Sturmtief

4,00 Stern(e) 1 Stimme

Majalu

Mitglied
„Aahhhh!“ Ein gellender Schrei tönt durch das Haus in der Sturmgasse 8. Kurz darauf knallt die Haustür, und Mama fegt mit aufgeblähten Nüstern durch den Flur. Über den Fußboden wehen zerknüllte Mehltüten, deren Inhalt Mamas Augen panisch suchen…und schließlich finden. Entsetzt hält sie sich die Hand vor den Mund. Was für eine Schweinerei!
Leo erklärt stolz: „Es hat neit!“, und deutet dabei auf das weiße Pulver, das er über die Wohnzimmergarnitur aus Plüsch, den Teppich und quer durch den Flur verteilt hat. Mamas Augen, mittlerweile mit Tränen gefüllt, folgen dem kleinen Zeigefinger. Und auf ihrer verzweifelten Stirn formen sich folgende Worte in Mehlschrift: Es dauert Stunden, bis ich diese Sauerei wieder beseitigt habe!
Davon unbeeindruckt, pustet der Herbstwind mit aufgeblasenen Backen. Wenn er um die Ecken pfeift, klingt es wie das schaurige Heulen eines Wolfsrudels. Dunkle Wolken türmen sich bedrohlich auf und formen Gespenstermäuler, die mit wilden Augen bösartig funkeln und grelle Blitze auf die Erde schicken, messerscharf und spitz. Wie ein Schrei in der Nacht.
Und während die zunehmende Finsternis nichts Gutes ahnen lässt, tobt der Wind mit jeder Sekunde stärker. Vielleicht könnte man jetzt noch das Schlimmste abwenden, wenn man ihn nur beachten würde, den Wind. Doch dafür sind die Turbulenzen im Haus zu groß.
Leo staunt, denn seine Mama verwandelt sich vor seinen Augen tornadoschnell in einen Wirbelwind, der sich zunächst spiralförmig bis zur Zimmerdecke aufbauscht und dann in Gestalt einer Mehlwolke rasant das Treppengeländer hinaufschlittert. Zielstrebig steuert sie auf das Kinderzimmer zu.
Überrascht schreckt Sophie hoch, die, auf dem Bett sitzend, in einen dicken Schmöker vertieft ist. Oh Graus! Die Mehlwolke verwandelt sich in eine grässliche Fratze, und ehe Sophie nur ansatzweise begreift, was los ist, legt Mama auch schon los: „Du hast mir verdammt nochmal versprochen, auf Leo aufzupassen!“
Und dann schaltet Sophie ab. Ziellos richtet sie ihren Blick in eine ferne Galaxie. Dass sie Mama schon wieder enttäuscht hat, hält sie einfach nicht aus.
Als das Gemecker nur noch leises Hintergrundgemurmel ist, fällt Sophie auf, dass auch draußen ein heftiger Sturm tobt. Soeben stürzt Papa mit wehender Mähne zur Tür herein und hat Mühe, dass sie ihm nicht um die Ohren fliegt.
„Hoffentlich bläst der Wind nicht unser Haus weg!", sorgt sich Sophie. Und nur einen Atemzug später bringt eine heftige Böe das stattliche Haus in der Sturmgasse 8 mächtig ins Wanken.
Vor Schreck unterbricht Mama ihren Schimpftornado. „Häuser können nicht wegfliegen!", behauptet sie altklug, und es klingt so, als ob sie sich selbst beruhigen müsste. Eigentlich weiß Mama immer alles. Vor allem weiß sie immer alles besser. Doch dieses Mal irrt sie sich, denn plötzlich geschieht etwas ganz und gar Wundersames.
Das ganze Haus wankt und schwankt, rackelt und wackelt, scheppert und klawettert. Es beginnt zu kullern, nimmt ordentlich Fahrt auf und… hebt vom Erdboden ab. Das Haus fliegt! Der stürmische Wind pustet es höher und höher, bis zu den Wolken.
Währenddessen entsteht im Inneren ein heilloses Durcheinander. Tische rutschen, Wände knarren und Teller scheppern. Leo, der gerade Wackelpudding isst, landet platsch! mit dem Gesicht darin.
Einen Augenblick später fliegt der Wackelpudding durch die Küche und trifft zielsicher auf Papas Popo. Er ist gerade dabei, unter dem Spülbecken das Abflussrohr zu reparieren. Überrascht dreht er sich um und zieht dabei mit einem Ruck am Rohr, das dadurch abbricht und einen Schwall Abflusswasser direkt in sein Gesicht befördert. Pfui Teufel!
Genau in diesem Moment rutschen Mama und Sophie mit Schwung das Treppengeländer herunter. Noch während der sausenden Fahrt brüllen sie panisch: „Bringt euch in Sicherheit!"
Vorsichtig krabbelt Sophie in die Mitte des Wohnzimmers. „Hier schwankt es am wenigsten“, stellt sie fest. Daraufhin überwindet Papa seine Furcht und robbt langsam über den Fußboden zu ihr. Mamas Gesicht färbt sich grün, auch weil Papa so fürchterlich stinkt.
„Ich glaube, wir landen gleich wieder", vermutet Sophie. Nur wo? Mutig arbeitet sie sich zum Fenster vor, um den besten Überblick zu bekommen. Ein gespanntes Knistern liegt in der Luft.
Dann herrscht minutenlang Stille, bevor das Haus laut klappernd auf den Erdboden prallt. Leo macht vor Schreck einen Salto, als er eine Familie furchterregender Drachen am Fenster vorbeimarschieren sieht.
„Um Himmels willen!“, schreit Papa und reibt sich die Augen. Ein besonders gefährlicher Drache beginnt bereits, mit seinen spitzen Zähnen die Hauswand anzuknabbern.
„Wir sind im Drachenland!", stellt Sophie fest und schlottert vor Angst. „Ich habe gelesen, dass Drachen sich vor Gemüse ekeln“, berichtet sie, während sie bereits auf dem Weg in die Küche ist, um sich mit Munition auszustatten. Die anderen sind noch weit davon entfernt, ihren Plan zu durchschauen, da hagelt es schon Tomaten aus dem Fenster.
Der Drache stutzt, verzieht angewidert das Gesicht und läuft pfeilschnell davon. „Ih gitt, gesundes Gemüse!“, blökt er noch, als auch alle anderen Drachen die rote Gefahr wittern und einvernehmlich abdampfen.
Mama staunt: „Ich wusste gar nicht, dass du dich so gut mit Drachen auskennst!“
Alle sind heilfroh, als die Reise weitergeht. Das Haus hebt ab und fliegt hoch hinaus. Nur ein abgebrochener, gefährlich scharfer Drachenzahn bleibt in der Wand stecken und wird sie immer an diese besondere Begegnung erinnern.
„Achtung! Alle bereit machen zum Landeanflug!", ruft Sophie schon nach kurzer Zeit. Als sie das nächste Ziel erkennt, wird sie ganz blass um die Nase. Riesengroße Monster mit leuchtend orangenen Karottennasen huschen um das Haus herum und werfen dunkle Schatten in die Zimmer. Dingdong! Nanu, was ist das? Hat es geläutet?
„Bloß nicht aufmachen!", warnt Sophie noch, als Papa bereits die Haustür einen Spalt breit öffnet und sofort wieder zudonnert. Eine große haarige Monsterpfote klemmt in der Tür. „Ich brauche Hilfe!", schreit Papa hysterisch. Schnell kommen Leo, Sophie und Mama angelaufen. Gemeinsam versuchen sie, die gruselige Monsterpfote aus der Tür zu drücken. Sie schieben mit vereinter Kraft, bis huiii der Wind wieder mächtig zu stürmen beginnt. Das Haus hebt ab, die Monsterpfote wird endlich hinausgestoßen, das Monster stürzt zu Boden, die Tür schlägt zu und die ganze Familie fällt rücklings auf den Fußboden. Puh! Das wäre geschafft. Obwohl noch immer ein Stück Karottennase in der Tür steckt, geht die Reise unaufhaltsam weiter.
Langsam haben alle die Nase voll. Sophie runzelt nachdenklich die Stirn. „Wir brauchen einen Plan. Der Wind muss sich drehen, damit er uns wieder nach Hause bläst“, stellt sie fachmännisch fest. Schon verschwindet sie auf den Dachboden.
Leos, Papas und Mamas Augen formen sich zu Fragezeichen. „Was willst du denn damit?“, fragt Mama skeptisch, als ihre Tochter zwei Windböen später mit einem Seil in der Hand zurückkommt.
„Jetzt weiß ich mal, wo es lang geht!“, triumphiert Sophie. Und dann geht es zur Sache. Gemeinsam werfen sie das Seil mit orkanverdächtiger Kraft aus dem Fenster, fangen den stürmenden Wind ein und drehen ihn zack! mit Schwung herum.
„Es funktioniert!", ruft Papa glücklich. Alle sind froh, dass der starke Wind sie ohne weitere Zwischenlandungen heimwärts trägt.
Damit endet eine außergewöhnliche Reise, die in der Sturmgasse 8 ihre Spuren hinterlässt. So kann sie niemals in Vergessenheit geraten. Und für Sophie steht nun ein für alle Mal fest: Mama weiß nicht alles!
 



 
Oben Unten