Tag 1

Kadira

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Das Vermächtnis der Raben
© Christina Kerkhoff​

Tag 1:

Dieser Dezember war ein merkwürdiger Monat, entschied Karl, als er sein Fahrrad über die kleine Brücke schob. Und nicht nur weil es noch so warm wie im Sommer war, fast noch wärmer.

Er ignorierte den Raben, der schon seit Tagen versuchte seine Aufmerksamkeit zu erhaschen, und folgte dem Strom der Steine, deren Existenz sich niemand erklären konnte, die aber unwiderruflich mit der Geschichte der Gegend verbunden waren.

"Du wirst mich nicht für immer ignorieren können, ich hoffe das ist dir klar", hörte er das Krächzen des Rabens neben sich, gerade als Karl genau das versuchte. Er scheuchte ihn mit einer Handbewegung weg, aber die Ruhe hielt nicht lange an, und der Rabe flog aus Rache so dicht an Karl vorbei, dass er ihn mit seinem Flügel am Kopf traf.

Karl wunderte sich, ob man das wohl das Gegenstück zur Kopfnuss bei Vögeln nennen konnte. Eine Flügelnuss, vielleicht.

"Das war äußerst unhöflich. Sei froh, dass mir aufgetragen wurde, dir etwas Freiraum zu lassen, zumindest bis du dich erinnerst. Solch ein Benehmen passt überhaupt nicht zu jemandem deines Standes. Hat dir das deine Mutter nicht beigebracht?"

Karls Griff um den Lenker seines Fahrrades verstärkte sich, bis seine Knöchel weiß hervorstachen. Raben sprachen nicht. Er bildete sich das alles nur ein. Es konnte gar nicht anders sein. Abgesehen davon hatte er weiß Gott schon genug Probleme, auch ohne dass er über redende Tiere nachdachte.

Gerade erst hatte er die letzte Mathearbeit des Semesters in den Sand gesetzt, und es würde seinem eh schon angeschlagenen Ruf sicherlich sehr förderlich sein, wenn sich herumsprach, dass er seinen eigenen tierischen Verfolger hatte und sich einbildete, dass dieser auch noch mit ihm redete. Er würde sein Gesicht nie wieder in der Öffentlichkeit zeigen können, ganz besonders nicht in der Schule, vor allem nicht mit Leuten wie Mark und Peter, deren einziger Lebensinhalt darin zu bestehen schien, Karl das Leben so schwer wie nur irgend möglich zu machen.

Er wäre überall unten durch, wenn sich das rum sprach, sogar bei den anderen, die sein Schicksal teilten. Und seine Mutter würde ihn mit Sicherheit erstmal zum Arzt schleppen, um seinen Kopf untersuchen zu lassen.

"Dessen wäre ich mir gar nicht mal so sicher. Wir sind sehr ehrerbietige Tiere, weißt du, auch wenn du das jetzt vielleicht noch nicht sehen kannst", sagte der Rabe, und er klang beleidigt.

-- Oder er würde beleidigt klingen, wenn er denn tatsächlich reden würde, was er aber natürlich nicht tat, denn Karl bildete sich das Ganze ja nur ein. --

Das Gedankenlesen schien allerdings neu, und Karl sah den Raben kritisch von der Seite an. Er war sich sicher, dass er nichts von all dem laut gesagt hatte.

"Was?", fragte der Vogel ihn, aber bevor Karl auch nur in irgendeiner Weise reagieren konnte, stolperte er über einen Stein, der hinterlistig aus dem Boden hervorragte. Verzweifelt versuchte er noch das Übelste zu verhindern und sein Gleichgewicht wieder zu erlangen, aber es war vergeblich.

Das Rad rutschte ihm aus den Händen und er landete mit einem unangenehmen Knall auf den steinigen Boden. Bevor er nach seinen Fahrrad greifen konnte, rollte es schon den Hügel -- Richtung Friedhof -- hinunter.

"Verdammter Mist!", fluchte er, und schlug mit der Hand auf dem Boden. "Das ist alles nur deine Schuld!", fuhr er den Raben an, der sich neben ihn auf dem Boden setzte.

"Mit allem Respekt, aber es ist wohl nicht meine Schuld, wenn du nicht richtig laufen kannst. Allerdings", sagte der Rabe und begutachtete Karl kritisch (was natürlich nicht sein konnte, genauso wenig wie das Sprechen), "frage ich mich langsam, ob wir uns nicht doch geirrt haben. Du wirkst nicht gerade wie jemand, der die Macht des Auserwählten hat."

Karl sah den Vogel an, und schüttelte dann seinen Kopf. "Das kann alles nicht wahr sein. Ich verliere wohl wirklich langsam den Verstand." Vielleicht hatte seine Mutter doch Recht, und er sollte mal etwas weniger Computer spielen und schlechte Filme gucken. Es schien ihm nicht gut zu tun.

"Ganz im Gegenteil, du erwachst nur langsam. Obwohl, ich hab mir sagen lassen, dass es dem wohl ähnlich sein kann, vor allem wenn man dagegen ankämpft", erklärte der Rabe ihm, bevor er sich auf Karls Schulter niederließ, und an seinen Haaren zupfte, nicht zu vorsichtig, aber doch nicht so, dass es wehtat.

"Ach, und wer hat dir das gesagt? Hat dir das vielleicht der Wind zugeflüstert?", fragte Karl wütend, und schlug mit der Hand nach dem Tier.

Der Rabe krächzte in Unmut und ließ sich dann auf Karls Kopf nieder. Seine Krallen verhedderten sich in dem eh schon wildem Mob dunkler Haare, bis Karl sich sicher war, dass er mindestens ein drittel davon verlieren würde, sobald er wegflog. "Autsch!", sagte er. "Bist du wahnsinnig?"

"Nicht ganz, aber du bist äußerst dickköpfig. Und zu deiner Information, es war dein Vater, der es mir gesagt hat", sagte der Vogel bevor er sich in die Lüfte erhob -- gemeinsam mit so einigen von Karls Haaren.

Nun war es offensichtlich. Karl war dabei den Verstand zu verlieren. "Mein Vater ist tot!", rief er dem Vogel hinter her.

"Das ist das, was sie dich glauben machen wollen", sagte der Rabe. "Bis später", fügte er dann beiläufig hinzu, bevor er sich in die Lüfte schwang und hinter einer Wolke verschwand.

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