Tag 11

Kadira

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Tag 11:

Als Karl die Augen öffnete war es dunkel und ein Blick auf seinen Wecker zeigte ihm, dass es gerade 2 Uhr morgens war. Trotzdem war er nicht müde. Im Gegenteil. Er fühlte sich so wach wie noch nie zuvor. Es war nicht nur ein Wachsein, sondern eine Klarheit, die sich über seine Sinne gelegt hatte, und ihn jetzt wach hielt.

Als er die Holztreppe hinunterging -- sehr darauf bedacht an der rechten Seite zu bleiben, wo die Stufen nicht knackten -- hörte er die aufgeregte Stimme seiner Mutter am Telefon.

"Warum macht ihr das. Wir haben das nicht verdient."

"Es interessiert mich nicht! Weißt du was heute war? Er kam zu mir und hat mich gefragt, was mit ihm passiert. Ihr habt das gemacht, oder?"

"Ruf deine Schergen, deine Vögeln und was immer ihr sonst noch auf ihn angesetzt habt zurück, und lasst uns endlich in Ruhe!"

"Es kümmert mich nicht, Bertram. Die anderen können kaum gefährlicher sein, als ihr es seid", hörte Karl noch, als er leise die Türe aufmachte, gerade weit genug, dass er durchschlüpfen konnte.

Die Kälte der Steinstufe brannte sich beinahe in seine Fußsohlen, aber davon ließ er sich nicht beirren.

Komm zu uns.

Er schloss die Augen, als er die Stimme hörte. Sie wusch über ihn und legte sich über seine Sinne, wickelte ihn sicher ein. Jeder Zweifel der sich in ihm regte, wurde beinahe sofort erstickt, wurde mit einem Gefühl von Sicherheit überdeckt und außer Gefecht gesetzt.

Es gab keine Gefahr. Er war vollkommen sicher. Er musste nur der Stimme folgen.

Und das tat er. Seine Schritte waren sicher, ohne dass er wirklich auf den Weg achtete, als er die Brücke überquerte, am Friedhof vorbeiging und letztendlich die Steine erreichte.

"Das hast du gut gemacht", hörte er eine sanfte, tiefe Stimme. "Komm näher."

Karl gehorchte, bis er vor einem Mann zum stehen kam. Er war groß. Viel größer als Karl, und die Hälfte seines Gesichtes schien von einem Vollbart bedeckt zu sein. Karl zögerte, auf einmal gar nicht mehr so sicher, ob wirklich alles in Ordnung war, oder was er hier überhaupt machte, warum er hier war.

Es ist alles in Ordnung. Du bist sicher. Du willst hier sein, bei uns.

Karl fühlte, wie er nickte. Richtig. Es war alles in Ordnung. Er war aus freiem Willen hier, weil her hier sein wollte, und so zuckte er noch nicht einmal zusammen, als der Riese ihm eine seiner Pranken auf die Schulter legte und ihn auf eine der flach liegenden Steinplatten zu steuerte, die wie ein Altar aufgebaut waren.

"Leg dich hin, Karl. Ruh dich etwas aus. Du hast heute noch eine lange Reise vor dir", sagte er und drückte Karl vorsichtig hinunter.

Karl zögerte nicht der Aufforderung nachzukommen. Es machte Sinn. Er ging auf eine Reise, und dafür musste er Kraft sparen. Er wusste zwar nicht genau auf welche Reise, aber --

-- das macht auch nichts. Wir wissen Bescheid. Du kannst uns vertrauen.

Richtig. Sie wussten es. Und bald würde er es auch wissen. Das war momentan gut genug für ihn. Er schloss seine Augen.

"Errichtet die Blockade", hörte Karl von rechts, gefolgt von: "Es ist so einfach, so lange sie noch in dieser Phase sind. Sie sind so empfänglich. Ich weiß gar nicht, warum er dir solche Probleme bereitet hat, Hagen. Er ist fromm wie ein Lamm. Bist wohl jetzt schon mit kleinen Kindern überfordert."

"Ja, ja", murrte eine Stimme, die Karl nur allzu bekannt vorkam. Melanies Vater. Aber das konnte unmöglich sein, oder? "Das sagt sich jetzt so einfach. Du warst ja nicht dabei."

"Schwierig wird es erst später, wenn ihre Kräfte völlig erwacht sind. Ich frag mich nur, wo sein Wachhund hin ist", sagte die andere Stimme wieder, und Karl konnte ihn aus den Augenwinkeln heraus das erste Mal sehen. Der Mann war kleiner und hatte feuerrote Haare. Seine Augen jedoch schienen schwarz, als er sie über Karl gleiten ließ. Um seine Beine herum, strich ein Fuchs, dessen Fellfarbe sich der Haarfarbe des Mannes anzupassen schien.

"Wahrscheinlich ein anderer Auftrag. Wir sollten dafür dankbar sein. Es ist entweder jetzt oder gar nicht mehr. Noch können wir es schaffen. Wenn wir warten, wird es zu spät sein. Dann hilft keine Illusion oder Manipulation mehr", wusch die tiefe Stimme des Riesen über Karl. In seiner jetzigen Position klang er fast wie ein alter, grimmiger Seebär.

Über sich hörte Karl eine Eule rufen.

Die Steinplatte begann sich unangenehm in Karls Rücken zu bohren und irgendetwas nagte an seinem Unterbewusstsein, versuchte seine Aufmerksamkeit zu erregen. Etwas war merkwürdig hier. Er sollte vielleicht doch nicht hier sein. Seine Mutter machte sich mit Sicherheit sorgen. Er hätte ihr Bescheid geben sollen.

Als er sich bewegte, legte sich eine kühle Hand auf seiner Stirn und verwischte den Zweifel. Dann eine andere Stimme, tief und beruhigend. "Gib ihm das zu trinken."

Er öffnete seine Augen, versuchte es auf jeden Fall, aber seine Augenlieder schienen mit Blei gefüllt zu sein, genau wie der Rest seines Körpers. Er gab dem Druck von Händen nach, die ihn nach unten drückten. Die Bewegung war begleitet von einem metallischen, beinahe melodischen Klirren. "Bleib liegen. Ruh dich aus. Du hast es verdient." Die Stimme war sanft, beinahe hypnotisch, und irgendwie bekannt. Definitiv weiblich. "Trink. Danach wirst du dich besser fühlen."

Karl fühlte wie etwas Hartes gegen seine Lippen presste. Als er dem Druck nachgab, füllte angenehme Kühle seinen Mund. Es fühlte sich gut an, irgendwie richtig, also schluckte er.

Er ignorierte das gedämpfte Lachen über seinem Kopf, als das Getränk seine Kehle hinunter lief.

"Denkst du das reicht?"

"Es sollte genug sein."

"Du hast jetzt eine wichtige Aufgabe zu erfüllen", sagte die gleiche Stimme von zuvor. "Du willst es machen, oder? Du willst endlich verstehen, was mit dir passiert, nicht?"

Karl nickte. Ja, das wollte er wirklich gerne. Er wollte verstehen, alles, am meisten aber sich selber.

"Du hast ihn getroffen, oder?" Es war die Stimme des Riesen.

"Wen?" Karls Stimme klang rau, als wenn er sie sehr lange nicht mehr benutzt hatte.

"Den Mann. Er besucht dich in deinen Träumen. Er sagt er ist dein Vater, aber es ist eine Lüge. Er spielt nur mit dir. Willst du die Wahrheit, die man dir vorenthält? Er, deine Mutter, alle?"

Karl nickte schwach. Er hatte es gewusst. Sie alle logen ihn nur an.

"Würdest du alles dafür geben?"

Karl nickte noch einmal.

"Wirklich alles? Auch dein Blut?"

Er zögerte. In seinem Gehirn schrillte eine Alarmglocke. Sein Blut? Warum sollten sie es brauchen?

"Die Wahrheit kann nur mit deinem Blut besiegelt werden. Bist du bereit dein Blut mit dem der Alten zu vermischen? Nur sie können dir die Wahrheit sagen."

"Der Alten?", hörte er sich fragen, seine Stimme schwach, kaum hörbar. Oder vielleicht fragte er auch nicht wirklich, sondern nur in seinem Kopf. Es machte nichts. Er wusste, sie würden ihn verstehen, wer immer sie waren.

"Mit dem der Alten, die hier ebenfalls die Wahrheit gesucht und gefunden haben", erklärte der Riese ihm geduldig. "Sie haben ihr Blut mit den alten Steinen und der Mutter von allem vermischt, mit der Erde. Ihr Blut wurde eins mit ihnen."

Karl zögerte und versuchte sich aufzusetzen, nur im zu erkennen, dass er es nicht konnte. Er konnte weder seine Arme noch seine Beine bewegen, und sogar durch seinen benebelten Verstand, erkannte er, dass dies die Erklärung für das metallische Geräusch von zuvor war. Man hatte ihn angekettet.

"Nein", brachte er heraus, wütend und erschrocken zu gleich. Hier stimmte nicht nur irgendetwas nicht, hier stimmte gar nichts. Alles lief falsch. Er sollte nicht hier sein. Er sollte zu Hause sein, in seinem Bett!

Karl wand sich ihn den Fesseln, versuchte ihnen zu entkommen.

"Es funktioniert nicht. Er ist zu wach." Da war ein leichter Anflug von Panik in der Stimme.

"Halt deine Klappe, Hagen. Wenn du nicht ruhig bleiben kannst, verschwinde", die Stimme des anderen Mannes, der mit dem Fuchs, erkannte Karl und fühlte sich überhaupt nicht beruhigt.

"Shh, bleib ruhig. Es ist alles in Ordnung. Wir wollen nur dein Bestes", hörte er die Frau, und da war wieder die sanfte Berührung an seiner Stirn, gefolgt von dem zwingenden Verlangen sich einfach hinzugeben, einfach alles mit sich machen zu lassen.

Langsam entspannte er sich wieder.

"Dein Blut, wirst du es geben?"

Seine Kehle war trocken und seine Lippen fühlten sich so an, als wäre er stundenlang durch die Sonne gelaufen. Er wollte ja sagen, und sein Kopf deutete ein Nicken an, aber aus seiner Kehle kam ein raues "Nein." Nur unsicher, als ob er selber nicht überzeugt war, dass dies die richtige Antwort war. Die Ketten klirrten, als er sich versuchte zu bewegen.

"Hagen hat Recht. Das wird so nicht funktionieren. Wir haben nicht mehr viel Zeit." Er erkannte die Stimme von dem Mann mit dem Fuchs, auch wenn die Worte nur über ihn wuschen und keinerlei Sinn machten. "Es ist Zeit für Plan B."

Jemand hob seinen Kopf an, und da war wieder der Becher an seinem Mund. Karl versuchte seinen Kopf abzuwenden, aber er hatte keine Chance. "Trink. Es ist gut für dich." Und endlich gab er dem Druck nach, öffnete seinen Mund. Es war so angenehm kühl wie zuvor, aber diesmal glaubte er noch etwas anderes zu schmecken, etwas Bitteres. Er versuchte seinen Kopf zu schütteln, den Becher loszuwerden, aber er war zu schwach. Der Becher drückte gegen seine Lippen, und er hatte keine andere Wahl als zu schlucken.

"Trink, und du wirst die Wahrheit erkennen. Du wirst endlich wissen wer du bist. Alles was du kennst, dein ganzes bisheriges Leben, ist nicht mehr als eine Lüge. Du bist nicht Karl. Das denkst du nur, aber die Wahrheit wird dir offenbart werden. Wir werden sie dir geben, wenn du uns vertraust."

Nicht, dass er eine andere Wahl hatte, und so schluckte er. Er fühlte, wie sich die Bitterkeit des Getränkes in seinem Körper ausbreitete, sich mit seinem Blut vermischte und von ihm Besitz ergriff, sich über seinen Verstand legte, bis er nicht mehr klar denken konnte.

"Hör jetzt gut zu", beinahe hypnotisch. "Du bist die Zukunft der Welt. Die Anderen wollen, dass du die Welt zerstörst. Du sollst ihre ultimative Waffe sein. Aber wir wollen die Welt erhalten. Hilf uns. Hilf uns ihn zu zerstören und die Welt zu retten. Sag uns alles, was er dir gesagt hat und schließ dich uns an."

Sie lügen, Karl. Gib nicht auf. Hör nicht auf sie, sagte eine weitere Stimme, und er glaubte sie zu erkennen. Mehr als das. Karl glaubte wieder zu wissen, wer er selber war.

-- Fortgesetzt in 'Tag 12' --
 



 
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