Tag 15

Kadira

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Tag 15:

Endlich wieder Wochenende! Karl atmete erleichtert auf, als das schrille Klingeln der Glocke zum letzten Mal in dieser Woche sein Trommelfell malträtierte.

"Und vergesst nicht, bis Montag erwarte ich von euch eine fünfseitige Ausführung darüber, was ihr euch unter einem perfekten Weihnachtsfest vorstellt."

Sie sagte noch mehr, aber das ging in der allgemeinen Aufbruchsstimmung unter.

"Die hat doch einen ganz gewaltigen Knall. So kurz vor Weihnachten", sprach Martin das aus, was sie alle dachten. Thematisch passend oder nicht. Neun Tage vor Weihnachten, und die Schuster gab ihnen noch so eine Hausaufgabe. Das war einfach mies.

Natürlich hatte Karl noch ganz andere Gründe warum er keine Zeit für so einen Blödsinn hatte (und ganz ehrlich, was war wohl ein perfektes Weihnachten?), aber er bezweifelte ernsthaft, dass die Schuster Aussagen wie 'ich muss trainieren um meine Kräfte zu finden, mit denen ich dann einen eventuellen Weltuntergang verhindern kann' gelten lassen würde.

Also hatte auch er keine andere Wahl, als das noch irgendwo mit reinzuquetschen. Vielleicht heute nach dem Abendessen. Oder morgen irgendwann, aber Bertram hatte es sich in den Kopf gesetzt, dass dies das Wochenende war, in dem Karl den Durchbruch erreichen und bewusst auf seine Kräfte zugreifen können würde.

Nicht instinktiv wie das letzte Mal, weil sein Leben in direkter Gefahr war, sondern weil Karl sie benutzen wollte.

Karl konnte kaum glauben, dass das Ganze noch keine Woche her war. Seine Träume, dann die Anderen, die Drogen, und dann diese unbeschreibliche Kraft, gefolgt von tausenden von flüchtigen Erinnerungen, Bildern und Tönen, die einerseits seine waren, aber auch wieder nicht.

Er erinnerte sich an das Gespräch mit Bertram, als dieser versuchte hatte Karl alles zu erklären:

"Sein Geist steckt in dir, aber du bist nicht er. Du bist sein Nachkomme, ausgestattet mit allem, was er war. Du bist er, aber auch du selber. Wenn du nur eine Wiedergeburt wärst, könntest du direkt auf deine Kraft zurückgreifen und müsstest nicht alles mühevoll erlernen. Aber dir wurde noch eine viel größere Ehre zu teil, in das du seinen Platz hier auf Erden einnehmen darfst. Mit deiner Geburt wurdest du zum Schirmherr beider Welten, dieser hier, wie auch der Welt deines Vaters. Du bist das Letzte, was zwischen der endgültigen Zerstörung von allem steht. Nicht nur hier, sondern auch in der Welt deines Vaters. Was er damals nicht geschafft hat, kannst du erreichen. Es ist sein Wunsch gewesen, der dies möglich gemacht hat."

"Und wie ist das möglich? Ich mein, er ist tot, oder?"

Bertram lachte. "Er war ein Gott, Junge. Der mächtigste aller. Er war der Allvater. Für ihn gab es keine Grenzen, weder in Zeit noch Raum. Und der Tod ist auch eine sehr relative Angelegenheit"

"Zeitreisen? Wie in Doctor Who, nur ohne die TARDIS?" Hey, wenn Karl schon die Hauptfigur einer so fantastischen Geschichte sein sollte, konnte man es auch noch etwas würzen.

Bertram hatte Karl für einen Moment verwirrt angesehen, ein Gesichtsausdruck bei der eine seiner dicken Augenbrauen, meist die Linke, fast mit seinem dichten Haar verschmolz. "Ich hab keine Ahnung wer dein Doctor Who ist, aber ja, doch. Das ist zwar etwas sehr vereinfacht ausgedrückt, aber vielleicht kann man es Zeitreisen nennen. Irgendwie passt es."

"Aber würde er dann nicht irgendwie auffallen? Meine Mutter scheint ja nichts gemerkt zu haben."

Bertram seufzte und goss ihnen Tee nach. "Deine Mutter wollte es nicht wahrhaben. Und nach dem er ihr bewiesen hatte, wer er war und sie wusste was er von dir wollte, hat sie alles dran gesetzt dich davon fernzuhalten. Ich mein, sie ist schon etwas über vorsichtig wenn es zu dir kommt. Als wir hier hin gezogen sind und ich mich ihr vorgestellt habe, hat sie mir klar und deutlich gesagt, was passieren würde, wenn ich mich dir auch nur nähren würde. Und lass mich dir sagen, alles klang sehr unangenehm und äußerst schmerzvoll."

Karl grinste. "Yep, das ist meine Mom. Manchmal ist es doch etwas nervig, vor allem da ich wusste, dass sie mich anlügt."

"Vergiss nicht warum sie es getan hat. Sie wollte dich beschützen. Sie ist deine Mutter."

Karl nickte. "Aber am Ende konnte sie es nicht."

"Man kann seiner Bestimmung halt doch nicht entkommen. Man kann vielleicht die Zukunft beeinflussen und ihren Lauf ändern, aber nie sein eigenes Schicksal."

"Auch nicht wenn es da drinnen besteht einen Kampf zu führen, den man niemals gewollt hat, und der reichlich aussichtslos scheint?"

"Auch dann. Aber es ist nicht so aussichtslos wie es vielleicht jetzt aussieht. Nicht mit dir als Anführer, und nicht mit denen, die dir zur Seite stehen. Du hast alle Vorraussetzungen, um dein Ziel zu erreichen."

"Nicht meins. Das meines Vaters."

Und genau das war der Punkt, der Karl in den letzten Tagen zu schaffen gemacht hatte. Karl mochte seine Kräfte (wenn sie denn mal so funktionierten, wie sie sollten, und er nicht versehentlich einen Baum abbrannte), aber was wollte er vom Leben? Es war nicht sein Kampf. Er wollte niemals der Beschützer von irgendetwas sein, ganz bestimmt nicht der Erde.

Das Erbe war ihm doch etwas viel, und es war nicht wirklich fair, dass er es tragen sollte. Und im Gegensatz zum richtigen Leben, konnte er es noch nicht mal ablehnen.

"Alles in Ordnung, Karl?", riss ihn eine Stimme aus seinen Gedanken. Desorientiert sah er auf. Melanie stand vor ihm und sah in besorgt an.

Er nickte schnell. "Ich hab nur nachgedacht."

Melanie sah sich verstohlen um. "Hör mal, können wir irgendwo reden?", fragte sie dann leise. Ihre Augen weiteten sich, als Sven sich ihnen näherte. "Alleine?"

Wäre Melanie nicht die Tochter ihres Vaters, und hätte Karl nicht das letzte Wochenende so lebhaft in Erinnerung, hätte er über ihren Auftritt gelacht. So zwang er sich zu einem Lächeln. "Ich wüsste nicht worüber."

"Karl", sagte sie beschwörend. "Ich weiß nicht was ihr mit mir und meinem Vater gemacht habt, dass er alles vergessen hat, aber ich erinnere mich wieder."

Das sollte nicht sein. Karl hatte zwar noch keine Ahnung, wie das mit dem Vergessen genau funktionierte, aber er wusste doch so viel, dass die Leute sich anschließend nicht mehr erinnern sollten. Nicht eher, bis er es wieder erlaubte zumindest, und er war sich ganz sicher, dass er sich das nicht gewünscht hatte, noch nicht einmal unterbewusst.

"Ich weiß wieder von dem Treffen, von den Steinen und dem Blut, von der Bestimmung. Ich hab gesehen, was du getan hast."

Karl stand auf als Sven sich ihnen näherte, seine Schwester direkt hinter ihm. Die Augen der Zwillinge brannten sich in Melanies Rücken. Hinter ihnen stand ein Junge, der zwar auch auf ihrer Schule war, aber mindestens zwei Klassen über ihnen. "Dann solltest du auch wissen, dass du und dein Vater euch von mir fern halten solltet. Denn solltet ihr noch mal was versuchen, war das nur ein Vorspiel. Beim nächsten Mal bleibt es nicht nur beim Vergessen."

Er griff seinen Rucksack und stopfte achtlos seine Federmappe rein. "Aber darum geht es doch. Ich will nichts versuchen. Ich will einfach nur mit dir reden."

"Ich halte das für eine ganz schlechte Idee", sagte Karl. "Wir stehen auf etwas zu unterschiedlichen Seiten dafür."

"Gibt es Probleme?", fragte Sven, der sie endlich erreicht hatte. Er baute sich so auf, dass er halb zwischen Melanie und Karl stand, fast wie eine lebendige Schutzmauer.

Karl schüttelte den Kopf. "Wir waren gerade fertig."

"Karl!"

Er ignorierte Melanies Flehen und drehte sich um. "Lass uns gehen. Wir haben noch viel vor."

Sven nickte. "Ich muss dir auch noch jemand vorstellen. Das ist Tom. Er ist in der neunten."

Tom sah ihn strahlend an. Sein Lächeln war so breit und weiß, als wäre er gerade aus einer Zahnpastawerbung gesprungen. "Schön dich endlich kennen zu lernen, Karl! Es ist mir eine unheimliche Ehre."

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