Teil 3

losvu

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v23.14h

Leigh hatte die Bürokratie schon lang fertig. Dennoch
saß sie an ihrem Schreibtisch und wartete auf Clark.
Ihre Gedanken wanderten zurück nach New York, das
sie sieben Jahre zuvor verlassen hatte, um hier neu anzu-
fangen. Sie dachte an ihr früheres Leben als Staatsan-
wältin; erst bei der Abteilung Betrugsdelikte, dann bei
der neu gegründeten Einheit für Sexualdelikte.
Der Fall Adrian Delaney war ihr erster in dieser Abtei-
lung gewesen. Er war extrem eifersüchtig gewesen. Er
hatte geglaubt, dass seine damalige Freundin ihn betrog
und war durchgedreht. Er hatte sie fast umgebracht.
Sie hatte ihn angeklagt. Obwohl Adrians gewiefter Ver-
teidiger alles versucht hatte, ihn frei zu bekommen, hatte
sie lebenslänglich für Adrian gefordert und dies auch er-
reicht.
Dann Anfang des Jahres der Anruf von Sam Hastings,
Chefwärter des Hochsicherheitsgefängnisses auf Rikers
Island, wo Adrian seine Strafe verbüßte und einem alten
Freund. Adrian war wegen guter Führung und erfolgreich
abgeschlossener Therapie entlassen worden, weil Rikers
überbelegt war. Ein paar Wochen später war die beste
Freundin seiner Ex-Freundin, die gegen ihn ausgesagt hat-
te, in ihrer Badewanne in Manhattan ertränkt worden.
Adrian war seitdem unauffindbar. Sie hatte die junge Frau
über den Tod ihrer besten Freundin informiert und sie ge-
warnt. Wenige Tage später hatte diese ihr eine Smith&
Wesson Kaliber .38 gezeigt, die sie sich zur Selbstverteidi-
gung zugelegt hatte.
Laura hatte in diesem Fall wie sie eine zentrale Rolle ge-
spielt. Adrian hatte vor Gericht gedroht, sie zu töten, sollte
er je wieder freikommen. Doch welcher Verurteilte drohte
denen, die ihn hinter Gitter gebracht hatten, nicht auf diese
Weise ? Ein letzter Sieg. Du hast mich weggesperrt, aber
du wirst trotzdem den Rest deines Lebens nicht mehr ruhig
schlafen.
Laura hatte in den vergangenen sieben Jahren unzählige
Sexualäter hinter Gitter gebracht, von denen ein Gutteil
wegen Überfüllung der Staatsgefängnisse wieder frei he-
rumlief. Clark, sie und die anderen würden Tausende
von Akten durchgehen müssen... Sie würden einen Tref-
fer landen. Sie mussten einfach.
Dumme Kuh ! Das passt doch alles viel zu gut zusammen.
Bist du blind oder was ?! Sie spürte ein drückendes Ge-
fühl in der Brust und holte mühsam Luft. Sie hatte Angst
und das machte sie wütend. Sie hatte viel zu lang in ihrem
Leben in Angst gelebt.
Verdammtes Arschloch, mich kriegst du nicht !
Sie hörte das Getriebe des Aufzugs geräuschvoll ansprin-
gen. Es jammerte und kreischte gotterbärmlich, während
der Aufzug langsam nach oben zuckelte. Sie ging ihm ent-
gegen.

Es war kurz nach Elf, als ich den rostverkrusteten Aufzug
in dem schmalen, etwas schäbigen Ziegelbau betrat, in dem
das Sexual Assault Detail untergebracht war. Seit zehn Jah-
ren war SAD hier im Tenderloin untergebracht, zwischen
Bordellen, Stripbars, viel Neon und Drogenlaboren. Pros-
tituierte flanierten und Drogendealer verkauften ihre Ware
am hellichten Tag. Dass im dritten Stock unseres Gebäudes
nur für diesen Bezirk gegründete Einsatzgruppen von Dro-
gendezernat und Sitte operierten, war ihnen scheißegal.
Mehr noch: Unsere Anwesenheit in ihrem Revier wurde so-
gar geduldet.
Während der ruckelnden Fahrt in den vierten Stock
schweiften meine Gedanken ab...
Mein Vater Jordan hatte SAD vor zehn Jahren gegründet,
als Reaktion die grausamen Morde an meiner Mutter vor
25 Jahren und an meiner Schwester Olivia vor zwölf Jah-
ren. Das Department hatte Dad dazu bewegen wollen, die
Polizei zu verlassen. Er war persönlich in seine Arbeit, da-
mals noch bei der Mordkommission, involviert gewesen
und seine berufliche Objektivität nicht mehr gewahrt. Doch
Dad hat es irgendwie geschafft, sich zu halten. Er hat mir
nie gesagt, wie. Dad kämpfte fünfzehn Jahre lang für seine
Sache und bekam schließlich Anfang 1972 seinen Willen.
SAD bekam seine Büros nicht im Hauptquartier in der Bry-
ant Street, sondern in diesem Haus. Wir waren so etwas wie
ein notwendiges Übel für die Chefetage des SFPD, bekamen
aber so gut wie keine Unterstützung von ihr. Wir mussten das
baufällige Haus selbst herrichten, Elektrik, Treppen, Böden
erneuern und ausbessern. Auch um die Möblierung mussten
wir uns selbst kümmern. Doch jetzt sah es anders aus. Wir
hatten einen guten Ruf und Aussicht auf Arbeitsräume im Jus-
tizpalast. Wir blieben im Rotlichtviertel. Wir waren zehn Jahre
dort gewesen und hatten es lieb gewonnen...

Mit einem Ruck hielt der Aufzug. Quietschend öffneten sich
die Türen und ich betrat einen einzelnen, großen Raum, etwa
300 qm groß. Ursprünglich waren hier vier Wohneinheiten
gewesen.
Leigh begrüßte mich. "Was ist mit deiner Lippe passiert ?"
"Rafe hat mir eine runtergehauen."
Sie hob die Augenbrauen. "Und weswegen ?"
"Ich habe ihm von Lauras Tod erzählt..."
"Du bist in so was nicht gerade zimperlich, aber ich glaube
nicht,dass Rafael dich nur deswegen geschlagen hat."
"Wir haben uns gestritten..."
"Oh, Clark, hättet ihr eure lächerlichen Animositäten nicht
einmal beiseite lassen können ?"
Ich ging an ihr vorbei zu meinem Schreibtisch und ließ mich
in meinen etwas zu kleinen Bürostuhl sinken.
"Ich wusste nicht recht, wie ich anfangen sollte... Ich fragte
ihn, ob er und Laura... was miteinander hätten... Ich hatte
so ein Gefühl..."
"Was hätte das ausgemacht ?"
"Wie ich es ihm am besten beibringe. Das ist kein Fremder,
sondern mein Bruder, wie immer er auch sein mag. Das ist
was ganz anderes, etwas Persönlicheres. Er hat einen Ver-
lobungsring aus der Hosentasche gezogen."
"Wow."
"Also sagte ich ihm die ungeschönte Wahrheit. Das war ich
schuldig. Ihm stiegen Tränen in die Augen wie jedem norma-
len menschen Wesen, der vom Tod seiner Freundin erfährt.
Er hat sie runtergeschluckt, Scavo, und machte einfach wei-
ter, als sei sie nur ein weiterer Fall für die Statistik. Ich bin
hochgegangen wie eine Rakete. Ich habe ihn angeschrien,
was er von seiner Professionalität habe, wenn er nicht mal
um den Menschen weinen könne, den er liebt. Dass er sich
dafür schämen solle... Darum hat er mir eine gelangt." Mom
erwähnte ich nicht.
"Ihr seid viel zu emotional."
"Du meinst, ich sei zu emotional."
"Nein, ihr beide. Er hätte nie so reagiert, wenn sie ihm egal
gewesen wäre. Oder das, was du ihm gesagt hast."
Ich schwieg.
Sie ging zu ihrem Schreibtisch, der meinem gegenüber lag.
"Ich habe einen vorläufigen Bericht geschrieben und die not-
wendige Bürokratie gemacht. Wir müssen nur noch unter-
schreiben."
Als das erledigt war, machten wir uns auf den Heimweg.


Freitag, 25. Juni 1982, kurz nach Mitternacht

Liberty lag auf der Couch und schlief. Der Fernseher lief,
CNN. Es war ruhig im Haus. Hannah, Olivia und Clark
schliefen. Lorelei war nicht da. Ich ging wieder ins Wohn-
zimmer, um den Fernseher auszuschalten, und schlug mit
dem Ellenbogen gegen den Türrahmen. Es tat weh.
"Verdammter Mist !"
Libby setzte sich auf und lächelte mich schläfrig an. "Hey,
Dad."
"Hey. Seit wann guckst du Nachrichten ?"
"Ach, so dann und wann. Ist ganz nützlich, wenn man Politik-
wissenschaften studiert, weißt du ?"
"Gutes Kind", sagte ich trocken. "Du bist zu alt, als dass ich
dir sagen könnte, du sollst schlafen gehen."
"Ich wollte eh gehen. Gute Nacht, Daddy." Sie küsste mich
auf die Wange und ging schlafen. Ich ging zum Wohnzimmer-
schrank und holte den Bushmills raus. Ich schenkte mir einen
großen ein und trank ihn pur. Der Whiskey wärmte angenehm
von innen und ich fühlte mich besser. Dann gingen wir schlafen.

Clark war in dem Moment ins Koma gefallen, als sein Kopf
das Kopfkissen berührt hatte. Er war bis mittags im Gericht
gewesen und hatte in seiner Funktion als forensischer Psychi-
ater in zwei anderen Fällen ausgesagt und dann Papierkram
erledigt. Schließlich der Fund von Laura und der Streit mit
seinem Bruder. Er war ziemlich geschlaucht. Nicht mal für
einen Gute-Nacht-Kuss hatte es gereicht.
Leigh traten Tränen in die Augen.
Es tut mir so Leid. Ich konnte dich nicht beschützen. Du woll-
test es nicht. Woher sollte ich wissen, dass du es allein nicht
schaffst, wie du es behauptet hast ?
Sie weinte lautlos. Alles ging zum Teufel und sie konnte nichts
dagegen tun. Es lag nicht mehr in ihrer Hand, sondern in seiner.
Ihr letzten Gedanken, bevor sie erschöpft einschlief, waren:
Wo bist du jetzt, Adrian ? Was heckst du aus ?

In dieser Nacht hatte er den besten Sex seit langem. Ein ganz
besonderer Kick. Er war in dem Haus, in dem er in der vorhe-
rigen Nacht seine untreue Schlampe von Ex-Freundin für ihren
Verrat bestraft hatte. Abbie, mit der er sich gerade intensiv be-
schäftigte, hatte er eingeladen, seine neue Wohnung zu "besichti-
gen." Und wie sie sie besichtigt hatten. Er lächelte in ihr geröte-
tes Gesicht, war aber nicht wirklich bei der Sache. Er hatte Ab-
bie eine mächtige Dosis Schlaftabletten in den Rotwein gemischt
und war dann zu seiner Exfreundin gegangen. Wider Erwarten
hatte sie sich heftigst gewehrt, was das Ganze noch schöner ge-
macht hatte.
Der eigentliche Kick war nicht, hier am Ground Zero Abbie zu
vögeln, sondern seine Begegnung mit Scavo. Er hatte sich bei
seinem ehemaligen Verteidiger nach ihr erkundigt und erfahren,
dass Scavo New York verlassen und nach San Francisco ge-
gangen war. Wie seine Ex. Er hatte gedacht, dass sie bei der
hiesigen Staatsanwaltschaft arbeitete und sich als alter Freund
ausgegeben, der sie nach einigen Jahren mit seinem Besuch
überraschen wollte. Sie hätten sich lang nicht gesehen. Er sei in
der Stadt und wolle den Kontakt wieder aufleben lassen. Die
freundliche Dame am Empfang hatte herumtelefoniert und ihm
schließlich gesagt, dass Miss Scavo nicht bei ihnen, sondern bei
der Polizei arbeitete.
Er hatte es nicht fassen können. Die Armani-Schlampe war ein
Cop ? Das wollte er sehen. Der Zufall hatte es gewollt, dass er
Abbie gerade hatte nach Hause bringen wollen, kurz nachdem
seine Ex gefunden worden war. Streifenwagen hatten den Zu-
gang zum Haus blockiert. Nur Spurensicherung, Gerichtsmedizin
und Ermittler hatten Zutritt. Nachbarn und Schaulustige scharten
sich um die Uniformierten und bestürmten sie mit Fragen. Abbie
und er mittendrin.
Dann war nur noch SIE da gewesen. Alles war bedeutungslos
geworden. Sie war zehn Jahre älter als damals. Er schätzte sie
auf 38, höchstens 40 Jahre. Knapp Einssiebzig groß, zarte, zer-
brechliche Figur. Langes, welliges, schwarzes Haar und blaue,
durchdringende Augen. Die Wangenknochen ein wenig zu aus-
geprägt und die Nase ein wenig zu schmal und zu spitz. Doch
der Mund... Volle rote Lippen... Er hatte einen Ständer gekriegt.
Und was für einen ! Was diese Lippen noch alles anstellen wür-
den vor ihrem Tod...
Ihr Partner und sie hatten ihre Marken hochgehalten und sich
durch die Menge gedrängt. Ihr Arm hatte ihn gestreift. Kurz
bevor ihr Partner - ein riesiger Kerl mit schwarzen Haaren und
Augen - und sie im Haus verschwunden waren, hatte sie sich
kurz umgedreht und den Blick über die Schaulustigen wandern
lassen. Bei ihm war er hängengeblieben. Sie hatte ihn kurz und
intensiv gemustert und dann die Stirn gerunzelt. Dann war sie im
Haus verschwunden.
Als sie ein paar Stunden später wieder rausgekommen war, hat-
te sie ihn wieder angestarrt. Er hatte leicht gelächelt. Na, erkennst
du mich ? Sie hatte den Kopf geschüttelt und war in Begleitung
eines Streifenpolizisten gegangen, während ihr Kollege geblieben
war, um mit einem Mann im dunklen Anzug zu sprechen. Die bei-
den schienen Brüder zu sein. War seine Ex mit ihm zusammenge-
wesen ? Er hatte beobachtet, wie die beiden erst miteinander und
einem anderen Kerl, augenscheinlich von der Spurensicherung, ge-
redet und dann lauthals gestritten hatten und wie zu guter Letzt der
Anzug dem Cop eine reingehauen hatte. Interessante Familie, hatte
er gedacht.
Und nun war er hier. Ein paar Meter von dem Ort entfernt, wo er
den nächsten Schritt getan hatte. Jetzt war nur noch Scavo übrig.
Er freute sich schon auf ihr Wiedersehen. Bei diesem Gedanken
kam es ihm und er erlebte einen Orgasmus, der nicht von schlech-
ten Eltern war. Danach sackte er über Abbie zusammen und schlief
ein. Er lächelte im Schlaf.
 



 
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