Tagebuch von damals, 26. 12. 2021: Ohne Spickzettel (wie wir reden sollen)

Einen hätten wir noch einladen dürfen.
Zehn wären von Gesetzes wegen erlaubt gewesen; für neun Leute habe ich aufgekocht und Tisch gedeckt.
Das war der Heilige Abend.
Essen, Trinken, Christbaum, Geschenke, Konversation, wir haben es erstaunlich gut überstanden.
Das kann schon verwundern.
Wahrlich: Während da draußen ein fieser Riss durch die Gesellschaften geht, haben sich die Gräben in meiner Familie überraschend geschlossen.
Was sich früher als „rechts“ und „links“ in vielen Punkten diametral gegenüberstand, steht nun Seit an Seit gegen eine überbordende Maßnahmenpolitik.
Auch nicht schlecht.

So gesehen benötigten wir auch gar keine Gebrauchsanleitung für Familienfeste, wie sie der „Standard“ am 24. herausgegeben hat.
Unter der Überschrift „Corona, Klima, Erziehung: So kontern Sie zu Weihnachten bei heiklen Themen“ fanden sich tatsächlich Tipps zum „richtigen“ Umgang miteinander ganz im Sinne eines Zeitgeists.
In der Einleitung skizziert der Artikel „heikle“ Szenarien wie diese:
„‘Niemand sollte zum Impfen gezwungen werden‘, sagt der Schwager.
Alle halten die Luft an, der Mama fällt die Gabel hörbar aus der Hand auf den Teller…“

Nun gut, das sagt ja Einiges, wenn den Leuten 2021 schon bei solchen Sätzen die Luft wegbleibt und vor lauter Schreck das Essgerät aus der Hand fällt.
Interessant.
Weihnachten 2020 hätte ich mich noch heftigst am Vanillekipferl verschluckt, wenn mir jemand prophezeit hätte, dass ich mich auf einen Besuch bei H&M mit Grünem Pass und Impfung bewerben muss.
So ändern sich die Zeiten.

Am besten schreibe man sich heuer einen Spickzettel, damit man auch sicher jederzeit die passende Replik parat hat.
Wie aus dem Automaten sollen die holzschnitzartigen Antworten daherkommen. Grob gezimmerte Standard-Konversation streng nach Vorschrift. Richtig-falsch, hin und her.
Vielleicht noch, so stelle ich mir das vor, vorgebracht im ab-ge-hack-ten Alexa-Style, jedes Zwiegespräch ein neuer mündlicher Test.

Geht auch gar nicht nur um Corona.
Der „Standard“ kommunikationstrainiert seine Leser schon für jede Lebenslage.
Beispiel.
Wenn die Oma erstaunt fragen sollte: „Was? Du stillst immer noch?“, soll die Stillende nur seelenruhig entgegnen:
„Ja, und es geht uns gut damit. Es spricht einiges dafür, sein Kind lange zu stillen. Wenn du willst, kann ich dir gerne später mehr erzählen. Aber jetzt würde ich gerne in Ruhe mein Kind zu Ende stillen. Danke, dass du uns allein lässt.“

Ich weiß ja nicht, wo die Standard-Leute so leben, aber für mich ist das kein Gespräch, wie ich es in meinem Umfeld schon mal belauscht hätte.
So reden die Menschen nicht, aber nach Ansicht der Schreiberlinge sollen sie das wohl.
Wie ein Roboter. Vernunftbetont, abgeklärt und immer eine hübsche Quellenangabe zu den auswendig gelernten Fakten in der Hinterhand.
Schon daran zeigt sich, wie weltfremd und abgehoben gemeinhin geschrieben wird.

Bizarr, wie man sich das vorstellt.
Also für den Fall, dass an der Festtafel so extrem subversive Sätze kommen wie „Mein Körper gehört mir“, soll der wache Geist, so wird es ausdrücklich empfohlen, umgehend antworten mit:
„Man weiß ja aus mittlerweile zahlreichen Studien, dass mit deinem Körper nach der Covid-Impfung nichts Schlimmes passiert.“
Hat zwar mit der eingänglichen Frage nach der Verfügungsgewalt über den eigenen Körper nicht direkt zu tun, klingt aber fraglos schön korrekt nach neumoderner Auffassung.
So macht man das heute.
Immerhin, wenn man dieser Argumentation weiter folgt, könnte man einem Körper wohl so ziemlich alles abverlangen, was ihm nicht unmittelbar schadet, ohne groß von Fremdbestimmung zu sprechen.
Könnte man genauso gut sowas sagen wie: „Warum auch nicht? Lass dir halt die Haare millimeterkurz runterscheren, das ist eine prima Prophylaxe gegen Kopfläuse. Super für die Volksgesundheit. Da passiert auch gar nix Schlimmes mit deinem Körper. Die Haare wachsen wieder nach, wie man aus zahlreichen Studien weiß. Also Kurzhaarpflicht für alle…“
Muss man halt mögen, so eine Argumentation, konsequent.

Lustig auch die „Standard“-Beweisführung, die darlegen soll, warum wir sicher NICHT in einer Diktatur leben.
Nämlich weil: In einer Diktatur gäbe es keine Demonstrationen. Sagt der „Standard“.
Ist nur leider gleichmal faktisch falsch, weil klar wird auch in Diktaturen demonstriert. Sogar in Afghanistan gingen tapfere Frauen gegen die Taliban auf die Straße, wie man jüngst gehört hat - also echt nicht das beste Argument.
Ist zudem auch als Distinktionsmerkmal ziemlich schwach. Müsste Demokratie denn nicht mehr bedeuten als „darf noch grad so demonstriert werden“?
Hinzu kommt die Tatsache, dass das Demonstrationsrecht ohnehin schon deutlich eingeschränkt wurde, dass man „gute“ und „schlechte“ Demos medial gegeneinander aufwiegt, und dass das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit schon ganz neu debattiert wird.
Im Umkehrschluss hieße das außerdem: Je mehr aufgebrachte Menschen unzufrieden durch die Straßen ziehen, umso besser aufgestellt scheint Demokratie - und auch das hakt ein wenig.

Dann war da noch:
Wir haben noch lange keine Diktatur, weil:
In der Diktatur bekommt man gleich mal Konsequenzen zu spüren, sofern man „eine abweichende Meinung vertritt“.
Das ist bei uns natürlich gaaanz anders, behauptet der „Standard“ prompt hintennach.
Gewagt.
Sollte man besser nicht an die vielen Artikel über die impfkritischen Ärzte denken, die die Medien und auch der „Standard“ seit einiger Zeit raushauen.
Diese Ärzte spüren jetzt ernsthafte Konsequenzen, die sich getrauten, eine abweichende Meinung zu vertreten - wie viele andere ebenfalls schon ähnliche Konsequenzen spüren.

Dass man nichts mehr sagen darf, darf man aber natürlich auch nicht mehr sagen und stimmt auch gar nicht, weil man kann ja immer noch sagen, dass man nichts sagen darf …
... okay, irgendwie ist da der Wurm drin.

Man merkt, der „Standard“-Leitfaden für die Familienfete ist nicht wirklich strapazierfähig oder logisch haltbar, aber zum Mundtotmachen und Wortabschneiden wird’s fallweise schon reichen.
Möchte nicht wissen, wie viele Schlaumeier ihre „Standard“-Spickzettel an Oma Bertha oder Onkel Hans schon herangetragen haben.
Haben sie am Ende auch noch wacker und wehrhaft die erhabenen Leitmedien verteidigt, so hätten sie die Diskussion erfolgreich überstanden und der „Standard“ gratuliert ganz herzlich.

Na Glückwunsch.
Bin ich nur froh, dass WIR uns so einen Schwachsinn nicht antun müssen und frei Schnauze miteinander reden können.
Ganz ohne Spickzettel haben wir’s geschafft.


 

John Wein

Mitglied
Hallo Erdling,
Eine Apokalypse! In den letzten beiden Jahren hat sich sehr viel in unseren Gesellschaften bis in die privaten Bereiche verändert und zwar ausnahmslos zum Schlechten, Totalitären, Dirigistischen. Ich hätte nie gedacht, mit 79 („vulnerable Gruppen“!) dieses gesellschaftliche Drama und die Bankrotterklärung von Menschlichkeit noch zu erleben.
Was man sich in der Politik so alles ausdenken kann im Namen von Wissenschaft und Vorsorge. Ich habe viele Maßnahmen nur schwer ertragen können, auch gerade im Angesicht meiner privaten Beziehungen, Duckmäusertum und Obrigkeits Hörigkeit bis vor die Haustür. Drangsalierungen, man konnte es sich Früher nicht vorstellen, bis in die Wohnungen. Aldous Huxley und George Orwell in Reinkultur, was für Aussichten! Nun, jene sind für mich, ich bin fast geneigt zu sahen Gott sei Dank, begrenzt, aber ich sehe schwere Zeiten auf die nächsten Generationen zukommen. Ich muss das nicht mehr erleben!
LG ,John
 
Hallo John!

Wir empfinden diese seltsame Zeit wohl ähnlich.
Oft, sehr oft habe ich versucht, mein gesellschaftspolitisches Unwohlsein während der letzten Corona-Jahre in Worte zu fassen – und stieß damit allzu meist auf taube Ohren. Oder auf eine Feindseligkeit, wie ich sie noch nicht erlebt hatte.

Es hat sich so viel verändert, sehr schnell – und sicher nicht zum Besseren.
Wie lange das alles noch nachwirkt, ob es irgendwann eine Aufarbeitung geben wird (was dringend nötig wäre) … wer weiß das zu sagen?

Liebe Grüße dir auch,

Erdling
 



 
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