Tag 24:
"Karl!"
Karl sah von seinem Buch auf, als er Sven von draußen rufen hörte. Er klang aufgeregt und außer Atem. Außerdem war er pitschnass, wie Karl sehen konnte, als er endlich bei ihnen im Flur stand. Das Rot des Teppichs unter ihm färbte sich schon dunkel von dem Regen, der munter von ihm abtropfte.
Es war der dritte Tag an dem es schon ohne Unterbrechung regnete. Karl wusste, dass es nichts gutes heißen konnte. Sicherlich nicht nach dem sommerlichen Winter. Seine Mutter, subtil wie immer, hatte Karl nur gefragt, ob das sein Wirken sei (ha!), und ob er den Regen nicht wenigstens in Schnee verwandeln könne.
Karl begann wirklich sich zu wünschen, dass er es könnte. Das würde wenigstens zur Jahreszeit passen, und ihn vielleicht auch endlich in Weihnachtsstimmung versetzen. Aber noch nicht einmal das Weihnachtsbaumschmücken hatte das erreicht, und Karl war sich fast sicher, dass es dieses Jahr auch nicht mehr passieren würde. Er hatte einfach zu viel anderes im Kopf, als das er viel über bunte Blinklichter, Strohsterne und Weihnachtskugel nachdenken konnte (sehr zum Leidwesen seiner Mutter, für die Weihnachten das Höchste war).
"Was?", fragte er, als Svens Atmung sich langsam wieder normalisierte.
"Du musst mitkommen."
Eigentlich war Karl nicht wirklich danach bei diesem Wetter raus zu gehen. Da musste schon was ganz besonderes vorliegen. "Warum?"
"Melanie", kam die abgehackte Antwort. "Sie ist hier."
Karl starrte Sven für einen Moment verständnislos an. Dann, als die Worte langsam einsanken und Sinn ergaben, griff er automatisch nach seiner Jacke und folgte Sven, der schon an der Türe auf ihn wartete.
~.~.~.~
"Und du hältst das wirklich für eine gute Idee?", sprach seine Mutter das aus, was sie wohl alle dachten -- ausgenommen Karl.
Karl, Bertram, die Zwillinge und Karsten -- ihr Neuzugang, ein Mann von vielleicht Mitte 20, der mit Melanie angekommen war -- saßen im Wohnzimmer, neben dem geschmückten und beleuchteten Weihnachtsbaum. Melanie schlief im Gästezimmer, endlich trocken, aber absolut erschöpft.
Sven hatte sie und Karsten bei den Steinen gefunden. Karsten war auf dem Weg zu ihnen dort über Melanie gestolpert, als sie auf dem Altar saß, den Karl nur wenige Wochen zuvor nur zu gut kennen gelernt hatte. Se war fiebrig und kaum bei Bewusstsein gewesen.
Karl nickte und akzeptierte die Tasse Tee von seiner Mutter dankbar. "Halte ich, ja."
"Weißt du, ich versuche ja mein Bestes das alles zu verstehen, aber ich habe keine Lust auf einmal eine ganze Horde der Anderen vor der Türe stehen zu haben, nur weil sie hier ist. Es könnte eine Falle sein und ich will dich nicht in der Mitte eines Krieges sehen."
Karl lachte und verschluckte sich dabei beinahe an seinem Tee. "Das bin ich doch schon seit meiner Geburt, Mom. Ohne dir Vorwürfe machen zu wollen, aber für Vorsicht ist es doch einige Jahre zu spät, oder?" Seine Mutter zuckte leicht zusammen. Es tat Karl leid, aber es war nun mal eine Tatsache. "Melanie ist nur ein weiterer Faktor. Es geht hier um weit mehr als nur sie."
"Deine Mutter hat trotzdem Recht. Was ist wenn es tatsächlich nur ein ganz ausgeklügelter Plan ist, damit sie sich hier einschleichen kann?"
"Wenn ich was sagen dürfte", mischte sich Karsten ein, stoppte aber dann und sah Karl fragend an, als wartete er auf dessen Erlaubnis fortfahren zu dürfen. Karl nickte. "Ich glaube wirklich nicht, dass dem so ist. Sie war ernsthaft verstört, als ich sie gefunden habe. Sie muss da schon Stunden verbracht haben. Außerdem würde ich es fühlen, wenn sie unlautere Absichten hätte. Die gibt es hier zwar, wenn auch nicht hier im Raum, aber sie kommen nicht von ihr", endete er bestimmt.
"Was ist deine Fähigkeit?", fragte Svenja neugierig. "Die Wahrheit erkennen?"
"Dazu braucht es nur ein gewisses Maß an Menschenkenntnis. Ich spinne Illusionen und kann Menschen damit gefangen nehmen und außer Gefecht setzen. Ich bin auch ziemlich gut da drinnen, wenn ich das so sagen darf."
"Wie Albrecht."
"Ihr alle habt ein Gegenstück im anderen Lager, zumindest was die wirklich wichtigen Fähigkeiten betrifft", erinnerte Bertram Karl.
Karl nickte. Nicht das er das vergessen konnte. Es sollte den Ausgleich schaffen. Die Balance.
"Aber was ist Melanies Fähigkeit?", fragte Sven.
"Die Erde", sagte Karsten. "Ihr instinktiver Verteidigungsmechanismus hat mich beinahe unter einer Schlammlawine begraben."
"Also ist es Maria", stellte Karl sachlich fest. "Nicht das wir das nicht schon geahnt hätten, aber das beweist es wohl endgültig."
"Der Verräter, den ich fühlen kann?", fragte Karsten.
"Mehr ein Spion."
"Und ihr wusstet davon? Warum habt ihr dem kein Ende gesetzt?"
"Weil wir es für `produktiver hielten, sie im Auge zu halten und die anderen so in Sicherheit zu wiegen. Außerdem konnten wir so falsche Informationen weitergeben", erklärte Karl.
"Gott!", brachte Karsten hervor. Karls Augen verengten sich. "Nicht du. Oder irgendeiner von euch. Nur die Redensart", verbessere Karsten sich hastig. "Aber ich komm mir vor wie bei James Bond, mit dem ganzen Spionkram."
Für einen Moment sahen sie Karsten nur an, der sich verlegen seine Brille zurechtrückte und dabei eine schwarze Haarsträhne aus seiner Stirn wischte. Svenja war die erste, die loslachte, dann stimmten sie alle mit ein, versuchten so die Anspannung, die über ihnen lag wenigstens etwas zu erleichtern.
"Es kommt dem Ganzen auch erstaunlich nahe", erklärte Bertram, noch während er nach Luft schnappte.
Karl meldete sich nach einem Moment wieder zu Wort: "Wir sollten das hier für uns behalten. Das gilt besonders für dich Karsten. Nichts für ungut, aber alle anderen hier kenne ich schon ziemlich lange", fügte er hinzu, als ihm die Implikation seiner Aussage bewusst wurde.
Karsten grinste ihn an. "Ist schon in Ordnung. Du musst in deiner Position wohl eine gesunde Paranoia haben."
Karl nickte. "Leider. Aber wie auch immer, ich will nicht, dass ihr Melanie bei den anderen hier erwähnt. Soweit es die Sache betrifft, ist sie hier niemals aufgetaucht. Sie wird weiter bei uns wohnen, also müssen wir uns weiter bei euch treffen, Bertram."
Bertram und die Zwillinge nickten. "Bei uns ist eh viel mehr Platz."
"Sobald Melanie sich erholt hat, werden wir abseits von den anderen mit ihr trainieren. Schafft ihr das zusätzlich zu dem Programm mit Maria?", fragte er die Zwillinge. "Ich will die andere Seite so lange es irgendwie geht im Dunkeln halten, was heißt, dass Maria keinen Verdacht schöpfen darf."
"Kein Problem."
"Gut. Ich spreche mit Tonya. Sie muss weiter so tun, als suche sie Melanie für mich. Und schickt Sarah nachher zu mir. Immerhin ist sie das vierte Element und muss Bescheid wissen."
~.~.~.~
Karl schloss die Augen, konzentrierte sich auf seine Umgebung, auf seinen Schützling. Es sah nicht gut aus. Er konnte fühlen, wie die Erde täglich unruhiger wurde. Was gestern noch eine leichte Störung war, schien nun um ein vielfaches stärker geworden zu sein. Die Erde zitterte beinahe unter ihnen.
"Bitte warte noch etwas", bat er sie. "Gib uns nur noch etwas Zeit. Hilf dem Schattenmeister den Weg zu uns zu finden. Dann sind wir komplett und können dich schützen. Nur dann können wir für dich kämpfen..."
Dann wird unser Blut wieder einmal deinen Boden tränken...
Er wusste nicht, ob das leichte Rumpeln Zustimmung war oder nicht, hoffte es aber.
"Karl, dein Gast ist aufgewacht", hörte er seine Mutter rufen.
"Bitte", bat Karl die Erde noch einmal, bevor er sich zwang langsam wieder zurück ins Haus zu gehen.
~.~.~.~
Melanie sah ihn verwirrt an. Ihre normalerweise strahlend grünen Augen schienen von einem Schleier überzogen und ihr braunes Haar war matt. "Karl? Wie komme ich hier her?"
"Du wurdest bei den Steinen gefunden", erklärte Karl ihr müde und setzte sich an den Rand des Bettes. "Wie fühlst du dich?"
"Ziemlich fertig." Melanie sah sich vorsichtig um, fast so, als erwarte sie einen Hinterhalt.
"Du bist hier sicher. Weder dein Vater noch sonst irgendwer wird es wagen hier Hand an dich zu legen. Du stehst unter meinem persönlichen Schutz."
Melanie zuckte leicht zusammen. "Warum?"
"Weil ich es so entschieden habe."
"Ich versteh dich nicht, Karl."
Karl konnte es ihr nicht übel nehmen. Die Hälfte der Zeit verstand er sich ja selber nicht mehr. "Es ist einfach so", sagte er nur während er aufstand. "Ich bin froh, dass du sicher bist. Ich hab mir Sorgen gemacht", fügte er noch hinzu und machte Anstalten zu gehen.
Melanie ergriff seinen Arm, bevor er auch nur einen Schritt machen konnte. "Was hat deine Meinung geändert? Wieso glaubst du mir auf einmal?"
Karl schüttelte den Kopf. "Ich weiß es nicht. Ich... Es scheint einfach richtig. Außerdem haben wir eure Verräterin schon. Noch nicht einmal dein Vater wird so dumm sein zwei zu schicken und seiner eigenen Tochter solchen Gefahren auszusetzen."
"Ich wollte dich niemals verraten, Karl. Ich wusste damals einfach nicht, was wirklich los war. Mein Vater hat mir immer nie mehr als das absolut erforderliche gesagt." Ihre Stimme war beinahe flehend.
"Ich weiß." Das hatte Karl auch nie wirklich angezweifelt. "Aber die Frage ist, was willst du wirklich? Sobald du wieder bei Kräften bist, wirst du dich entscheiden müssen."
"Ich bin gekommen, ist das nicht Antwort genug?"
Karl schüttelte seinen Kopf. "Du bist dabei dich gegen alles zu wenden, was du kennst. Gegen deine eigene Familie. Wenn du hier bleibst, wirst du über kurz oder lang gegen sie kämpfen müssen. Überlege dir gut, ob du das wirklich willst."
"Du wirst bei mir sein, oder?" Als Karl nickte, fuhr sie fort: "Dann ist dies der Ort an dem ich sein muss. Das ist meine Bestimmung. Ich will an deiner Seite für diese Welt kämpfen."
"Dann solltest du schnell wieder gesund werden. Es gibt noch viel zu tun."
"Und du bist dir sicher, dass es in Ordnung ist?" Melanie klang noch immer unsicher.
"Ich denke schon. Allerdings kommt es darauf an." Melanie sah ihn beinahe panisch an. "Kannst du dich mit einer Bande Raben anfreunden, die immer um ins herum sein werden? Zuletzt schienst du eine kleine Abneigung gegen sie zu haben..."
Für einen Moment sah Melanie ihn fassungslos an, aber als er lächelte, sagte sie: "Du Idiot." Dann tat sie etwas völlig unerwartetes und schmiss sich in Karls Arme. Karl hielt sie instinktiv fest. Hilflos strich er ihr über den Rücken, als sie anfing zu weinen.
Er stoppte sie nicht, sondern hielt sie nur. Er war zwar bisher nie in einer solchen Situation gewesen und wusste nicht wirklich was er hier tat, aber irgendeine Erinnerung, oder vielleicht war es auch nur ein Gefühl, in ihm sagte ihm, dass dies jetzt sein musste, dass Melanie alles rauslassen musste, bevor sie weitergehen konnte.
"Danke, Karl", sagte sie letztendlich, als sie sich wieder beruhigt hatte.
~.~.~.~
Die Sonne ging schon fast wieder auf, als Karl die Steine erreichte. Abwesend ließ er seine Hand über die kalte Altarplatte wandern. Bald. Sehr bald schon. Dann würde dies hier wieder zu einem Opfer -und Schlachtfeld werden, würden die Steine wieder mit Blut begossen werden, während er wieder einmal versuchen würde das Schicksal zu bekämpfen.
Und wie damals war er nicht alleine. Er hatte Munin und Hunin und wenn die Zeit bereit war, auch seine Wölfe und den guten alten Sleipnir an seiner Seite, auf dessen Rücken er die Jagd einleiten würde.
Und nicht zu vergessen die Neun, von denen er ein Teil war. Sie würden bei ihm sein. Von Anfang bis Ende, würden ihr Leben genauso bereitwillig geben, wie er seines.
Nein, diesmal war er sogar um einiges besser vorbereitet als damals. Diesmal würde der Kampf auf einer Ebene stattfinden, die er -- im Gegensatz zu seinem Gegner -- nicht nur kannte, sondern auch verstand.
Bald.
Er schloss die Augen und ließ seine Gedanken wandern, auf der Suche nach der Person, die ihren Kreis endlich vervollständigen würde.
Der Schattenmeister.
Peters Spiegelbild. Er musste irgendwo sein. Es war nur eine Frage von wo.
Und dann hatte er ihn!
Seine Gesichtszüge verfinsterten sich, als er einen Jungen in seinem Alter alleine durch die Stadt wandern sah, verloren und verletzt. Es war falsch. Es sollte nicht so sein. Noch schlimmer, der Junge hatte Angst, versuchte sich abzuschirmen, seine Fähigkeiten zu unterdrücken, als wenn sie der Grund seiner Misere wären.
So sollte es nicht sein. Niemals. Allerdings hatte er das schon zu oft im Verlauf der Zeit gesehen. Menschen, die ausgestoßen und sogar getötet wurden, weil sie anders waren.
Er konzentrierte sich auf den Jungen, zoomte ihn heran.
"Komm zu mir", sagte er ihm. "Hier wirst du sicher sein. Sicher und willkommen. Wir brauchen und wollen dich hier. Komm zu uns. Folge den Raben."
Der Junge sah auf, erstaunt und verwirrt, etwas das sich noch verstärkte, als Munin vor ihm auftauchte und ihm erklärte, das sein Herr nach ihm gerufen hatte und das seine Bestimmung hier bei ihm und den anderen lag.
Er spürte, wie der Kreis sich langsam schloss, als der Junge dem Raben folgte.
Endlich komplett.
Er konnte schon jetzt fühlen, wie ihre Macht stärker wurde, wie sie sich weiter abrundete mit jedem Schritt den der Schattenmeister in ihre Richtung tat. Bald Sehr bald. Sie würden komplett sein, eins mit ihrer Kraft und dem Universum, bereit ihre Bestimmung zu erfüllen.
Ihre Bestimmung und Karls Erbe.
Sie würden für diese Welt kämpfen und sie beschützen. Nicht nur diese Welt, sondern auch die andere, und diesmal würden sie siegen. Es ging gar nicht anders.
Von seinem Platz aus konnte er sehen, wie bei Bertram im Haus das Licht anging und einige Schatten vor die Türe traten. Karl wusste, dass sie es genauso wie er fühlen konnten. Sie sahen sich um, bevor sie sich langsam in Bewegung setzten, zu Karl, zu den Steinen, zum Ursprung ihrer Kraft, um ihren Neuzugang willkommen zu heißen.
Karl stand auf und wartete -- nicht nur auf die anderen, sondern auf alles was kommen würde. Und gerade als er den Schatten nahmen zuordnen konnte, entschied Karl, dass dies vielleicht das merkwürdigste Weihnachtsfest war was er bisher erlebt hatte, aber bei weitem nicht das schlechteste.
Er hatte nicht nur seine Familie und seine Freunde um sich herum, sondern wusste auch endlich wer er war. Viel besser ging es eigentlich nicht mehr, oder?
~Ende von Teil 1~
"Karl!"
Karl sah von seinem Buch auf, als er Sven von draußen rufen hörte. Er klang aufgeregt und außer Atem. Außerdem war er pitschnass, wie Karl sehen konnte, als er endlich bei ihnen im Flur stand. Das Rot des Teppichs unter ihm färbte sich schon dunkel von dem Regen, der munter von ihm abtropfte.
Es war der dritte Tag an dem es schon ohne Unterbrechung regnete. Karl wusste, dass es nichts gutes heißen konnte. Sicherlich nicht nach dem sommerlichen Winter. Seine Mutter, subtil wie immer, hatte Karl nur gefragt, ob das sein Wirken sei (ha!), und ob er den Regen nicht wenigstens in Schnee verwandeln könne.
Karl begann wirklich sich zu wünschen, dass er es könnte. Das würde wenigstens zur Jahreszeit passen, und ihn vielleicht auch endlich in Weihnachtsstimmung versetzen. Aber noch nicht einmal das Weihnachtsbaumschmücken hatte das erreicht, und Karl war sich fast sicher, dass es dieses Jahr auch nicht mehr passieren würde. Er hatte einfach zu viel anderes im Kopf, als das er viel über bunte Blinklichter, Strohsterne und Weihnachtskugel nachdenken konnte (sehr zum Leidwesen seiner Mutter, für die Weihnachten das Höchste war).
"Was?", fragte er, als Svens Atmung sich langsam wieder normalisierte.
"Du musst mitkommen."
Eigentlich war Karl nicht wirklich danach bei diesem Wetter raus zu gehen. Da musste schon was ganz besonderes vorliegen. "Warum?"
"Melanie", kam die abgehackte Antwort. "Sie ist hier."
Karl starrte Sven für einen Moment verständnislos an. Dann, als die Worte langsam einsanken und Sinn ergaben, griff er automatisch nach seiner Jacke und folgte Sven, der schon an der Türe auf ihn wartete.
~.~.~.~
"Und du hältst das wirklich für eine gute Idee?", sprach seine Mutter das aus, was sie wohl alle dachten -- ausgenommen Karl.
Karl, Bertram, die Zwillinge und Karsten -- ihr Neuzugang, ein Mann von vielleicht Mitte 20, der mit Melanie angekommen war -- saßen im Wohnzimmer, neben dem geschmückten und beleuchteten Weihnachtsbaum. Melanie schlief im Gästezimmer, endlich trocken, aber absolut erschöpft.
Sven hatte sie und Karsten bei den Steinen gefunden. Karsten war auf dem Weg zu ihnen dort über Melanie gestolpert, als sie auf dem Altar saß, den Karl nur wenige Wochen zuvor nur zu gut kennen gelernt hatte. Se war fiebrig und kaum bei Bewusstsein gewesen.
Karl nickte und akzeptierte die Tasse Tee von seiner Mutter dankbar. "Halte ich, ja."
"Weißt du, ich versuche ja mein Bestes das alles zu verstehen, aber ich habe keine Lust auf einmal eine ganze Horde der Anderen vor der Türe stehen zu haben, nur weil sie hier ist. Es könnte eine Falle sein und ich will dich nicht in der Mitte eines Krieges sehen."
Karl lachte und verschluckte sich dabei beinahe an seinem Tee. "Das bin ich doch schon seit meiner Geburt, Mom. Ohne dir Vorwürfe machen zu wollen, aber für Vorsicht ist es doch einige Jahre zu spät, oder?" Seine Mutter zuckte leicht zusammen. Es tat Karl leid, aber es war nun mal eine Tatsache. "Melanie ist nur ein weiterer Faktor. Es geht hier um weit mehr als nur sie."
"Deine Mutter hat trotzdem Recht. Was ist wenn es tatsächlich nur ein ganz ausgeklügelter Plan ist, damit sie sich hier einschleichen kann?"
"Wenn ich was sagen dürfte", mischte sich Karsten ein, stoppte aber dann und sah Karl fragend an, als wartete er auf dessen Erlaubnis fortfahren zu dürfen. Karl nickte. "Ich glaube wirklich nicht, dass dem so ist. Sie war ernsthaft verstört, als ich sie gefunden habe. Sie muss da schon Stunden verbracht haben. Außerdem würde ich es fühlen, wenn sie unlautere Absichten hätte. Die gibt es hier zwar, wenn auch nicht hier im Raum, aber sie kommen nicht von ihr", endete er bestimmt.
"Was ist deine Fähigkeit?", fragte Svenja neugierig. "Die Wahrheit erkennen?"
"Dazu braucht es nur ein gewisses Maß an Menschenkenntnis. Ich spinne Illusionen und kann Menschen damit gefangen nehmen und außer Gefecht setzen. Ich bin auch ziemlich gut da drinnen, wenn ich das so sagen darf."
"Wie Albrecht."
"Ihr alle habt ein Gegenstück im anderen Lager, zumindest was die wirklich wichtigen Fähigkeiten betrifft", erinnerte Bertram Karl.
Karl nickte. Nicht das er das vergessen konnte. Es sollte den Ausgleich schaffen. Die Balance.
"Aber was ist Melanies Fähigkeit?", fragte Sven.
"Die Erde", sagte Karsten. "Ihr instinktiver Verteidigungsmechanismus hat mich beinahe unter einer Schlammlawine begraben."
"Also ist es Maria", stellte Karl sachlich fest. "Nicht das wir das nicht schon geahnt hätten, aber das beweist es wohl endgültig."
"Der Verräter, den ich fühlen kann?", fragte Karsten.
"Mehr ein Spion."
"Und ihr wusstet davon? Warum habt ihr dem kein Ende gesetzt?"
"Weil wir es für `produktiver hielten, sie im Auge zu halten und die anderen so in Sicherheit zu wiegen. Außerdem konnten wir so falsche Informationen weitergeben", erklärte Karl.
"Gott!", brachte Karsten hervor. Karls Augen verengten sich. "Nicht du. Oder irgendeiner von euch. Nur die Redensart", verbessere Karsten sich hastig. "Aber ich komm mir vor wie bei James Bond, mit dem ganzen Spionkram."
Für einen Moment sahen sie Karsten nur an, der sich verlegen seine Brille zurechtrückte und dabei eine schwarze Haarsträhne aus seiner Stirn wischte. Svenja war die erste, die loslachte, dann stimmten sie alle mit ein, versuchten so die Anspannung, die über ihnen lag wenigstens etwas zu erleichtern.
"Es kommt dem Ganzen auch erstaunlich nahe", erklärte Bertram, noch während er nach Luft schnappte.
Karl meldete sich nach einem Moment wieder zu Wort: "Wir sollten das hier für uns behalten. Das gilt besonders für dich Karsten. Nichts für ungut, aber alle anderen hier kenne ich schon ziemlich lange", fügte er hinzu, als ihm die Implikation seiner Aussage bewusst wurde.
Karsten grinste ihn an. "Ist schon in Ordnung. Du musst in deiner Position wohl eine gesunde Paranoia haben."
Karl nickte. "Leider. Aber wie auch immer, ich will nicht, dass ihr Melanie bei den anderen hier erwähnt. Soweit es die Sache betrifft, ist sie hier niemals aufgetaucht. Sie wird weiter bei uns wohnen, also müssen wir uns weiter bei euch treffen, Bertram."
Bertram und die Zwillinge nickten. "Bei uns ist eh viel mehr Platz."
"Sobald Melanie sich erholt hat, werden wir abseits von den anderen mit ihr trainieren. Schafft ihr das zusätzlich zu dem Programm mit Maria?", fragte er die Zwillinge. "Ich will die andere Seite so lange es irgendwie geht im Dunkeln halten, was heißt, dass Maria keinen Verdacht schöpfen darf."
"Kein Problem."
"Gut. Ich spreche mit Tonya. Sie muss weiter so tun, als suche sie Melanie für mich. Und schickt Sarah nachher zu mir. Immerhin ist sie das vierte Element und muss Bescheid wissen."
~.~.~.~
Karl schloss die Augen, konzentrierte sich auf seine Umgebung, auf seinen Schützling. Es sah nicht gut aus. Er konnte fühlen, wie die Erde täglich unruhiger wurde. Was gestern noch eine leichte Störung war, schien nun um ein vielfaches stärker geworden zu sein. Die Erde zitterte beinahe unter ihnen.
"Bitte warte noch etwas", bat er sie. "Gib uns nur noch etwas Zeit. Hilf dem Schattenmeister den Weg zu uns zu finden. Dann sind wir komplett und können dich schützen. Nur dann können wir für dich kämpfen..."
Dann wird unser Blut wieder einmal deinen Boden tränken...
Er wusste nicht, ob das leichte Rumpeln Zustimmung war oder nicht, hoffte es aber.
"Karl, dein Gast ist aufgewacht", hörte er seine Mutter rufen.
"Bitte", bat Karl die Erde noch einmal, bevor er sich zwang langsam wieder zurück ins Haus zu gehen.
~.~.~.~
Melanie sah ihn verwirrt an. Ihre normalerweise strahlend grünen Augen schienen von einem Schleier überzogen und ihr braunes Haar war matt. "Karl? Wie komme ich hier her?"
"Du wurdest bei den Steinen gefunden", erklärte Karl ihr müde und setzte sich an den Rand des Bettes. "Wie fühlst du dich?"
"Ziemlich fertig." Melanie sah sich vorsichtig um, fast so, als erwarte sie einen Hinterhalt.
"Du bist hier sicher. Weder dein Vater noch sonst irgendwer wird es wagen hier Hand an dich zu legen. Du stehst unter meinem persönlichen Schutz."
Melanie zuckte leicht zusammen. "Warum?"
"Weil ich es so entschieden habe."
"Ich versteh dich nicht, Karl."
Karl konnte es ihr nicht übel nehmen. Die Hälfte der Zeit verstand er sich ja selber nicht mehr. "Es ist einfach so", sagte er nur während er aufstand. "Ich bin froh, dass du sicher bist. Ich hab mir Sorgen gemacht", fügte er noch hinzu und machte Anstalten zu gehen.
Melanie ergriff seinen Arm, bevor er auch nur einen Schritt machen konnte. "Was hat deine Meinung geändert? Wieso glaubst du mir auf einmal?"
Karl schüttelte den Kopf. "Ich weiß es nicht. Ich... Es scheint einfach richtig. Außerdem haben wir eure Verräterin schon. Noch nicht einmal dein Vater wird so dumm sein zwei zu schicken und seiner eigenen Tochter solchen Gefahren auszusetzen."
"Ich wollte dich niemals verraten, Karl. Ich wusste damals einfach nicht, was wirklich los war. Mein Vater hat mir immer nie mehr als das absolut erforderliche gesagt." Ihre Stimme war beinahe flehend.
"Ich weiß." Das hatte Karl auch nie wirklich angezweifelt. "Aber die Frage ist, was willst du wirklich? Sobald du wieder bei Kräften bist, wirst du dich entscheiden müssen."
"Ich bin gekommen, ist das nicht Antwort genug?"
Karl schüttelte seinen Kopf. "Du bist dabei dich gegen alles zu wenden, was du kennst. Gegen deine eigene Familie. Wenn du hier bleibst, wirst du über kurz oder lang gegen sie kämpfen müssen. Überlege dir gut, ob du das wirklich willst."
"Du wirst bei mir sein, oder?" Als Karl nickte, fuhr sie fort: "Dann ist dies der Ort an dem ich sein muss. Das ist meine Bestimmung. Ich will an deiner Seite für diese Welt kämpfen."
"Dann solltest du schnell wieder gesund werden. Es gibt noch viel zu tun."
"Und du bist dir sicher, dass es in Ordnung ist?" Melanie klang noch immer unsicher.
"Ich denke schon. Allerdings kommt es darauf an." Melanie sah ihn beinahe panisch an. "Kannst du dich mit einer Bande Raben anfreunden, die immer um ins herum sein werden? Zuletzt schienst du eine kleine Abneigung gegen sie zu haben..."
Für einen Moment sah Melanie ihn fassungslos an, aber als er lächelte, sagte sie: "Du Idiot." Dann tat sie etwas völlig unerwartetes und schmiss sich in Karls Arme. Karl hielt sie instinktiv fest. Hilflos strich er ihr über den Rücken, als sie anfing zu weinen.
Er stoppte sie nicht, sondern hielt sie nur. Er war zwar bisher nie in einer solchen Situation gewesen und wusste nicht wirklich was er hier tat, aber irgendeine Erinnerung, oder vielleicht war es auch nur ein Gefühl, in ihm sagte ihm, dass dies jetzt sein musste, dass Melanie alles rauslassen musste, bevor sie weitergehen konnte.
"Danke, Karl", sagte sie letztendlich, als sie sich wieder beruhigt hatte.
~.~.~.~
Die Sonne ging schon fast wieder auf, als Karl die Steine erreichte. Abwesend ließ er seine Hand über die kalte Altarplatte wandern. Bald. Sehr bald schon. Dann würde dies hier wieder zu einem Opfer -und Schlachtfeld werden, würden die Steine wieder mit Blut begossen werden, während er wieder einmal versuchen würde das Schicksal zu bekämpfen.
Und wie damals war er nicht alleine. Er hatte Munin und Hunin und wenn die Zeit bereit war, auch seine Wölfe und den guten alten Sleipnir an seiner Seite, auf dessen Rücken er die Jagd einleiten würde.
Und nicht zu vergessen die Neun, von denen er ein Teil war. Sie würden bei ihm sein. Von Anfang bis Ende, würden ihr Leben genauso bereitwillig geben, wie er seines.
Nein, diesmal war er sogar um einiges besser vorbereitet als damals. Diesmal würde der Kampf auf einer Ebene stattfinden, die er -- im Gegensatz zu seinem Gegner -- nicht nur kannte, sondern auch verstand.
Bald.
Er schloss die Augen und ließ seine Gedanken wandern, auf der Suche nach der Person, die ihren Kreis endlich vervollständigen würde.
Der Schattenmeister.
Peters Spiegelbild. Er musste irgendwo sein. Es war nur eine Frage von wo.
Und dann hatte er ihn!
Seine Gesichtszüge verfinsterten sich, als er einen Jungen in seinem Alter alleine durch die Stadt wandern sah, verloren und verletzt. Es war falsch. Es sollte nicht so sein. Noch schlimmer, der Junge hatte Angst, versuchte sich abzuschirmen, seine Fähigkeiten zu unterdrücken, als wenn sie der Grund seiner Misere wären.
So sollte es nicht sein. Niemals. Allerdings hatte er das schon zu oft im Verlauf der Zeit gesehen. Menschen, die ausgestoßen und sogar getötet wurden, weil sie anders waren.
Er konzentrierte sich auf den Jungen, zoomte ihn heran.
"Komm zu mir", sagte er ihm. "Hier wirst du sicher sein. Sicher und willkommen. Wir brauchen und wollen dich hier. Komm zu uns. Folge den Raben."
Der Junge sah auf, erstaunt und verwirrt, etwas das sich noch verstärkte, als Munin vor ihm auftauchte und ihm erklärte, das sein Herr nach ihm gerufen hatte und das seine Bestimmung hier bei ihm und den anderen lag.
Er spürte, wie der Kreis sich langsam schloss, als der Junge dem Raben folgte.
Endlich komplett.
Er konnte schon jetzt fühlen, wie ihre Macht stärker wurde, wie sie sich weiter abrundete mit jedem Schritt den der Schattenmeister in ihre Richtung tat. Bald Sehr bald. Sie würden komplett sein, eins mit ihrer Kraft und dem Universum, bereit ihre Bestimmung zu erfüllen.
Ihre Bestimmung und Karls Erbe.
Sie würden für diese Welt kämpfen und sie beschützen. Nicht nur diese Welt, sondern auch die andere, und diesmal würden sie siegen. Es ging gar nicht anders.
Von seinem Platz aus konnte er sehen, wie bei Bertram im Haus das Licht anging und einige Schatten vor die Türe traten. Karl wusste, dass sie es genauso wie er fühlen konnten. Sie sahen sich um, bevor sie sich langsam in Bewegung setzten, zu Karl, zu den Steinen, zum Ursprung ihrer Kraft, um ihren Neuzugang willkommen zu heißen.
Karl stand auf und wartete -- nicht nur auf die anderen, sondern auf alles was kommen würde. Und gerade als er den Schatten nahmen zuordnen konnte, entschied Karl, dass dies vielleicht das merkwürdigste Weihnachtsfest war was er bisher erlebt hatte, aber bei weitem nicht das schlechteste.
Er hatte nicht nur seine Familie und seine Freunde um sich herum, sondern wusste auch endlich wer er war. Viel besser ging es eigentlich nicht mehr, oder?
~Ende von Teil 1~