Tag 2

Kadira

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Tag 2:

"Du hast noch eine halbe Stunde und musst noch frühstücken ", hörte Karl seine Mutter durch das Treppenhaus rufen. Er stöhnte. Konnte sie ihn nicht morgens einmal in Ruhe lassen? Sie verstand einfach nicht, dass er kein Kind mehr war. Immerhin näherte er sich gerade seinem 14 Geburtstag, und das konnte man wohl nicht mehr als Kind bezeichnen.

Trotzdem, jeden Morgen das gleiche Theater.

Karl zog eine Grimasse, als er sich mit kaltem Wasser eine Katzenwäsche unterzog, die wahrscheinlich gerade so vor den Katzenaugen seiner Mutter bestehen würde, putzte sich die Zähne, schmiss sich in seine älteste Jeans.

"Wie weit bist du? Dein Tee wird kalt!"

"Sekunde noch!"

Karl fluchte leise vor sich hin, als er sich durch den Berg von Büchern und Papieren wühlte, die seinen Schreibtisch und das drum herum bedeckten. Irgendwo musste das verdammte Geschichtsbuch doch sein!

Echt, an manchen morgen ging doch alles schief. Dieser war das beste Beispiel dafür. Er gab der letzten Nacht daran die Schuld. Und dem verfluchten Raben, der ihm gestern so übel zugesetzt hatte, Oder vielleicht war an dem auch der Kakao aus der Cafeteria schuld. Der hatte schon komisch geschmeckt.

Wahrscheinlich lag es einfach an der Kombination, die ihm diesen merkwürdigen Traum beschert hatte, in dem er von Raben (schon wieder diese verdammten Viecher! ) durch irgendwelche dunklen Wälder gejagt worden war, ohne das es ein Entkommen gab. Es war einer dieser Träume gewesen, aus denen man einfach nicht von alleine aufwachen konnte, egal wie sehr man es versuchte.

Ah, endlich! Da war das verdammte Buch ja! Karl packte es und stopfte es zu den anderen Sachen in seinen Rucksack. Er war die Treppe schon halb unten, als ihn die Stimme seiner Mutter wieder erreichte.

"Karl! Du hast nur noch fünfzehn Minuten", vorwurfsvoll, wie es nur eine Mutter konnte. Er zog eine Grimasse, bevor er sich dem Unvermeidlichen stellte. Nicht das irgendwas schlimm an der Situation war -- abgesehen von der Tatsache,, dass es noch viel zu früh war um gehetzt zu werden, und das er irgendwie im Gefühl hatte, dass dies nicht sein Tag war.

"Ah, da bist du ja endlich. Hast du gut geschlafen?"

"Ja, ja", grummelte er und erlaubte ihr sie auf die Wange zu küssen, bevor er sich an den Tisch setzte, einen Schluck Tee trank (der immer noch viel zu heiß war), und sein Brot -- Nutella -- herunter schlang.

"Hast du alles erledigt und eingepackt?"

Karl nickte zwischen zwei Bissen und noch mehr kleinen Schlückchen Tee. "'türlich", brachte er irgendwie noch halbwegs verständlich hervor, spülte dann den Rest seines Brotes hinunter und stand auf.

"Ich weiß schon was ich mache, Mama", sagte er ihr leicht vorwurfsvoll. "Ich bin kein Baby mehr."

"Aber ich noch immer deine Mutter. So, und jetzt mach dich fertig."

Es war wirklich immer das Gleiche und Karl fragte sich -- wieder einmal -- ob sie ihn irgendwann einmal als erwachsen sehen würde, oder ob er erst alt und grau dafür werden musste. Er konnte sich gut vorstellen, dass sie ihm noch so nachstellte, wenn er schon mit einem Gehstock vor sich hin schlurfte.

"Was ist so lustig?", fragte sie ihn, als er leise vor sich hinlachte.

Karl war sich nicht sicher, ob sie seinen Humor heute morgen verstehen konnte, also sagte er nur: "Nichts", und setzte dann noch hinzu: "Ich muss jetzt gehen. Bis später."

Er drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange, schnappte sich seinen Rucksack und war aus der Türe, bevor seine Mutter noch irgendetwas sagen konnte.


~·~·~·~


Nach den ersten beiden Stunden und seinem gelungenen Vortrag über die Herrscher im römischen Reich hatte sich Karls Laune erheblich gebessert, so weit, dass er sogar Marks "Ah da ist ja unser kleiner Streber wieder" in der Pause ignorieren konnte, sowie Peters Kreideangriff (der anstatt ihn Melanie getroffen hatte, die schräg vor ihm saß und die, soweit Karl es sah, es eh nicht besser verdient hatte).

Sport war wieder eine ganz andere Sache. Die Bälle schienen es wie immer auf ihn abgesehen zu haben, und noch nicht einmal das Tor, das er irgendwie geschafft hatte zu schießen, konnte seine Stimmung wirklich heben. Es half auch nicht, dass er fast bis zum Ende bei der Teamwahl noch immer auf der Bank saß.

Es war nichts neues, aber doch jedes Mal aufs Neue peinlich, egal wie sehr er Fußball verabscheute. Tatsächlich, würde er keine einzige Träne vergießen, wenn Fußball ab sofort weltweit verboten werden würde. Das hatte er an dem Tag entschieden, als er das erste Mal Fußball im Kindergarten gespielt hatte, und er glaubte nicht, dass sich seine Meinung jemals ändern würde. Außerdem gab es wohl viel interessanteres, als 22 Leuten zuzusehen, die einem Ball hinterher liefen.

Chemie war in Ordnung, zumindest bis zu dem Punkt, als er auf einmal lautes Krächzen vor dem Fenster hörte, und er eine Gruppe von Raben erkannt hätte, die sich alle um das Fenster drängten.

Noch nicht einmal das wäre so verstörend gewesen, wenn Karl nicht das Gefühl gehabt hätte, dass sie ihn alle anstarrten. Nur noch merkwürdiger als alle die kleinen schwarzen Augen auf sich gerichtet zu haben war die Tatsache, dass sie außer ihm keiner zu sehen schien. Zumindest zeigte keiner in seinem Kurs irgendeine Regung zu dem doch sehr merkwürdigen Schauspiel.

Als die Glocke um halb zwei endlich mit ihrem schrillen Klingeln das Wochenende einläutete, verließ Karl das Gebäude mit gemischten Gefühlen. Er hätte das Gebäude fast wieder betreten, als er sah, dass die Versammlung der Raben nur noch größer geworden war. Sie saßen überall auf den Bäumen verteilt auf dem Schulhof, und als er an ihnen vorbei ging, glaubte er einen Schwall von geflüsterten "Das ist er also? Der Auserwählte?" zu hören, gefolgt von noch mehr krächzen, welches wiederum unterbrochen wurden von: "Aber er sieht etwas schmächtig aus, nicht? Ist er sicher, dass er der richtige ist?"

Er gab sich große Mühe, sie genauso zu ignorieren, wie es alle anderen taten, oder zumindest fast alle, denn auf einer der Bänke konnte der Melanie sitzen sehen, die diese Ansammlung fasziniert ansah.

Als er an ihr vorbei ging und zielstrebig auf den Ausgang zu steuerte, stand sie auf und beeilte sich um an seine Seite zu kommen. Karl konnte nicht sagen, dass er darüber glücklich war. Melanie war immer unter den ersten, die ihn ärgerten, also versuchte er das gleiche, wie auch schon bei den Raben -- er ignorierte sie.

Leider hatte es nicht den gleichen Effekt wie bei den Vögeln. "Ist komisch, nicht?", fragte sie und ignorierte sein Schweigen komplett.

"Was?", fragte er nach einem Moment und versuchte noch nicht mal so zu tun, als hätte er Interesse an einem Gespräch mit ihr.

"Nah, die Raben. So viele auf einmal, und das im Winter."

Karl schwieg. "Komm, tu nicht so, als ob du sie nicht sehen könntest. Ich hab deine Reaktion in Chemie gesehen. Du warst der einzige, der sie außer mir gesehen hat. Noch nicht mal die alte Haberman hat irgendeine Reaktion gezeigt. Aber du schon. Hast du vielleicht Angst zuzugeben, dass du sie gesehen hast?"

Karl knurrte etwas von 'warum sollte ich', was Melanie als Einladung ansah weiter zu reden. "Ich schon. Deswegen hab ich auch nichts gesagt. Aber wenn du sie auch gesehen hast, können wir wenigstens beide verrückt sein", erklärte sie ihm mit einem breiten Grinsen während sie ihre braunen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammenband und mit ihm gemeinsam die Strasse entlangging.

Karl fragte sich, ob er sie vielleicht loswerden würde, wenn er ihr sagen würde, dass er erst gestern einen Raben am Hals hatte, der ihn die ganze Zeit zugetextet hat, und das Raben allgemein sehr redselig waren, vor allem wenn es um ihn ging.

Bevor er seine Theorie in die Tat umsetzen konnte, sagte Melanie: "Oh, da ist mein Vater. Hatte komplett vergessen, dass er mich heute abholen wollte. Aber wir müssen uns unbedingt weiter darüber unterhalten. Es ist ein faszinierendes Thema. Wusstest du zum Beispiel, dass Raben eine wichtige Rolle als Omen haben?"

Bevor Karl ihr antworten konnte, hatte sie die Strasse schon überquert. Sie winkte ihm noch zu und stieg dann in den alten Mercedes. Ihr Vater starrte Karl über den Rand seiner Metallbrille so intensiv an, dass Karl sich wie ein neu entdecktes Insekt fühlte.

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