Tag 23

Kadira

Mitglied
Tag 23:

"Hast du was gesehen?"

Tonya nippte an ihrem Kaffee. Sie sah verschlafen aus. Und schlecht gelaunt, wenn man nach ihrem säuerlichem Gesichtsausdruck ging. Offensichtlich war sie keine Morgenperson, aber das kümmerte Karl momentan nicht sonderlich.

"Mein Gott, lass mich doch erstmal wach werden. Schläfst du eigentlich nie?"

"Selten." Mittlerweile zumindest. Karl hatte keine Ahnung ob es auch Teil seines Erbes war, oder ob er einfach zu viel im Kopf hatte, aber mehr als drei, höchstens mal vier, Stunden Schlaf hatte er seit dieser einen Nacht bei den Steinen nicht mehr bekommen. Allerdings fühlte er sich auch nicht sonderlich müde, also brauchte er es wohl auch nicht.

"Also?"

"Was?"

Langsam ging sie Karl ernsthaft auf die Nerven. Irritiert setzte er sich gegenüber von Tonya auf den Stuhl. "Hast du was gesehen?"

"Ich sehe vieles."

"War da vielleicht auch irgendwas Nützliches bei?"

Tonya schloss für einen Augenblick die Augen und nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette. "Für jemanden von deinem Format bist du ziemlich ungeduldig."

"Es mag dir nicht aufgefallen sein, aber wir stehen etwas unter Zeitdruck. Das würdest du auch sehen, wenn du mal rausgehen würdest."

"Draußen schläft und träumt es sich aber schlecht. Vor allem bei dem Wetter."

"Legst du es echt drauf an mich wütend zu machen?"

"Ist das eine Drohung?", fragte Tonya gleichmütig.

"Es war eine Frage", sagte Karl mit scharfer Stimme. Er konnte fühlen, wie er gar nicht mal so langsam den letzten Rest seiner eh schon sehr strapazierten Geduld verlor.

"Nein." Tonya drückte die Zigarette in dem Metallaschenbecher aus.

"Gut, dann können wir ja vielleicht weitermachen."

"Du solltest echt mal was entspannen, Karl. Besonders da die anderen nicht viel weiter sind als wir. Offensichtlich hat dein alter Bekannter sie etwas unvorbereitet zurückgelassen. Sie wissen noch nicht einmal, wo sie ihre Leute finden sollen, noch ist ihre Intention und Ausstrahlung so klar, dass diese sie alleine finden könnten. Dein spezieller Freund, Albrecht, gerät ganz gewaltig ins schwitzen, und du scheinst ihm so einige interessante Albträume zu bereiten."

Karl nickte. "Gut." Es war sogar sehr gut, und nicht nur weil Albrecht es verdient hatte, sondern vor allem in Anbetracht dessen, dass es ihnen auch nicht viel besser ging. Immerhin fehlten ihnen auch noch zwei Leute, sogar drei, wenn man die "Unstimmigkeit" in ihrem Team betrachtete, aber so lange die anderen auch noch nicht komplett waren, war die Erde -- und somit sie alle -- noch sicher.

Die Jagd konnte erst beginnen, wenn wenigstens eine Gruppe vollständig war. Karl hoffte inbrünstig, dass sie selber die ersten sein würden. Nur mit den vereinten Kräften der Neun hatten sie eine Chance das Unheil zu verhindern. Und nur dann konnte es auch zum Entscheidungskampf kommen, der nur sie beide betraf und letztendlich über das Schicksal beider Welten entscheiden würde.

Aber er würde gewinnen. Er musste gewinnen. Es war sein Erbe. Mehr als das. Er musste die Welt schützen. Sie, und alles auf ihr. Und die andere Welt, denn keine konnte ohne die andere existieren. Das hatte Karl mittlerweile verstanden. Ohne diese Welt würde die Welt der Götter untergehen, und ohne die Welt der Götter würde auch diese Welt nicht lange überleben.

Es war nicht nur eine Frage des Glaubens, sondern viel mehr der kosmischen Balance. Erst vor einigen Tagen hatte er darüber eine lange Diskussion mit Hunin geführt (und hätte ihm jemand vor einem Monat gesagt, dass dies mit einem Raben möglich sei, hätte Karl ihn für verrückt erklärt).

"Karl?"

"Mh?", fragte Karl abwesend und bemühte sich wieder ins hier und jetzt zurückzufinden.

Tonya lächelte amüsiert. "Ich fragte gerade, ob es sonst noch etwas gibt, was du wissen willst."

"Kannst du nach einzelnen Personen in deinen Träumen suchen?", fragte Karl und versuchte sich unbeteiligt zu geben.

"Manchmal, wenn ihre Gedanken nicht zu verworren sind. Soll ich nach deiner Freundin Ausschau halten? Albrechts Tochter, oder?"

Karl nickte.

"Sie ist scheinbar einer der Gründe, warum unsere Freunde sich in einem solchen Chaos befinden. Sie haben Angst, dass sie sich gegen sie wendet. Offensichtlich haben sie sich etwas zu sehr auf sie verlassen, was sich wohl als Fehler herausgestellt hat."

"Es gibt immer Leuten, denen man nicht vertrauen kann, und die einem etwas vorspielen und am Ende sogar verraten."

"Du scheinst aus eigener Erfahrung zu reden." Tonya sah ihn neugierig an.

"Haben wir nicht alle schon solche Erfahrungen gemacht?", fragte Karl nur. Es war kein Thema, über das er reden wollte. Verrat kam mit seinem Geschäft, und er hatte es schon häufiger erlebt, als ihm lieb war. Tatsächlich war diese Situation das Ergebnis eines solchen Verrates, aber das brauchte Tonya nicht zu wissen. "Also, kannst du nach ihr suchen?"

Tonya nickte. "Ich werde es zumindest versuchen."

"Danke", sagte Karl und stand auf.

Draußen war es noch immer so dunkel, als wenn gleich die Nacht hereinbrechen würde, und das obwohl es schon Mittag war. Seit gestern Nachmittag hatte es fast nonstop geregnet, und es schien nicht so, als ob es bald aufhören würde. In den Nachrichten hatten sie sogar etwas von Hurrikanen gesagt.

"Halte noch etwas durch", flüsterte Karl, als er den Fluss erreichte und dort stoppte. Er legte eine Hand auf den nassen Boden, wie um die Erde zu beruhigen. "Ich bin hier. Wir alle sind es. Wir werden dich beschützen, auch mit unserem Leben. Ich werde nicht zu lassen, dass dir was passiert."

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