Tag 5

Kadira

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Tag 5:

Karl stöhnte innerlich, als er die alte Eisenbahnbrücke passierte (der Anfang der Zivilisation, wie er es insgeheim nannte, denn auch wenn sich ihr Haus nur 15 Minuten weiter weg befand, schien es zu einer anderen Welt zu gehören) und Melanie am Anfang der Hauptstrasse schon auf sich warten sah.

Er verstand immer noch nicht was sie von ihm wollte, und die ganze Episode am Sonntag hatte da auch nicht geholfen. Im Gegenteil. Er fühlte sich noch immer so gerädert, als wenn er irgendwelchen Hochleistungssport getrieben hatte, und nicht wie jemand, der das Wochenende mit Hausaufgaben und... was auch immer passiert war, verbracht hatte.

Melanie lächelte ihn strahlend an und strich sich eine braune Haarsträhne aus dem Gesicht. "Wie geht es dir", fragte sie auch gleich. "Ich hab mir Sorgen gemacht."

Hatte sie es wirklich? Es kam Karl merkwürdig vor, wenn man bedachte, dass sie bis vor wenigen Tagen -- drei um ganz genau zu sein -- kaum mehr als eine handvoll Worte miteinander gewechselt hatten, und das während der ganzen letzten 3 Jahre, seit sie in einer Klasse waren. Und seit Freitag machte es ihr auf einmal nichts mehr aus mit dem Geek #1 ihrer Klasse im Gespräch gesehen zu werden, und sie besuchte ihn sogar zu Hause und ging mit ihm zur Schule?

Merkwürdig war noch eine Untertreibung. Allerdings war es vielleicht auch nicht viel merkwürdiger, als alles andere, was Karl in den letzten Tagen widerfahren war.

Er zuckte beiläufig mit den Schultern. "Muss wohl irgendwas in der Luft gewesen sein. Mir geht es wieder gut." Zumindest solange er ignorierte, dass ihm jeder Knochen im Körper wehtat, und sein Gehirn sich anfühlte, als wenn es jemand mit Apfelmus aufgefüllt hatte.

"Vielleicht ein Virus oder so", überlegte Melanie laut. "Mein Vater ging es auch nicht besonders gut. Vielleicht hat der Rabe ja irgendwas gehabt und übertragen. Er war heute noch so fertig, dass er sich krankgemeldet hat. Aber schön, dass es dir wieder gut geht", strahlte sie ihn an.

Das erinnerte Karl an etwas. Er hatte seine Mutter völlig vergessen zu fragen. "Was ist eigentlich mit ihm passiert?"

"Mit wem? Dem Raben?"

Karl nickte.

"Er saß auf deiner Schulter und ist dann auf meinem Vater los, kurz bevor du zusammen geklappt bist. Danach ist er einfach rausgeflogen. War schon merkwürdig. Hast du irgendeine Ahnung was passiert ist?"
Melanies Frage klang unschuldig, aber irgendwo in Karl schrillte eine Alarmglocke. Da schien etwas Lauerndes in ihrer Stimme, fast wie ein Jäger. Karl ließ sich nichts anmerken. Bis er nicht wusste was los war -- und das umfasste alles, angefangen mit Melanie, aber auch diverse Raben und merkwürdige Blackouts --, war es wohl am besten, wenn er einfach die Unwissendheitskarte spielte.

Sollte nicht weiter schwer sein, denn er hatte ja wirklich keine Ahnung von irgendetwas hier.

Er schüttelte den Kopf. "Wenn man bedenkt, dass ich nachher nicht mehr ganz anwesend war, weißt du wahrscheinlich mehr als ich. Ich weiß nur, dass der Rabe ins Zimmer geflogen ist, und dann wart ihr auch schon da. Was wolltest du eigentlich?"

"Mich weiter mit dir unterhalten. Hatte ich doch am Freitag gesagt", erklärte Melanie mit einem breiten Grinsen. "Und außerhalb der Schule geht das einfach besser. Aber das können wir ja immer noch machen. Hast du heute Nachmittag Zeit?", fragte sie, als sie das Schulgelände betraten.

"Geht nicht. Muss noch die Kunstarbeit fertig machen."

"Und wie sieht es mit Mittwoch aus?"

"Latein."

"Du lernst zu viel. Aber dann am Donnerstag", sagte sie, und bevor Karl etwas dagegen sagen konnte, ließ sie ihn auch schon stehen und wandte sich der Gruppe von Mädchen zu, mit denen sie in der Schule immer zusammen war.

"Was machst du denn mit dem Freak", hörte er Jenna, Melanies beste Freundin, noch fragen, aber Melanies Antwort (wenn sie denn eine gab), ging im Klingeln unter.

~·~·~·~​

Karl konnte ohne Zweifel sagen, dass die Musikdoppelstunde wohl der schlimmste Unterricht in seiner ganzen Schulkarriere war. Wenn man bedachte, dass er schon von jeher ein Außenseiter war, sagte das eine ganze Menge.

Sein Referat über Beethoven war trotz den Ereignissen am Sonntag gut genug gelaufen, aber so gerne er es wollte, Karl konnte es einfach nicht auf Übermut schieben, als er während Peters Referat über Wagner und seine Interpretation über 'Das Rheingold' auf einmal aufstand und sich lautstark darüber ausgelassen hatte, warum Wotan weder gierig, noch am Ende der Götter Schuld war.

Es war einfach über ihn gekommen. Peters Auslassung hatte irgendetwas etwas tief in Karl berührt, und bevor er etwas dagegen machen konnte, ja sogar bevor er sich dessen bewusst war, stand er da und hatte dazwischen geredet, hatte versucht die Missverständnisse aufzuklären.

Und das, ohne das er sich auch nur einmal mit der Thematik auseinander gesetzt hatte. Tatsächlich war Karl bis zu diesem Augenblick noch nicht einmal bewusst gewesen, dass er überhaupt etwas über irgendwelchen Götter wusste, ganz besonders nicht über diesen. Es war peinlich gewesen, vor allem die Stille nachdem Karl seine ungefragte Meinung zum Thema abgegeben hat. Natürlich hatte sich auch die Erde leider nicht unter ihm aufgetan hatte, als Karl bewusst geworden war, was genau er getan hatte, und steif an seinem Tisch gestanden hatte.

Weder das Schneiderchen, ihr Musiklehrer, noch Peter waren begeistert gewesen. Das traf wohl auch auf den Rest der Klasse zu, aber die sahen ihn weder mit einem mörderischen Blick an, noch konnten sie ihm einen Eintrag ins Klassenbuch geben.

Er war absolut am Arsch. Das war das einzige, was Karl wirklich wusste, als er die Steine auf dem Weg nach Hause passierte.

Peter würde ihn umbringen. Und noch schlimmer - er hatte sich zum Gespött der ganzen Schule gemacht.

Vielleicht konnte er seine Mutter ja davon überzeugen, dass er krank war. Irgendeine ansteckende Krankheit, die anhielt bis die Weihnachtsferien anfingen, vielleicht auch noch darüber hinaus, so für die nächsten drei Jahre. Oder ein Schulwechsel. Das wäre auch noch akzeptable.

Alles war besser, als morgen wieder in die Schule zu müssen.

"Das war eindrucksvoll."

Karl zog eine Grimasse, als er die nun beinahe schon vertraute krächzende Stimme neben sich hörte. "Hau bloß ab."

"Was für eine Begrüßung soll das denn sein?" Der Rabe schaffte es sogar vorwurfsvoll zu klingen.

"Seitdem du bei mir aufgetaucht bist, geht alles schief. Und genau das sollte meine Begrüßung ausdrücken!", brachte Karl zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.

"Ganz im Gegenteil. Du magst es zwar noch nicht sehen, aber alles läuft perfekt nach Plan. Dein Vater wird --"

"Weißt du was?", fragte Karl als er den Hof betrat und drehte sich zu dem Vogel um. Seine Hände hatte er in seinen Jackentaschen zu Fäusten geballt. "Solange du nicht Klartext redest und mir sagst was los ist, lass mich in Ruhe. Mein Leben geht gerade ganz gewaltig den Bach runter, und das seit du hier aufgetaucht bist. Ich will nichts mehr von dir hören. Ganz bestimmt nichts von irgendwelchen Plänen oder wie toll doch irgendwas läuft. Und ganz bestimmt will ich nie wieder was von meinem Vater hören, denn der ist noch genauso tot, wie vor vier Tagen schon. Also lass mich gefälligst in Ruhe und such dir jemand anderen zum nerven!"

Der Rabe schien für einen Augenblick sprachlos. Karl nutzte den Moment, überquerte den Hof, ging in das Haus hinein und knallte die Türe hinter sich zu.

"Alles in Ordnung, Karl?", hörte er auch schon seine Mutter.

Karl schloss für eine Sekunde die Augen. "Alles klar", sagte er dann. Natürlich war nichts in Ordnung. Tatsächlich war sein Leben noch nie so nicht in Ordnung gewesen, aber das hier war nicht die Art nicht in Ordnung, die er mit seiner Mutter besprechen konnte.

Was sollte er ihr sagen? Vielleicht: "Jemand aus meiner Klasse hat Mordgedanken mir gegenüber entwickelt, ich hab komische Blackouts und ach ja, erinnerst du dich noch an den Raben von gestern, Mama? Der kann reden und den habe ich gerade versucht zur Hölle zu schicken."

Irgendwie klang das nicht wie die Art Gespräch, die irgendjemand mit seiner Mutter führen wollte, besonders nicht mit einer Mutter wie seiner, die ihn eh schon fast erstickte mit ihrer Sorge um ihn.

"Hast du mit jemandem geredet?" Karl schüttelte schnell den Kopf, als sie in den Flur kam. "Oh, ich dachte ich hätte was gehört, und du hättest vielleicht schon unsere neuen Nachbarn kennen gelernt."

In Karls Kopf drehte sich alles. "Neue Nachbarn?", fragte er dann. Irgendwie ging momentan alles viel zu schnell.

"Ja, der alte Baiers Hof. Eine Familie mit zwei Kindern. Zwillinge. Ein Junge und ein Mädchen. In deinem Alter. Wir sollten nachher mal rüber gehen. Sie scheinen nette Leute zu sein", fuhr seine Mutter fort, während sie ins Esszimmer gingen.

Karl nickte abwesend, schmiss seine Jacke über einen Stuhl und setzte sich an den schon gedeckten Tisch. "Sag mal", unterbrach er seine Mutter nach einem Augenblick. Als sie ihn fragend ansah, fuhr er fort: "Mein Vater, der ist wirklich tot, oder?"

Die Stille die folgte war schneidend. "Natürlich. Was ist das für eine merkwürdige Frage?", sagte seine Mutter, aber sie klang merkwürdig außer Atem.

"Mein Vater ist tot!"

"Das ist das, was
sie dich glauben machen wollen."

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