sie stehen doch in anspruchsvollen Texten. Essays, Lyrik, Prosa. Im Werther begegnet man über zweihundertfünfzig Strichpunkten. Ich habe nachgezählt.«
»Stimmt. Aber ich werde auch für akademische Schaumschlägerei missbraucht. Ich verleihe allem Tiefe, auch wenn da nur Dünnes steht.«
Ein kurzes Zögern.
»Und bei klugen Menschen wünschte ich mir manchmal, sie würden auf mich verzichten, damit sie zu Themen wie Klima, Armut, Gerechtigkeit klarer durchdringen könnten.«
Sie atmet tief ein.
»Ich bin schlicht ein Zwischending. Zu selbstbewusst für das Komma, zu scheu für den Punkt. Aber dafür lasse ich Raum. Für das, was weitergedacht werden will.«
Das Ausrufezeichen nickt bedächtig.
»Möchten Sie mir von Ihrer Erschöpfung erzählen?«
»Nun, da ich immer häufiger für Lärm und Furor eingesetzt wurde, fühlte ich mich zunehmend unwohl. Ich trug zur Eskalation bei, ohne es zu wollen.«
»Sie fühlten sich schuldig.«
Eine lange Pause.
»Irgendwo schon. Ich spielte ja mit im Orchester der Entrüstung. Andere Satzzeichen begannen, mich zu meiden. Ich schlief schlecht, schämte mich, rauszugehen. Die Welt schien voller Spiegel, in denen ich mich nicht mehr erkannte.«
Die Therapeutin lässt die Worte in den Raum sinken.
»Haben Sie versucht, sich zu verändern?«
»Ich habe es versucht, ja.«
Ein verlegenes Lachen.
»Wie Sie sehen, habe ich an mir herumgekratzt. Versucht, den Punkt unter mir, sagen wir, umzugestalten. Ich habe mich auf den Strich gestellt, um zu empfinden, wie es wäre … ich gebe es zu: ein Semikolon zu sein. Wie Sie.«
»Das ehrt mich fast ein bisschen.«
»Ja … aber so einfach ist es nicht. Die Menschen hätten mich trotzdem weiter als Ausrufezeichen verwendet. Wir sind gefangen in den Funktionen, die sie uns zuschreiben. Und vielleicht ist das das Bitterste: dass selbst der Versuch, anders zu sein, scheitert, wenn niemand bereit ist, neu hinzusehen.«
Stille.
»Und dann kam der Tag, von dem ich Ihnen bereits erzählt hatte. Der Tag, der mich davon überzeugte, dass es besser wäre, nicht mehr da zu sein.«
Das Ausrufezeichen erhebt sich mühsam und geht zum Fenster, die Schultern gesenkt. Der Nebel hat sich gelockert. Draußen, im gegenüberliegenden Klinikum, regt sich ein undeutlicher Schatten.
»Es war ein Montagabend. Ich wurde angefordert, in meinen Gedanken erschien die Szene. Ein Livestream. Ein junger Mann um die zwanzig. Sein Gesicht war eine einzige Fratze, in alle Richtungen verzogen. Er filmte sich dabei, wie er … mit einer Pistole in eine Umkleidekabine stürmte. Einer Mädchenbasketballmannschaft. Und er … er erschoss eines von ihnen.«
Ein schmerzhafter Atemzug.
»Im Chat schrieb jemand: ›Mach sie kalt! Ich will das Gesicht ihrer Mutter sehen!!‹ Und ich trug diesen Ekel mit.«
»Das muss unerträglich gewesen sein.«
»So sehr, dass ich in Verzweiflung ertrank. Ich dachte, die Welt wäre ein besserer Ort ohne mich. Der Hass würde nicht verschwinden, nein – aber ich würde ihn wenigstens nicht mehr verstärken.«
Die Therapeutin nickt kaum merklich.
»Und danach?«
»Ich habe in der Nacht kein Auge zugetan. Ich konnte das Mädchen nicht vergessen. Ihre rotgelockten Haare. Das hellblaue Trikot mit den Wolkenkratzern. Das Halogenlicht, zerschnitten von den Schreien.«
Ein zaghaftes Räuspern.
»Am Morgen legte ich in meiner Wohnung weißes Papier aus. Unbeschrieben, das war mir wichtig. Daneben eine Dose Tabletten. Ich wollte Debussy hören. Tiersen. Klänge, in denen ich verschwimmen könnte.«
Seine Stimme wird leiser.
»Ich legte mich auf das Papier und schloss die Augen. Die Klaviermelodien begannen, mich langsam in sich aufzunehmen. Dann klopfte es an der Tür. Eine Freundin. Ein Fragezeichen.«
Eine kurze Pause.
»Sie hörte die Musik, klingelte, rief nach mir. Ich konnte nicht aufstehen. Wollte es vielleicht auch nicht. Fühlte mich unwiederbringlich dem Grund verschrieben. Mein Herz schlug in einem langgezogenen Ton. Und dann antwortete ich dennoch, wie aus einer fremden Kehle: ›Komm rein.‹«
Ein schwaches Lächeln.
»Sie hatte einen Schlüssel. Wir vertrauten einander. Sie fand mich dort, mit der Dose. Ich hielt mir die Hände vors Gesicht.«
»Wie hat sie reagiert?«
»Sie kam leise zu mir, legte sich behutsam neben mich und flüsterte: ›Warum?‹«
Er schluckt.
»Es klingt vermutlich seltsam, aber ein Fragezeichen hat die perfekte Form für solche Momente, wie ein Ohr. Ich habe mich ihr nach und nach geöffnet. Sie hat nicht viel gesagt. Nur das Nötigste.«
»Was hat sie gesagt?«
»›Wir gehören zusammen, du und ich. Du rufst aus, ich frage nach. Wenn du gehst, ersetzen sie dich. Irgendwer schreit immer. Aber dann bist du weg.‹«
Er setzt sich wieder. Etwas aufrechter.
»Und ich begriff: Ich kann nicht gehen, wenn jemand fragt. Fragen suchen nach Antworten.«
Die Therapeutin faltet die Hände im Schoß.
»Deshalb sind Sie hier.«
»Nach ein paar Gesprächen mit ihr, ja. Ich habe Angst, wieder für das Falsche gebraucht zu werden.«
Er stockt.
»Eins weiß ich sicher: Das ›Wie wundervoll!‹ von früher ist noch in mir. Zwar verschüttet, aber nicht verschwunden.«
»Wissen Sie, was ich glaube?«
»Was?«
»Wir Satzzeichen verstehen oft mehr von menschlicher Kommunikation als die Menschen selbst. Wir sind Brücken, vom Denken zum Schreiben, vom Gefühl zur Bedeutung. Und wir spüren haargenau, wenn man uns falsch benutzt.«
Sie hält inne.
»Manche puffern, andere kündigen an. Manche ordnen, andere lassen offen. Unsere Rollen machen uns sensibel für das, was gesagt werden sollte.«
Er schaut sie an. Sein Blick ist wach.
»Wie schade, dass der Impuls im Menschen oft mächtiger ist als das Nachdenken.«
Sie seufzt mit einem Hauch Ironie.
»Wenn ich könnte, würde ich den Gebrauch von Ausrufezeichen auf höchstens eine Handvoll pro Tag beschränken. Was halten Sie davon?«
»Mhm. Sie beherrschen auf jeden Fall die Kunst des tröstenden Witzes.«
Sie schmunzelt.
»Ganz im Ernst: Es liegt an uns, den Schaden zu begrenzen, den die Menschen uns zufügen. Schließlich haben sie uns buchstäblich in der Hand. Wichtig ist, dass Sie erkennen, dass Sie mehr sind als Ihr Verwendungszweck. Ich kann Ihnen neue Denkansätze vermitteln und ein paar einfache Übungen beibringen. Sie werden dadurch Ihre Abgrenzungsfähigkeit stärken und sich selbst wieder bewusster wahrnehmen. Als hoffnungsvolle Nachricht: Ich habe in letzter Zeit viele Ausrufezeichen auf den richtigen Weg gebracht.«
Draußen löst sich der Nebel allmählich auf.
»Für heute soll es das allerdings gewesen sein. Kommen Sie nächste Woche wieder?«
Das Symbol für Nachdruck steht auf und zuckt mit den Schultern.
»Wahrscheinlich schon. Auch wenn wieder alles nach mir ruft.«
»Gerade dann.«
Kurzes Schweigen.
»Gerade dann.«
Als das Ausrufezeichen gegangen ist, bleibt die Therapeutin eine Weile stehen. Ihr Blick fällt auf die Verse.
Sie tritt ans Fenster, schaut zum Klinikum. Dort, hinter Glas, bewegt sich noch immer der Schatten.
Zwei Welten, getrennt durch Sinn und Raum
Doch manchmal, denkt sie, sind die Grenzen durchlässiger, als wir glauben
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