Tag 9:
"Du weißt schon, dass ich kein kleines Baby mehr bin, und dass ich alleine zur Schule gehen kann, oder?", fragte Karl seine Mutter. Er machte keine Anstalten seinen Missmut zu verbergen.
"Ja, aber du bist mein Sohn, und bis gestern warst du krank. Wenn du heute wieder zur Schule willst, findest du dich besser damit ab", erklärte sie ihm einfach.
"Aber es ist peinlich."
"Das wirst du wohl überleben. Und wenigstens weiß ich so, dass du sicher in der Schule angekommen bist." Ihre Gesichtszüge entspannten sich, als sie an der Schule hielt. "Ich will doch nur, dass es dir gut geht", sagte sie und lächelte ihn an.
Karl murrte ein: "Das ändert nichts an den Tatsachen, dass es übertrieben und peinlich ist."
"Vielleicht ist es übertrieben, aber wenn ich eins gelernt habe, ist es vorsichtig zu sein."
"Wegen etwas Fieber, an das ich mich noch nicht einmal erinnern kann?"
"Auch bei so etwas", sagte seine Mutter, aber da war etwas dunkles, warnendes in ihrer Stimme.
"Und was sonst noch?", fragte Karl, nun bedeutend weniger grimmig, als seine Neugier die Oberhand gewann.
Seine Mutter sah ihn für einen Augenblick nur an. Karl war sich schon fast sicher wieder einmal keine Antwort zu bekommen, und griff nach seinem Rucksack, der auf dem Rücksitz des alten VWs lag, als sie sagte: "Ich bin deine Mutter. Ich werde dich vor allem beschützen bei dem ich denke, dass es dir schaden wird, Karl."
Karl sah sie für einen Augenblick an, dann nickte er. "Aber der Schulweg ist trotzdem nicht sonderlich gefährlich. Ich gehe ihn schon seit Jahren und habe es jedes Mal überlebt."
"Ich weiß", sagte seine Mutter. "Du wirst viel zu schnell erwachsen. Erlaube es mir einfach dich noch etwas zu verwöhnen", sagte sie, ihre Stimme wieder so, wie Karl es gewöhnt war, ohne die unterliegende Hitze und Intensität.
Er entwich ihrem Kuss, indem er die Türe öffnete. Das fehlte im gerade noch. Bei seinem Glück würde in diesem Augenblick auch noch Peter oder Mark, oder irgendeiner ihrer Bande vorbei kommen. Das würde zu dem Label "Freak" auch noch "Muttersöhnchen" hinzufügen, und das brauchte er ganz sicher nicht.
Seine Mutter grinste. "Ich hol dich um eins ab."
"Hey, wie lief deine Arbeit?" Melanie fand ihn unter dem Regendach, seinem reservierten Pausenplatz. Nun ja, seinen, und dem von all den anderen Schülern, die auch keinen der In-Gruppen angehörten. Und davon gab es erstaunlich viele.
Nur hatte er nicht erwartet, Melanie hier zu sehen. Das bisschen Kontakt den Melanie bisher angestrebt hatte, hatte sich immer auf nach der Schule beschränkt.
Karl nickte. "Was machst du hier?", fragte er zwischen zwei Bissen von seinem Brot.
"Ich dachte, dass wäre offensichtlich. Ich habe nach dir gesucht."
"Und warum?"
"Nun ja, du hast zwei Tage in der Schule gefehlt, unsere Verabredung sausen lassen, und ich dachte, ich frage mal, wie Latein lief. Der Text war ganz schön heftig, oder?"
Karl zuckte mit den Schultern. "Ging so."
Aus seinen Augenwinkel sah er Sven und Svenja auf sich zukommen. "Die schon wieder", hörte er Melanie, und da war ein Stöhnen in ihrer Stimme.
"Du magst sie wohl nicht sonderlich, wie?"
"Sie sind merkwürdig. Was hast du mit ihnen zu schaffen?"
"Nichts", sagte er, was ja auch der Wahrheit entsprach. Er kannte sie ja kaum.
"Dafür sind sie aber sehr anhänglich."
Das war Karl allerdings auch schon aufgefallen, auch wenn er es nicht verstand.
... miteinander auf ewig verbunden, sogar bis über den Tod hinaus. Und nicht nur miteinander, sondern auch mit dir...
Karl schüttelte den Kopf, um diesen Gedanken los zu werden, der sich auf einmal dort festgesetzt hatte, aber keinerlei Sinn machte.
Die Zwillinge waren ein paar Meter entfernt von ihnen stehen geblieben, an einem der zahlreichen Nebeneingänge und beobachteten sie.
"Ich hab ehrlich gesagt keine Ahnung, was sie von mir wollen, oder wer sie sind", sagte er dann.
Melanie grinste breit. "Gut."
Karl hatte keine Ahnung, was daran gut oder schlecht sein konnte, aber bevor er auch nur einen weiteren Gedanken darauf verschwenden konnte, wedelte Melanie auch schon mit einer Papiertüte vor Karls Nase hin und her. "Für dich", sagte sie.
Er nahm die Tüte und öffnete sie vorsichtig. Sie war mit Keksen gefüllt. "Weihnachtsplätzchen. Hab ich zusammen mit meiner Mutter gemacht."
"Für mich?" Karl sah sie skeptisch an. Verdrehte Welt. Die Melanie, die er kannte, hätte so etwas nie gemacht. Tatsächlich wäre sie lieber gestorben, als sich auf dem Schulhof mit ihm gemeinsam sehen zu lassen. Dann wiederum, es passte irgendwie perfekt in sein neues Leben, in dem nichts mehr einen Sinn ergab.
"Nicht nur, aber ich dachte, sie würden dich vielleicht etwas aufmuntern. Die letzten Tage waren ja nicht ganz so toll für dich", sagte Melanie mit einem Lächeln.
Karl lächelte verhalten zurück. "Danke dir."
"Los probier!"
Karl zuckte mit den Schultern und nahm einen Keks raus. Es war ein Weihnachtsbaum mit bunten Streuseln. Bevor er ihn jedoch in den Mund stecken konnte, kam auf einmal ein schwarzer Schatten auf ihn zugeflogen und schnappte ihm den Keks weg. Ein Rabe. Nicht seiner, dass erkannte Karl aus irgendeinem Grund sofort, aber ein Rabe.
"Was zum Teufel--", bevor er den Satz aussprechen konnte, erschien ein zweiter Rabe, und riss ihm mit seinem Schnabel die Tüte aus der Hand. Diesmal war es nicht nur irgendein Rabe, sondern seiner. Karl konnte es fühlen.
Sprachlos sah er dem Vogel hinterher, der mit der Tüte im Schnabel hinter den Bäumen verschwand, die die Mauer des Schulhofes zierten.
"Verdammte Viecher! Mein Vater wird dich schon noch kriegen!", fluchte Melanie in einer Art und Weise, die Karl frieren ließ.
Aus den Augenwinkeln heraus sah er wie die Zwillinge das Schauspiel intensiv beobachteten. Sobald sie Karls Blick auf sich spürten, winkten sie ihm freundschaftlich zu und verschwanden im Gebäude, gerade als die Schulglocke das Ende der Pause einläutete.
-.-.-.-.-.-.-.-
"Du weißt schon, dass ich kein kleines Baby mehr bin, und dass ich alleine zur Schule gehen kann, oder?", fragte Karl seine Mutter. Er machte keine Anstalten seinen Missmut zu verbergen.
"Ja, aber du bist mein Sohn, und bis gestern warst du krank. Wenn du heute wieder zur Schule willst, findest du dich besser damit ab", erklärte sie ihm einfach.
"Aber es ist peinlich."
"Das wirst du wohl überleben. Und wenigstens weiß ich so, dass du sicher in der Schule angekommen bist." Ihre Gesichtszüge entspannten sich, als sie an der Schule hielt. "Ich will doch nur, dass es dir gut geht", sagte sie und lächelte ihn an.
Karl murrte ein: "Das ändert nichts an den Tatsachen, dass es übertrieben und peinlich ist."
"Vielleicht ist es übertrieben, aber wenn ich eins gelernt habe, ist es vorsichtig zu sein."
"Wegen etwas Fieber, an das ich mich noch nicht einmal erinnern kann?"
"Auch bei so etwas", sagte seine Mutter, aber da war etwas dunkles, warnendes in ihrer Stimme.
"Und was sonst noch?", fragte Karl, nun bedeutend weniger grimmig, als seine Neugier die Oberhand gewann.
Seine Mutter sah ihn für einen Augenblick nur an. Karl war sich schon fast sicher wieder einmal keine Antwort zu bekommen, und griff nach seinem Rucksack, der auf dem Rücksitz des alten VWs lag, als sie sagte: "Ich bin deine Mutter. Ich werde dich vor allem beschützen bei dem ich denke, dass es dir schaden wird, Karl."
Karl sah sie für einen Augenblick an, dann nickte er. "Aber der Schulweg ist trotzdem nicht sonderlich gefährlich. Ich gehe ihn schon seit Jahren und habe es jedes Mal überlebt."
"Ich weiß", sagte seine Mutter. "Du wirst viel zu schnell erwachsen. Erlaube es mir einfach dich noch etwas zu verwöhnen", sagte sie, ihre Stimme wieder so, wie Karl es gewöhnt war, ohne die unterliegende Hitze und Intensität.
Er entwich ihrem Kuss, indem er die Türe öffnete. Das fehlte im gerade noch. Bei seinem Glück würde in diesem Augenblick auch noch Peter oder Mark, oder irgendeiner ihrer Bande vorbei kommen. Das würde zu dem Label "Freak" auch noch "Muttersöhnchen" hinzufügen, und das brauchte er ganz sicher nicht.
Seine Mutter grinste. "Ich hol dich um eins ab."
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"Hey, wie lief deine Arbeit?" Melanie fand ihn unter dem Regendach, seinem reservierten Pausenplatz. Nun ja, seinen, und dem von all den anderen Schülern, die auch keinen der In-Gruppen angehörten. Und davon gab es erstaunlich viele.
Nur hatte er nicht erwartet, Melanie hier zu sehen. Das bisschen Kontakt den Melanie bisher angestrebt hatte, hatte sich immer auf nach der Schule beschränkt.
Karl nickte. "Was machst du hier?", fragte er zwischen zwei Bissen von seinem Brot.
"Ich dachte, dass wäre offensichtlich. Ich habe nach dir gesucht."
"Und warum?"
"Nun ja, du hast zwei Tage in der Schule gefehlt, unsere Verabredung sausen lassen, und ich dachte, ich frage mal, wie Latein lief. Der Text war ganz schön heftig, oder?"
Karl zuckte mit den Schultern. "Ging so."
Aus seinen Augenwinkel sah er Sven und Svenja auf sich zukommen. "Die schon wieder", hörte er Melanie, und da war ein Stöhnen in ihrer Stimme.
"Du magst sie wohl nicht sonderlich, wie?"
"Sie sind merkwürdig. Was hast du mit ihnen zu schaffen?"
"Nichts", sagte er, was ja auch der Wahrheit entsprach. Er kannte sie ja kaum.
"Dafür sind sie aber sehr anhänglich."
Das war Karl allerdings auch schon aufgefallen, auch wenn er es nicht verstand.
... miteinander auf ewig verbunden, sogar bis über den Tod hinaus. Und nicht nur miteinander, sondern auch mit dir...
Karl schüttelte den Kopf, um diesen Gedanken los zu werden, der sich auf einmal dort festgesetzt hatte, aber keinerlei Sinn machte.
Die Zwillinge waren ein paar Meter entfernt von ihnen stehen geblieben, an einem der zahlreichen Nebeneingänge und beobachteten sie.
"Ich hab ehrlich gesagt keine Ahnung, was sie von mir wollen, oder wer sie sind", sagte er dann.
Melanie grinste breit. "Gut."
Karl hatte keine Ahnung, was daran gut oder schlecht sein konnte, aber bevor er auch nur einen weiteren Gedanken darauf verschwenden konnte, wedelte Melanie auch schon mit einer Papiertüte vor Karls Nase hin und her. "Für dich", sagte sie.
Er nahm die Tüte und öffnete sie vorsichtig. Sie war mit Keksen gefüllt. "Weihnachtsplätzchen. Hab ich zusammen mit meiner Mutter gemacht."
"Für mich?" Karl sah sie skeptisch an. Verdrehte Welt. Die Melanie, die er kannte, hätte so etwas nie gemacht. Tatsächlich wäre sie lieber gestorben, als sich auf dem Schulhof mit ihm gemeinsam sehen zu lassen. Dann wiederum, es passte irgendwie perfekt in sein neues Leben, in dem nichts mehr einen Sinn ergab.
"Nicht nur, aber ich dachte, sie würden dich vielleicht etwas aufmuntern. Die letzten Tage waren ja nicht ganz so toll für dich", sagte Melanie mit einem Lächeln.
Karl lächelte verhalten zurück. "Danke dir."
"Los probier!"
Karl zuckte mit den Schultern und nahm einen Keks raus. Es war ein Weihnachtsbaum mit bunten Streuseln. Bevor er ihn jedoch in den Mund stecken konnte, kam auf einmal ein schwarzer Schatten auf ihn zugeflogen und schnappte ihm den Keks weg. Ein Rabe. Nicht seiner, dass erkannte Karl aus irgendeinem Grund sofort, aber ein Rabe.
"Was zum Teufel--", bevor er den Satz aussprechen konnte, erschien ein zweiter Rabe, und riss ihm mit seinem Schnabel die Tüte aus der Hand. Diesmal war es nicht nur irgendein Rabe, sondern seiner. Karl konnte es fühlen.
Sprachlos sah er dem Vogel hinterher, der mit der Tüte im Schnabel hinter den Bäumen verschwand, die die Mauer des Schulhofes zierten.
"Verdammte Viecher! Mein Vater wird dich schon noch kriegen!", fluchte Melanie in einer Art und Weise, die Karl frieren ließ.
Aus den Augenwinkeln heraus sah er wie die Zwillinge das Schauspiel intensiv beobachteten. Sobald sie Karls Blick auf sich spürten, winkten sie ihm freundschaftlich zu und verschwanden im Gebäude, gerade als die Schulglocke das Ende der Pause einläutete.
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