Tag 21

Kadira

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Tag 21:

Wie abgemacht, ließ sie es dreimal klingeln, bevor sie wieder auflegte und dann noch mal anrief.

"Ist die Leitung sicher?"

"Ich bin in einer öffentlichen Telefonzelle. Viel sicherer geht es in unserem Fall wohl nicht mehr", sagte sie, ihr Ton leicht irritiert. Sie war nicht dumm. Als wenn sie dieses Gespräch von ihrem eigenen Telefon führen würde... "Und nein, es ist mir auch niemand gefolgt. Aber ich denke nicht, dass diese ganzen Vorsichtsmassnahmen nötig sind. Sie ahnen nichts."

"Du solltest sie niemals unterschätzen. Das hat schon so einigen alles gekostet", sagte Hagen Albrecht. Sie stöhnte innerlich. Es war nicht so, als wenn sie nicht all das schon hunderte von Malen besprochen hätten. "Was gibt es an Neuigkeiten?"

"Nicht viel. Unser Junge ist sehr vorsichtig. Er scheint stärker geworden zu sein, aber das war zu erwarten nach allem was passiert ist. Sein Blick geht einem durch Mark und Bein, aber er hat nichts gesagt."

"Und Melanie?" Wüsste sie es nicht besser, würde sie denken, dass so etwas wie Sorge durch seine eiserne Selbstkontrolle brach. Allerdings schien ihr das doch etwas merkwürdig, genau wie die Tatsache, dass Albrecht ein normales Familienleben haben sollte. Nun ja, so normal schien es ja doch nicht so sein, ansonsten wäre Melanie kein Thema.

Sie schüttelte den Kopf, bevor sie die Stirn gegen das kühle Glass presste. Sie konnte den Anfang einer Migräne fühlen. Genau das, was sie noch brauchte. "Tut mir. Von deiner Tochter habe ich nichts gesehen, und sie wurde auch keinmal erwähnt. Hätte ich das Thema angeschnitten, hätte ich mich verdächtig gemacht, deswegen habe ich es gelassen."

"Und wie kommst du mit Karl voran?"

"An den ist kaum ein rankommen. Er scheint nett zu sein, ist aber immer von mindestens einem seiner Schatten begleitet oder dem Alten. Da tut sich momentan überhaupt nichts."

Sie konnte sich die Gesichtszüge ihres Gesprächspartners gerade sehr gut vorstellen, wie sie sich in Unzufriedenheit verzogen. Aber das war ja kaum ihre Schuld. Sie konnte sich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Nicht, wenn sie nicht ihre Tarnung auffliegen lassen wollte.

"Vielleicht musst du dir einfach etwas mehr Mühe geben?", kam da auch schon der Vorschlag. Er hatte gut reden, wie sie alle. Sie riskierten hier nicht ihr Leben. Und sie hatte Karls Blick gesehen. Er mochte nur ein Junge sein, aber seine Kraft strahlte aus ihm heraus. Es war Macht und Weisheit, die nicht zu seinem Körper passten, und ganz sicher nichts Gutes für die versprachen, die sich gegen ihn wenden würden.

Bisher mochte zwar alles gut ausgegangen sein, aber alle bisherigen Konfrontationen waren entweder vor seinem Erwachen gewesen, oder seine Gegner waren einfach zu schwach, wie die beiden Jungen aus seiner Schule. Er war niemand, der seine Kraft auf solche Schwächlinge verschwenden würde. Aber das hieß nicht, dass er nicht anders konnte.

"Ich gebe mir so viel Mühe wie ich kann ohne meine Tarnung auffliegen zu lassen. Es würde wohl keiner davon profitieren, wenn sie herausfinden, wer ich wirklich bin, oder? Ganz besonders nicht deine Tochter. Ich ruf dich morgen wieder an", sagte sie und legte den Hörer auf bevor Albrecht antworten konnte.

Der Obdachlose der im Eingang von dem IKEA lag, hatte sich nicht gerührt, aber er gab leichte Schnarchtöne von sich. Das Geräusch schien beinahe beruhigend in der sonstigen Stille der Nacht.

Ihr lief ein leichtes Schaudern über den Rücken, als sie sich umsah, um festzustellen, ob sie immer noch alleine war. Vielleicht sollte sie sich ab morgen eine Telefonzelle suchen, die näher war. Vorsicht war gut, aber man konnte es auch übertreiben...

Sie wickelte den Mantel enger um sich und verschwand in der Nacht, ohne den schwarzen Raben auf der Telefonzelle gesehen zu haben.

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Munin saß noch immer auf Karls Schulter, als Bertram endlich hereinkam. "Sind wir dann fertig?", fragte das Tier ihn ungeduldig.

"Nein, haltet bitte noch beide im Auge. Nur um sicher zu gehen", sagte Karl ihm, während er Bertram mit einem Nicken sagte, dass er sich doch setzen soll. "Und schick die anderen ebenfalls raus. Wenn Melanie wirklich verschwunden ist, will ich wissen wo sie ist, und was sie macht. Vielleicht habe ich mich doch in ihr getäuscht."

"Oder es ist alles nur ein großer Trick", gab Munin zu bedenken.

"Mag sein, aber das wäre dann doch ein sehr großes Theaterstück, was sie extra für mich aufführen. Albrecht ist dessen nicht fähig, und unser spezieller Freund ist zu ungeduldig. Gute Arbeit", sagte er und strich dem Vogel vorsichtig über den Kopf. Munin dankte ihm mit einem kleinen Ohrenknabbern, bevor er von Karls Schulter flog, einen kurzen Abstecher auf den Tisch machte, wo er sich einen der Buttersternkekse schnappte, die Karls Mutter eben dorthin gestellt hatte, und auf und davon flog.

"Tee?", fragte Karl, wartete aber nicht auf eine Antwort, sondern goss Bertram einfach ein. "Du hattest übrigens recht. Wir haben einen Verräter in unserer Reihe."

"Glaube mir, dass ist einer der wenigen Momente, wo ich mich nicht darüber freue etwas vor dir erkannt zu haben."

Karls Lächeln war abwesend. "Ich weiß."

"Und was willst du jetzt machen? Dich unserem Freund persönlich annehmen bevor noch mehr Schaden entsteht?"

"Ich hab darüber nachgedacht, aber ich glaube nicht, dass es klug wäre. Viel mehr sollten wir alle anderen warnen und sie impfen nichts zu verraten. Stattdessen lassen wir falsche Informationen fließen, und versuchen gleichzeitig über sie an die anderen heranzukommen. Davon haben wir wohl mehr."

Bertram nickte. "Und du glaubst das funktioniert?"

"Falls nicht, kann ich mich der Sache immer noch persönlich annehmen, aber es ist wohl ein Versuch wert."

"Und Melanie? Munin hat vielleicht Recht."

"Vielleicht aber auch nicht. Und sie ist verschwunden. Sie war noch nicht mal in der Schule, seit ich das letzte Mal mit ihr gesprochen habe. Sollten wir Unrecht gehabt haben verdient sie eine zweite Chance und unsere Hilfe."

Bertram grinste ihn über den Rand seiner Tasse verschmitzt an. "Was?", fragte Karl.

"Ich frag mich nur, wer da aus dir redet. Der Bewahrer, oder der Mensch."

"Schließt das eine das andere aus? Ich dachte immer es geht nur beides zusammen", sagte Karl nach einem Augenblick und zwang sich nicht rot zu werden. Dann, bevor Bertram antworten konnte, lenkte er das Thema in sicherere Gefilde und fragte: "Wie lange glaubst du wird es noch dauern? Wie viel Zeit bleibt uns noch?"

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