Surreale Kurzgeschichte...

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Surreale Kapern
(Carola E. Thiele 1999)
Wieso muss das gelbgefiederte Huhn, das auf der Strasse im Schneesturm umherirrt, unbedingt im Hühnerstall sein. Ebenso könnte es bei Frau Brotsam im Kochtopf vor sich hin köcheln, mit Lorbeerblättern und so, um dann später ein Hühnerfrikassee mit Kapern zu werden. Aber Frau Brotsam sitzt dick eingemummelt auf ihrer geschützten Veranda, in dem Schaukelstuhl, der immer knarrt, wenn der Wind aus dem Norden kommt. Die meisten wissen nicht, dass sie noch jungfräulich ist und nie verheiratet war. Auch ihrem nicht vorhandenen Sohn hatte sie ihre Jungfräulichkeit nie offenbart. Natürlich würde sie sich freuen, wenn er heute endlich von den Vorlesungen aus der Uni käme. Dann würde sie das kalte Alleinsein vergessen. Er könnte das Zimmer im Nordteil malern und sie würde ihm Bratkartoffeln mit Speck machen, so wie er sie am liebsten mochte. Aber mit seinen 23 Jahren hat er anderes zu tun, als sich um seine arme Mutter zu sorgen, die nicht mal dafür gesorgt hatte, dass er existiert.
Trotzdem....hätte sie gewusst, dass ihre Schwiegertochter mit Enkeln nach Berlin in die Goethestraße zieht, wäre sie vor 23 Jahren öfter ins Café-Gotheeck gegangen. Sie hätte auch ihren Mann angesprochen, ob er irgendwann Zeit hat das Dachrinnengitter sauberzumachen. Vielleicht heute, wenn das Wetter danach ist. Oder am Wochenende, wenn er zu Hause ist. Denn nach dem Mittagessen setzte er sich doch sowieso nicht in den Schaukelstuhl, weil dieser immer knarrt, wenn der Wind aus dem Norden kommt. Er ist eben kein Mittagsschläfer, deswegen sitzt er jetzt auch hier im Café-Gotheeck und trinkt heisse Schokolade. Er sucht keinen Kontakt, obwohl ihm die Frau mit den schönen dunklen Augen und dem verträumten Mund schon gefällt. Also sitzt er auf seinem Lieblingsplatz am Fenster neben der Eingangstür und merkt nicht einmal wie er angestarrt wird. Nicht so offensichtlich, aber doch eindeutig. Seine blaugrünen Augen schauen oft verträumt aus dem Fenster, wo die ersten trocknen Schneeflocken die Strasse bedecken und vom Nordwind immer wieder angehoben in die Hausecken gewirbelt werden. Eigentlich viel zu kalt für diese Jahreszeit, aber Frau Brotsam mag diese grauen Tage. Vorausgesetzt sie sitzt im Café-Gotheeck... im Warmen. Gegenüber der Eingangstür, so dass sie ihren Mann im Visier hat. Biertrinker ist er nicht, wahrscheinlich Bäcker von Beruf. Mit seinen struppigen blonden Haaren und seinem markanten Gesicht sieht er aus, als ob er immer genau wüsste was er will. Sein Blick hellt sich auf, als er seine Schwiegertochter mit ihren drei Kindern in die Goethestraße einbiegen sieht, zerzaust und gegen den Wind kämpfend. Geistesabwesend krault er dem gelbgefiederten Huhn den Hals, während das Huhn nach seinem anstrengendem Tag leise und zufrieden vor sich hin gackert.....die dritte heiße Schokolade kommt und lenkt seinen Blick auf den immer leeren Aschenbecher. Normal in einem Nichtrauchercafe und natürlich sehr angenehm. Vor allem, wenn er nach Hause kommt und die Jacke am nächsten Tag nicht total verqualmt stinkt, bevor er zur Arbeit geht. Er kann nicht immer davon ausgehen, dass seine Frau daran denkt, sie zu lüften. Zumal er ja gar keine Frau hat. Irgendwie hatte er es nie geschafft, die Frau mit den schönen dunklen Augen ihm gegenüber, anzusprechen. Und so hat er auch nie geheiratet und ist immer noch Junggeselle. Zwar nicht unglücklich, aber alleine. Dennoch wäre er glücklicher, wenn er 3 Enkelkinder hätte. Mit denen könnte er seine neue Eisenbahnplatte ausprobieren, aber jetzt ist es ja zu kalt, und wenn der Nordwind bläst bekommt er den Schuppen kaum warm. An solchen Tagen würde er lieber die Dachrinne saubermachen und sich dann richtig kernig fühlen, weil im das Wetter nichts anhaben konnte. Zumeist ist seine Frau jedoch schneller und hat solche Arbeiten schon erledigt, bevor er überhaupt daran denken konnte. Dann geht er doch lieber vorher noch eine Tasse heiße Schokolade im Cafe-Goetheeck trinken und denkt über Hausarbeiten nach. Eigentlich ist Kinderzimmer malern eine gute Hausarbeit, aber sein Sohn hatte nie ein Zimmer, welches er als Vater hätte malern können. Außerdem würde sich sein Sohn dann wieder beschweren, dass er mit seinen 23 Jahren sein Zimmer inzwischen alleine renoviert. Dass es schlimm genug sei, von dem Geld seiner Eltern das Studium zu bezahlen.... und er solche Arbeiten also selber machen möchte. Hätte das mit dem Minijob als Bäcker geklappt, würde er nicht auf seine Eltern angewiesen sein und er hätte vielleicht schon eine Frau und 3 Kinder. Und dann....gerade an solchen Tagen wie diesen, würde er bei seinen Eltern sein und mit seinem Vater Dachrinnen sauber machen oder so,... oder er würde den Schaukelstuhl, der immer knarrt wenn der Nordwind bläst, ölen. Vielleicht wäre auch noch eine Portion Bratkartoffeln mit Speck vom Vortag für ihn da, und während sie zum Abendbrot Frikassee essen, könnte er seinen Eltern offenbaren, dass er in 2 Jahren, wenn er mit dem Studium fertig ist, vorhat zu heiraten. Er würde erzählen, das seine 3 Kinder sich gerade im Schuppen verstecken und heimlich mit Opas neuer Eisenbahn spielen. Die frisch gebackene, dreifache Oma würde sofort ins Café-Gotheeck eilen und endlich ihren Mann ansprechen. Während dieser zu der Frau mit den schönen dunklen Augen am Tisch gegenüber geht, sich vorstellt und sie darüber ins Gespräch kommen, welchen Ursprung sein Name haben könnte. Und während sie zu dem Schluss kommen, dass sie wahrscheinlich Bäckersleut waren und vor 200 Jahren Brotsamen hießen, geht dann die Tür auf und den beiden bläst der Nordwind die trockenen Schneeflocken ins Gesicht. Zerzaust kommt eine ziemlich bekannt aussehende Frau mit 3 Kindern an ihren Tisch, um Oma und Opa abzuholen. Während einer der Enkel pflichtbewusst Kapern auf den Tisch stellt und ein gelbes Huhn mit einem entsetzten Gackern in den Schneesturm eilt....kommt die vierte heiße Schokolade an den unbesetzten Tisch und der leere Schaukelstuhl knarrt.
 

Ji Rina

Mitglied
Hallo Carola,
Herzlich willkommen auf der leselupe!
Das ist ein verrückter Text! Interessant wie alles auseinanderfliesst, sich irgendwie zusammen findet und wieder auseinandergeht… ;)Aber irgendwann habe ich dann doch den Faden verloren und wusste nicht mehr ob ich nun im Café Gotheek war, beim gelben Huhn, oder in der Goethestraße….wer wessen Mann, Frau, Schwiegermutter…Hühnerfrikassee…;)
Ich könnte mir den Text ein wenig abgedämpfter gut vorstellen, also so, dass der Leser doch noch an der Stange bleiben kann. (Nur meine Meinung).
Auf jeden fall, gut geschrieben!
Gruss, Ji
(Deine Bilder sind absolute klasse!)
 
Hey, vielen Dank für Deine Meinung. Ich kann ihn nicht ändern...für mich ist er richtig so....surrealistisch eben. Außer die Formatierung hätte ich meiner Meinung nach anders gestalten müssen. Ich freue mich jedoch über Deine Meinung und Ratschläge. Das Dir meine Bilder gefallen freut mich auch sehr.
Lieber Gruß Carola:)
 

Ji Rina

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Carola schrieb:
"Für mich ist er richtig so...."

Absolut. Wir können nur so schreiben, wie wir es für richtig halten - ;)
Schönen Gruss,
Ji
 

YolliMate

Mitglied
Ich mag deinen schreibstil total, nicht zu ausgeschmückt, simpel aber doch immer die passenden worte wies mir scheint, danke!
 

ChinoNF

Mitglied
Hallo Carola,

toller Text, der mich in die Geschichte hineingezogen hat. Eine surreale oder auch paradoxe Überraschung jagt die nächste, jedoch gelingt es Dir, das Ganze nicht zu verwirrend werden zu lassen, sondern es bleibt für mich als Leser immer noch "leicht" genug formuliert um dabeizubleiben.

Du formulierst sehr interessant, Kombinationen wie "...das kalte Alleinsein..." finde ich extrem gelungen. Und davon bringst Du gleich mehrere...

Ja, das Thema mit den "Formatierungen" finde ich richtig, ich denke, Du könntest die Lesbarkeit erhöhen, indem Du mehr mit Absätzen arbeitest.

Ich habe Deine Story mit viel Vergnügen gelesen!

LG
ChinoNF
 
Hallo ChinoNF, lieben Dank für Deine detaillierte Beschreibung Deines Eindruckes. Geht runter wie Öl:). Bin jedoch nicht nicht mehr unbedingt der Schreiber...habe mich der bildnerischen Kunst verschrieben.
 



 
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