Tag 3

Kadira

Mitglied
Tag 3:

Wochenende, endlich!

Karl ließ sich nach dem Marathoneinkauf mit seiner Mutter erleichtert auf sein Bett fallen. Warum sie ihn immer dabei haben wollte konnte er zwar nicht nachvollziehen, aber mitzugehen war einfacher, als das ständige Argumentieren, das er eh nie gewinnen konnte. Ihrer Meinung nach verbrachte er zu viel Zeit vor dem Computer und so würde er wenigstens etwas frische Luft bekommen.

Blödsinn. Es war ja nicht so, als wenn er nicht fünf Tage die Woche jeden Tag zur Schule rannte, manchmal sogar zweimal, wenn er nachmittags auch noch Unterricht hatte. Da hatte er genug Leute um sich herum, mehr Interaktion als er jemals wollte, und ganz bestimmt bekam er mehr als genug frische Luft, wenn man die Pausen und den halbstündigen Fußweg mitrechnete.

Aber mit Karls Mutter zu argumentieren kam einem Gespräch mit einer Steinwand sehr nahe. Beide waren unnachgiebig, zumindest wenn es zu bestimmten Themen kam. Also, hatte Karl vor einigen Monaten beschlossen, ging er einfach mit und hoffte, dass er danach seine wohlverdiente Ruhe bekam.

Und nach den letzten Tagen hatte er die mehr als verdient. Wer immer auf die brillante Idee gekommen war die Hälfte aller Klassenarbeiten so kurz vor Weihnachten zu legen, konnte niemals Schüler gewesen sein. Oder er war so alt, dass er sich nicht mehr daran erinnern konnte. Wie der Müller, ihr Direktor, der schon vor einem Jahrhundert in die Rente hätte gehen sollen. Anders konnte man sich so eine Erbarmungslosigkeit nicht erklären.

Und sie waren noch nicht fertig.

Am Montag würde es gleich weiter gehen mit dem Projekt über berühmte Klassiker (er hatte Beethoven gezogen), und für Dienstag mussten sie eine Hausarbeit abgeben, die aus dem einfallsreichen Titel 'malt wonach immer euch ist. Lasst eurer Fantasie freien Lauf' bestand. Lehrer wurden auch immer einfallsloser, verlangten aber dafür von ihren Schülern, dass sie das irgendwie wieder wettmachten, auf das es auch nicht auffiel.

Und Karl hasste malen. Nein, nicht wirklich. Eigentlich tat er es sogar ganz gerne. Das Problem lag eher darinnen, dass niemand jemals erkennen konnte, was er zeichnete. Nicht das es ihn störte, aber es wirkte sich sehr negativ auf seine Kunstnoten aus.

Schade, dass Geschichte schon vorbei war. Die Arbeit war wenigstens leicht gewesen. Irgendwie sagte ihm Fakten doch mehr zu als Zahlen. Biologie war auch schon fertig, genau wie Chemie und Physik. Latein stand noch bevor, aber das würde ein Kinderspiel sein.

Im Grossen und Ganzen, sah es gar nicht mal so übel aus, trotzdem war er froh wenn es endlich vorbei war und die Ferien kommen würden. Es war eh unfair, dass sie erst einen Tag vor Heiligabend frei bekamen. Wie sollte man so in Weihnachtsstimmung kommen?

Die Welt war einfach viel zu stressig. Zumindest war es seine in letzter Zeit geworden. Erst war da seine Mutter, die auf einmal viel zu anhänglich war und immer genau wissen wollte, was er wann tat, wo er war, und wann er nach Hause kommen würde. Das ganze widersprach sich natürlich mit ihrer Aussage, dass er viel zu viel Zeit vor dem Computer verbrachte, aber es war sinnlos ihr das klar zu machen und kam dem Vergleich mit der Steinmauer wieder sehr nahe, nur war in diesem Fall die Steinmauer vielleicht noch eher zu Kompromissen bereit.

Dann waren da diese merkwürdigen Träume, die keinerlei Sinn ergaben, und all der Schulstress, gepaart mit Melanies plötzlichem Interesse in ihm und den Raben, die Spaß daran hatten ihn zu beschimpfen (aber die es gar nicht wirklich geben konnte, denn außer ihnen sah sie ja keiner, also hatten sie entweder das gleiche schlechte Essen in der Schulcafeteria gehabt, oder waren beide zu viel Stress ausgesetzt -- er unterdrückte den Teil seines Verstandes, der ihm irgendwas von einer großen Verschwörung erzählte, denn das klang sogar für ihn etwas weit hergeholt).

Wenn man das alles zusammen nahm, war es kein Wunder, dass er sich solche Dinge wie sprechende Raben einbildete.

Aber wenigstens war er heute davon verschont geblieben. Vielleicht war der Einkauf mit seiner Mutter doch keine so schlechte Idee gewesen. Das überfüllte Einkaufszentrum hatte ihn wenigstens soweit abgelenkt, dass er jetzt weder Raben hörte noch sah.

Er schloss seine Augen für einen Augenblick.

"Es war dein Vater, der es mir gesagt hat."

"Mein Vater ist tot!"

"Das ist das, was sie dich glauben machen wollen."


So ein Blödsinn! Karl schüttelte seinen Kopf. Da war sie wieder, die große Verschwörung, die gar nicht existierte. Was sollte der Scheiß? Vielleicht hätte er letztens doch nicht heimlich den Alienfilm gucken sollen. Es gab bestimmt einen Grund, warum der erst mitten in der Nacht gelaufen war.

Verdammt! Aber es erklärte immer noch nicht den Rest, wie die Raben, die scheinbar außer ihm und Melanie keiner sehen konnte.

Ob sie die Raben auch gehört hatte?

Karl war sich nicht sicher, ob es erleichternd wäre, oder ob es die ganze Sache nur noch peinlicher machen würde, so wie die Viecher über ihn geredet hatten...

~·~·~·~​

Es war bereits am dämmern, als Karl vor die Türe trat. Bei seiner Mutter hatte er sich damit entschuldigt, dass er noch was an seinem Rad arbeiten wollte. Er wollte sicher gehen, dass die Achsen nach der unfreiwilligen Rutschpartie nicht gebrochen waren, und die Kette neu aufziehen.

Für einen Moment jedoch blieb er vor der Türe stehen und starrte in die schnell herankommende Nacht. In der Ferne konnte er die Lichter der kleinen Stadt sehen. Es wirkte so hell von hier aus. Alles was den Hof hier erleuchtete, war eine kleine, flackernde Lampe, und die Sterne, die sogar jetzt schon schienen.

Dezember war ein merkwürdiger Monat. Vor allem dieses Jahr. Es war weder Sommer, noch Winter, noch richtig Herbst. Sie schienen zwischen den Jahreszeiten hängen geblieben zu sein, beinahe so, als könne sich die Erde nicht entscheiden in welche Richtung sie gehen wollte.

In den Nachrichten hatten sie gestern etwas Ähnliches gesagt und hatten es aber auf die Klimaveränderung geschoben. So glaubwürdig es klang, und egal wie viele Wissenschaftler diese Theorie unterstützten, Karl glaubte es nicht ganz. Irgendetwas in ihm sträubte sich dagegen und stempelte diese Aussage als etwas typisch menschliches ab. Sie wussten es einfach nicht besser.

Menschen waren faszinierende aber einfache Wesen, die für alles eine Erklärung brauchten, und dies hier war genau das Gleiche. Manche Dinge änderten sich nie. Menschen gehörten dazu. Egal wie viel neue Dinge sie erfanden, sie waren zu blind und zu taub um das offensichtliche zu sehen, das, was gerade um sie herum passierte. Bis es zu spät war.

Wieder einmal.

Karl sah von den Sternen auf die Steine, die eine natürliche Trennungslinie zwischen ihnen und die Stadt darstellte, und die im Licht der schwindenden Sonne beinahe zu brennen schienen. Zwölf Steine, aufgereiht in dreier Gruppen, das Zeichen einer Unendlichkeit, die nicht mehr gegeben war. In Blut gebadet und vor Ewigkeiten zerstört, bevor sie dann letztendlich der Verdammnis des Vergessens zum Opfer gefallen waren.

Es war eine Tragödie. Und sie hatte gerade erst begonnen.

"Karl, in einer halben Stunde ist das Essen fertig!"

Karl blinzelte und sah sich verwirrt um. Was zur Hölle war das gewesen? Diese Gedanken, die gar keinen Sinn ergaben. Und wieso schon essen? Er sah auf die Uhr und erkannte, dass er beinahe eine Stunde hier im Hof verbracht hatte, verloren in Gedanken, die keinen Sinn ergaben und ganz sicher nicht seine waren.

~·~·~·~​

"Ich kann es einfach nicht glauben. Er hat ihn tatsächlich gefunden!"

"Natürlich. Es war nur eine Frage der Zeit. Blut ruft Blut. Das war schon immer so. Wir hatten niemals eine Chance."

Wütend, trat der kleinere Mann gegen eine der Tannen, die zwischen den Steinen wuchsen. Er ignorierte den Protest seines Begleiters und den Aufschrei des Baumes. "Wir hätten ihn damals direkt umbringen sollen. Aber du bestandst ja darauf, dass nichts passieren wird. Nun sieh dir den Schlamassel an!"

"Wut bringt uns nicht weiter. Abgesehen davon ist es noch nicht vorbei. Alles was er hat, ist ein kleiner Vorsprung. Die letzte Entscheidung liegt noch immer bei dem Jungen. Das Spiel hat gerade erst begonnnen."

-.-.-.-.-.-.-.-
 



 
Oben Unten