Teil 4

losvu

Mitglied
Freitag, 25. Juni 1982, 9 Uhr

Die Räumlichkeiten der Gerichtsmedizin erinnerten entfernt
an eine Großküche. Kacheln, Leuchtstoffröhren, deren
unbarmherzig hell strahlendem Weiß nichts verborgen blieb,
deckenhohe Schränke, in denen die Arbeitsutensilien ver-
wahrt wurden. Die linke Wand des Gangs, der von den
Umkleideräumen zum großen Autopsiesaal führte, war mit
etwa 60 x 60 cm durchmessenden Rechtecken mit Griffen
daran gepflastert. Kühlfächern.
Im großen Autopsiesaal war nur ein einziger Tisch von fün-
fen belegt. Gabriel und seine Kollegin Irvine Hale erwarte-
ten uns schon. Gabe war überrascht, als er Rafael und
Michael hinter uns bemerkte. Scavo wandte den Blick von
der Toten ab.
"Was für ein nettes kleines Familientreffen", kommentierte
Gabe. "Dass du hier bist, verstehe ich noch", sagte er dann
an Mike gewandt, der eine Spurensicherungsausrüstung
mitgebracht hatte, falls weiteres Beweismaterial anfiel, "aber
du ?"
"Ich bin der Stellvertretende Bezirksstaatsanwalt. Kein Ge-
setz verbietet mir, hier zu sein."
"Warum tust du dir das an, Rafe ?"
"Ich habe sie geliebt. I-Ich habe einfach das Gefühl, dass
ich es ihr schulde."
"Ich werde nicht anders mit ihr umgehen als mit jedem ande-
ren, der auf diesem Tisch landet. Das kann ich mir nicht leis-
ten. Das ist dir hoffentlich klar."
"Ja."
Gabe gab den Blick auf die Tote frei. Laura Bellini war noch
immer nackt. Sie lag auf dem Rücken. Ihr Kopf wurde von
einer Stahlstütze gestützt. Das kalte Licht verbarg nichts.
Gabe begann mit der äußeren Untersuchung der Leiche.
"Weiße Frau, 35 Jahre alt, 1,76 m groß, 58 kg. Name:
Laura Nicoletta Bellini."
In der folgenden Stunde dokumentierten und vermaßen
Irvine und er jeden Bluterguss, jeden Schnitt, jeden Stich,
jeden gebrochenen Knochen.
Gabriel bat Rafael ein letztes Mal, den Raum zu verlassen.
"Ich kann keine Rücksicht auf das nehmen, was..."
"Mach einfach weiter, Gabriel."
Mit einem Längsschnitt vom Hals bis zur Scham öffnete
Gabe die Leiche und Brust- und Bauchhöhle lagen frei. Mit
einer Art Beißzange durchtrennte er die Rippen und ent-
fernte das Brustbein. Er entnahm Herz und Lungen, wog
und untersuchte sie. Irvine präparierte Proben für die Labor-
untersuchungen. Dann entnahmen sie nach und nach die
Organe aus der Bauchhöhle und nahmen Proben. Magen,
Blase und Darm wurden aufgeschnitten und ihre Inhalte in
Gläsern gesichert. Dann untersuchten sie die restlichen
Organe.
Schließlich drückte Gabe seiner Kollegin ein Skalpell in die
Hand. Sie machte einen Schnitt, der vom linken Ohr über
den Hinterkopf bis zum rechten Ohr reichte. Dann zog sie
mit einem Ruck die Kopfhaut nach vorn und legte den Schä-
del frei. Laura, die bereits ihr Leben verloren hatte, verlor
nun im wahrsten Sinne des Wortes auch noch ihr Gesicht.
Es sank zu einem schlaffen Häufchen Haut mit Haaren da-
rauf zusammen.
Mit der Strykersäge öffnete sie das Schädeldach. Das be-
sondere ist, dass das Sägeblatt nicht rotiert, sondern den
Schädel mit Vor-Zurück-Bewegungen aufhebelt. Sie ent-
nahm das Gehirn und untersuchte es.
Völlig unbeteiligt diktierten Gabe und sie ihre Befunde in
das Mikrofon, das über dem Stahltisch hing.
Ihr Tod musste eine Erlösung für sie gewesen sein. Laura
hatte beidseitige Brüche der Jochbeine und eine gebroch-
ene Nase. Sie hatte ein subdurales Hämatom in Höhe des
Schädeldachs und ein sogenanntes Brillenhämatom um das
linke Auge, einen dunklen Bluterguss, der von dem Schä-
deltrauma herrührte. In ihrem Schlafzimmer hatte sich eine
zerbrochene Nachttischlampe mit blutigem Fuß befunden.
Ihr Schädel hatte eindeutig damit Bekanntschaft gemacht.
Dann die Halswunde, die zum Tod geführt hatte. Am Kehl-
kopf waren deutliche Spuren der Klinge zu sehen. Das
Zungenbein war gebrochen, höchstwahrscheinlich durch
das Würgen vor ihrem Tod. Ein gebrochenes Zungenbein
an sich ist nicht tödlich, aber dennoch ein gutes Indiz für
einen unnatürlichen Tod.
Keiner der Schnitte und Stiche, die über ihren Körper ver-
teilt waren, war tödlich gewesen. Sie waren nur wenige Mil-
limeter bis einen Zentimeter tief. Sexueller Sadismus...
Weitere Blutergüsse zeugten von Schlägen und ihrem Kampf
um ihr Leben. Und sie hatte sich gewehrt. Fast alle Fingernä-
gel waren entweder abgebrochen oder eingerissen. Sie hatte
auch Schnitte an den Fingern. Bis auf den linken Ringfinger,
der seltsamerweise als einziger heil geblieben war, waren ihre
Finger gestaucht. Zwei waren gebrochen. Die Mittelfinger.
Ein interessantes Detail.
Leber, Nieren und Milz waren geschwollen und hatten einge-
blutet. Schläge und Tritte...
An den Geschlechtsorganen zeigten sich Spuren von sexuel-
ler Tätigkeit. Die Vaginal-Schleimhaut war eingerissen. Ein
Indiz für Vergewaltigung.
Ich ballte die Hände zu Fäusten. Es würde mir ein Vergnügen
sein, den Kerl, wenn wir ihn hatten, höchstpersönlich in die
Gaskammer von San Quentin zu befördern. Aber zuerst muss-
ten wir ihn finden und dafür mussten wir Laura Bellinis Vergan-
genheit durchleuchten. Wie weit wir zurückgehen mussten,
konnte ich zu jenem Zeitpunkt nicht ahnen. Und dass Leigh der
Schlüssel zur Lösung des Falls war, erst recht nicht. Aber ich
greife vor...

Nachdem alle Befunde aufgenommen waren, legten Irvine und
Gabe die Organe - bis auf das Gehirn - zurück und vernähten
die Schnitte. Laura lag nun wieder auf dem Tisch wie zu Beginn.
Nur Gabes kunstvolle Nähte zeugten von der Sektion. Irvine
nahm einen Schlauch, der am Fuß des Tisches angebracht war
und spülte die Tote damit ab. Reste von Blut und anderen Spu-
ren der letzten drei Stunden wanderten in den Abfluss am Ende
des Tisches.
"Entschuldigt mich", sagte Rafe und verließ den Raum.
Gabe und Irvine hoben die Tote auf eine Bahre und rollten sie
zu ihrem Kühlfach. Dort würde sie bleiben, bis ihre Familie sie
abholte.
"Hast du ihre Angehörigen verständigt, Scavo ?"
"Ja. Sie kommen heute nachmittag."
"Okay. Wir müssen ins Archiv und in ihr Büro, ihre ganzen
Fälle durchgehen..."
"Das sind Hunderte, wenn nicht Tausende !"
"Wir brauchen nur die, die wieder frei herumlaufen. Das dürften
etwas weniger sein. Sieben Jahre sind nicht so lang. Die Gesetze
für Sexualdelikte und die Auflagen für solche Täter sind ziemlich
streng, es dürften also nicht allzu viele sein."
"Ich werde euch helfen", sagte ein ziemlich grün aussender Rafael
von der Tür her. "Die meisten Fälle haben wir gemeinsam bearbei-
tet."
"Willst du wirklich-?
"Hör auf, mir zu widersprechen ! Bitte, ich muss einfach irgendwas
tun, sonst werde ich verrückt."
"Schon gut. Gehen wir."
 



 
Oben Unten