Teil 8

losvu

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17.54 h

Das Justizgebäude ist ein L-förmiger Bau von riesigen Aus-
maßen, eingegrenzt von Siebter Straße, Bryant Street, Har-
rison Street und einer kleinen Seitenstraße. Seine Vorder-
front misst beinahe 150 Meter. Es hat, Erd- und Kellerge-
schoss mit Archiv mitgerechnet, neun Stockwerke. Jedes
der Stockwerke hat bald 9000 Quadratmeter Arbeitsfläche.
Das oberste und ein Teil des sechsten Stockwerks wird vom
städtischen Gefängnis und einem kleinen Büro des Sheriff-
Department eingenommen.
Im fünften Stockwerk residiert die Chefetage der Polizei.
Der Chief, seine Stellvertreter, Abteilungsleiter, die Polizei-
kommission und ein riesiger Verwaltungsapparat.
In den übrigen Etagen sind unter anderem die meisten Spe-
zialeinheiten der Polizei - Morddezernat, Drogendezernat,
Sitte, etc.- die Staatsanwaltschaft, Gerichtssäle und meh-
rere Kantinen untergebracht.
Die Gerichtsmedizin befindet sich im Erdgeschoss in der
schmalen Seite des L, die zur Siebten Straße hinausgeht.
Im ersten Stockwerk direkt darüber befindet sich das
Kriminaltechnische Labor. Die Laborräume und Büros
sind kleine, dunkle Räume voller alter Gerätschaften, ver-
teilt auf knapp 500 Quadratmetern. Im Gegensatz zur New
Yorker Spurensicherung ist es ein Witz, dachte Leigh, als
sie durch die grüne Stahltür ging, an deren linker Hälfte ein
schlichtes Metallschild "Kriminaltechnisches Labor" ange-
bracht war.

Als erstes ging sie ins Blutgruppen-Labor, wo Linda Seger
arbeitete. Die andere Frau saß an einem provisorischen
Schreibtisch und hatte den Telefonhörer ans linke Ohr ge-
drückt.
"Komm schon, Scavo", murmelte sie vor sich hin. "Wo
steckst du ? Ich hab Neuigkeiten für dich..." Schließlich
legte sie auf. Um sie nicht zu erschrecken, klopfte Leigh
leise an den Türrahmen.
Seger drehte sich um und lächelte. "Darum haben Sie nicht
abgenommen. Kommen Sie rein. Setzen Sie sich." Sie zog
einen Bürostuhl mit Rollen heran und Leigh setzte sich.
Dann kam sie zur Sache.
"Der größte Teil der Blutproben, die ich untersucht habe,
ergab die Blutgruppe A negativ. Die Blutgruppe des Opfers."
Leigh erinnerte sich an die Wohnung, die Wunden, die
Laura davongetragen hatte. Das war eigentlich klar. Aber...
"Der größte Teil ? Nicht alles ?"
Ein Lächeln huschte über Segers Gesicht. "Im Abfluss in der
Badewanne wie auch auf dem Teppich rechts vom Bett und
im Korridor waren Blutspuren mit der Blutgruppe 0 positiv.
Das Blut stammt höchstwahrscheinlich vom Täter."
"Sie hat ihn verletzt. Gut. Das könnte nützlich sein, wenn
wir einen Verdächtigen festnehmen..."
"Im Schlafzimmer waren ein paar stark beschleunigte Sprit-
zer. Sahen aus wie kleine Ausrufungszeichen. Sie zeigten in
Richtung Schrank."
"Solche entstehen doch bei Verletzungen durch stark be-
schleunigte Gegenstände wie zum Beispiel... Kugeln ?"
Seger nickte.
"Sie zeigten zum Schrank... Sie muss auf ihn geschossen und
getroffen haben."
"Aber ich schätze, es war keine allzu schwere Verletzung",
sagte Seger. "Es waren ein paar Tropfen in der Umgebung
der Badewanne und auf dem Korridor. Er hat darauf geachtet,
nicht in ihr Blut zu treten, darum war die Spur einigermaßen gut
zu erkennen. Ich würde sagen, ein Streifschuss. Sonst hätten
seine Blutmuster anders ausgesehen. Die Tropfen waren relativ
weit voneinander entfernt. Bei einem Durchschuss oder einer
noch schwereren Verletzung, wäre die Tropfenspur eher zusam-
menhängend und verschmiert gewesen, weil das Blut mit hoher
Geschwindigkeit aus der Wunde ausgetreten wäre und er sich
nur mühsam hätte fortbewegen können. Es hätte also mehr
Blutspuren gegeben, weil eventuell große Blutgefäße verletzt
worden wären."
"Das sind wirklich gute Neuigkeiten."
"Ich bin noch nicht fertig. Haben Sie die Haare vergessen ?"
"O ja, die Haare. Was ist mit denen ?"
"Es waren Kopf- Körper- und Schamhaare."
"Das sagten Sie gestern schon."
"Nein, gestern war das eine Vermutung. Heute ist es eine
Gewissheit. Und noch was: Sie sind nicht schwarz."
Leigh verstand nicht. "Für mich sahen sie ziemlich schwarz
aus, als Sie sie gestern aus dem Abfluss geholt haben."
"Viele der Haare stammten von Laura Bellini, doch nicht
alle. Die Haare des Täters sind schwarz gefärbt. Die rich-
tige Haarfarbe ist blond."
Ein lächelnder Mann vor einer Polizei-Absperrung. Schwar-
ze Haare. Gefärbt. In Wahrheit blond. Es passte. Grüne
Augen. Kontaktlinsen. Sie dachte sich beides weg. Es passte.
Blutgruppe A und 0... Ein Gerichtssaal in New York. Ein
tobender Mann, der von zwei Gerichtsdienern aus dem Saal
geschleppt wird. Ich werde dein Ende sein, hörst du ?! Ich
werde das Letzte sein, was du siehst, bevor du stirbst !
Alpha und Omega. Anfang und Ende. Mit Adrian hatte alles
angefangen und durch ihn hatte alles geendet...
"He, Leigh. Geht's Ihnen gut ?"
"Ja. Haben Sie sonst noch was ?"
"Nein, das war's fürs Erste."
"Okay. Danke."

Dann ging sie in den Arbeitsraum von Archie Varella. Der
junge Mann hatte bereits die erkennungsdienstlichen Finger-
abdruck-Karten der 36 Verdächtigen erhalten und verglich
sie nun mit den Fingerabdrücken von der Schranktür aus
Laura Bellinis Wohnung. Als er sie kommen sah, legte er
das Vergrößerungsglas zur Seite und begrüßte sie. Doch
er konnte ihr keinen Treffer liefern.
"Tut mir Leid."
"Das macht nichts. Versuchen Sie's weiter."
"Er ist nicht von hier, oder ?"
"Was meinen Sie ?"
"Der Typ, der das getan hat. Ich bin zwar nur ein kleiner
Techniker, aber ich glaube nicht, dass er so blöd wäre,
seine Fingerabdrücke zu hinterlassen, wenn er von hier
wäre oder zumindest aus Kalifornien käme."
Das ist was dran, dachte sie. "Wir müssen und werden
alles in Betracht ziehen, Archie. Aber solange wir keine
andere Spur haben, haben wir nur diese 36 Männer."
Er nickte.
Sie verabschiedete sich und wandte sich zum Gehen.
"Er macht das nicht zum ersten Mal, oder ? So, wie sie
aussah..." Er schüttelte sich. "Ich glaube, niemand legt
gleich ein solches Debüt hin. Das sah echt schlimm aus."
Er hatte zwei Jahre Zeit zu üben, dachte sie, und es beim
ersten Mal verpatzt.
Sie stimmte ihm zu und ging dann.

Als nächstes ging sie ins Ballistik-Labor am Ende des
Ganges. Hoffentlich hatte Cora die Waffe schon unter-
sucht. Doch auch Cora Hernandez entschuldigte sich.
"Ich hatte noch weitere neun Waffen, die ich vorher
untersuchen musste. Darunter eine, mit der ein Neun-
jähriger erschossen worden ist. Aber du kommst ge-
rade richtig. Ich wollte gerade mit ihrer Waffe anfangen."
Sie ging in den angrenzenden Raum und Leigh sah sich
um. Der Raum maß vielleicht drei mal drei Meter. Eine
einzige große Arbeitsfläche, die an drei Wänden entlang-
lief. In Kopfhöhe hingen mehrere Hängeschränke. Ver-
schiedene Werkzeuge lagen herum.
Cora kam mit einem Papierbeutel zurück und holte die
Waffe heraus.
"Willst du zuschauen oder soll ich dich anrufen, wenn ich
fertig bin ?"
"Ich bleibe erst mal."
Cora schaute sich die Waffe genauer an. "Smith&Wesson,
Kaliber .38, Single Action."
Das bedeutet, dass der Hahn, dessen Spannung die Trom-
mel mit den Patronen weiterschiebt, jedes Mal neu ge-
spannt werden muss, wenn man schießen will.
"Ich habe in der Wohnung zwei Projektile gefunden. Eins
steckte im Türrahmen der Schranktür, das andere ist an
etwas abgeprallt und weit in den Schrank hinein geflogen.
Ich habe es ganz hinten an der Wand gefunden. Blut und
Hautfetzen hafteten daran. Ich hab es zuerst Linda gegeben,
damit sie es untersuchen konnte."
Sie schwenkte die Trommel aus dem Rahmen der Waffe.
"Fünf Schuss. Drei Patronen sind noch drin." Sie nahm die
restlichen Patronen heraus, nahm eine Art Schraubenzieher
und zerlegte die Waffe in atemberaubender Geschwindig-
keit. Sie untersuchte gewissenhaft jedes einzelne Teil. Be-
sondere Aufmerksamkeit ließ sie Lauf und Trommel zu-
kommen. "Ablagerungen von Verbrennungsstoffen im
Lauf und in der Trommel. Die Waffe wurde vor kurzem
benutzt und nicht gereinigt. Wurde bei der Autopsie ein
Test gemacht, ob Rückstände an ihren Händen waren ?"
Leigh verneinte.
"Dann machen wir ihn nach. Das Zeug ist verdammt hart-
näckig. "
Cora baute die Waffe wieder zusammen und sie gingen
in den angrenzenden Raum. Er war nicht größer als der,
aus dem sie gekommen waren.
Die Wände waren vollkommen kahl. Keine Schränke,
Regale oder sonstwas. Dafür ein großer Wassertank mit
einer Art Trichter auf der Oberseite und eine großen
Apparatur auf einem kleinen Tisch daneben. Außerdem
lag eine Waffe auf dem Tisch, die genauso aussah wie
die aus Lauras Wohnung.
"Ich werde jetzt mit jeder der Waffen ein paar Test-
schüsse in den Tank abgeben. Das Wasser bremst die
Projektile, hat aber keine Auswirkungen auf die Spuren,
die der Lauf auf ihnen hinterlässt. Comprende ?"
Leigh nickte.
Cora legte Ohrenschützer an und zog eine Schutzbrille
auf. Sie reichte auch Leigh ein paar Ohrenschützer und
bedeutete ihr, ein wenig zur Seite zu gehen. Dann nahm
sie die Waffe aus Lauras Wohnung und lud sie mit Pa-
tronen aus der Schachtel, die auf dem Tisch stand. Sie
steckte die Waffe in den Trichter und schoss zweimal
in den Tank. Beide Mal spritzte Wasser hoch. Dann
fischte sie die Projektile mit einem kleinen Netz aus dem
Tank. Dasselbe wiederholte sie mit der anderen Waffe.
Als sie gemeinsam am Vergleichsmikroskop saßen und
die Spuren, die der Lauf auf den Projektilen hinterlassen
hatte, betrachteten, lächelten sie beide: Sie waren voll-
kommen identisch. Jetzt war sicher, dass die Waffe tat-
sächlich benutzt worden war und nicht nur als grausiger
Blickfang gedient hatte.

Als Letztes ging sie zum Leiter der Nachtschicht, Michael
Craig, und fragte ihn, ob er Einbruchsspuren jeglicher Art
gefunden habe.
"Ich habe jedes relevante Schloss im Haus der Shepards
untersucht. An der Hintertür wurde ich fündig. Er hat sie
mit einem handelsüblichen Dietrich geknackt, einem, wie
sie Schlüsseldienste verwenden, wenn man sich ausge-
sperrt hat. Nicht selber gebaut, obwohl es die weitaus
interessantere Aufgabe gewesen wäre, einen solchen
zurück zu verfolgen. Er ist die Feuertreppe rauf und hat
die Fluchttür im Schlafzimmer geknackt."
Leigh runzelte die Stirn. Es hatte nur zwei Türen in Lau-
ras Schlafzimmer gegeben. Eine die vom Korridor ab-
ging und... "Den begehbaren Kleiderschrank ?"
"Ja."
"Wer zum Teufel baut einen Fluchtweg durch einen begeh-
baren Kleiderschrank ?"
"Sie hat den Raum als begehbaren Kleiderschrank benutzt.
Das muss nicht heißen, dass es einer ist."
"Okay, stimmt. Sonst noch was ?"
"Nein."
"Gut..."
"Den Bericht habe ich hier." Er gab ihn ihr.
"Danke."
Sie verabschiedeten sich und Michael wandte sich der
Bürokratie auf seinem Schreibtisch zu. Leigh beobachtete
ihn. Gabriel, Michael und Rafael. Die Heilige Dreifaltigkeit,
wie Clark sie manchmal nannte. Sie dachte an den Moment,
als er ihr seine Brüder zum ersten Mal vorgestellt hatte. Sie
war damals ganz neu bei der Polizei gewesen. Sie hatte ge-
dacht, als ehemalige New Yorker Staatsanwältin könnte sie
nichts mehr überraschen, doch der Anblick der vier Männer,
die vollkommen gleich aussahen... Sie hatte ziemlich blöd
ausgesehen mit hängendem Unterkiefer. Doch sie hatte sehr
schnell gelernt, sie auseinander zu halten.
"Ist noch was, Scavo ?" Er sah sie abwartend an.
"Nein, nichts." Sie wandte sich zum Gehen. "Wie kommt es,
dass ihr alle bei der Polizei gelandet seid ?", platzte sie heraus.
Die Frage beschäftigte sie schon, seit sie nach San Francisco
gekommen war. Bis jetzt hatte sie ihre Neugier immer brem-
sen können.
"Was meinst du ?"
"Ihr seid sechs Geschwister. Rafe, Clark, Dean, Gabe,
Frances und du. Und ihr seid alle bei der Polizei oder in
einem mit ihr assoziierten Beruf. Wieso ?"
Er legte den Kopf schief und überlegte. "Als ich zwölf war,
wurde unsere Mutter ermordet", sagte er geradeheraus.
"Wir wollten Antworten auf unsere Fragen und alle, die sie
uns hätten geben können, sagten, wir müssten sie uns selbst
suchen. Darum sind wir hier."
Leigh zog scharf die Luft ein. Sie kam sich mit einem Mal
schäbig vor, gefragt zu haben.
"Das konntest du nicht wissen", sagte Michael.
"Es tut mir sehr Leid. Ich weiß, wie es ist, wenn man je-
manden, den man so gut kennt, verliert."
"Wen hast du verloren ?"
Sie dachte an ihre Kindheit in einer schicken Villa in einem
schicken New Yorker Vorort. Großes Haus, großer Garten,
Privatschulen, alles, was sie je hatte haben wollen. Doch der
Preis, den sie hatte zahlen müssen, war zu hoch gewesen...
"Mich selbst", sagte sie leise. "Darum bin ich hier."
Sie ging.
Michael machte sich wieder an die Arbeit. Doch urplötzlich
warf er den Stift auf die Schreibtischplatte. "Verdammt !",
stieß er hervor, als er begriff, was sie eben gesagt hatte.
 



 
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