Tinas Reise

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Wakolbinger

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Lange hatte es geregnet. Viele Tage und viele Nächte hintereinander. Die meisten Tage saß Tina nur traurig am Fenster und sah hinaus in die graue Welt. Und in den Nächten hörte sie den Regen gegen die Scheiben prasseln. Den großen Menschen war es egal. Die meiste Zeit waren sie sowieso nicht daheim. Und wenn sie daheim waren, dann saßen sie vor dem Fernseher und starrten vor sich hin. Aus dem Fenster sahen sie nie. Nicht einmal den Regen hörten sie. So war Tina mit ihrem Ärger über den Regen alleine. Und ihr schien es, als würden mit jedem Tag die Wolken dunkler werden und die Regentropfen schwerer.

Bis sie eines Tages von einem Sonnenstrahl geweckt wurde. Sie blinzelte und öffnete langsam die Augen. Und sah die Sonne hoch am blauen Himmel stehen. Die Blätter der Bäume und das Gras auf der Wiese glänzten noch nass, doch der Regen war vorbei. Tina sprang auf aus dem Bett. Sie schlüpfte in ihre schönsten Gummistiefel, zog sich ihre schönste Jacke an, setzte sich ihre schönste Haube auf und stapfte in die Küche. Sie wollte auf eine Reise gehen.
„Pass auf dich auf Liebes, und geh nicht zu weit weg.“, sagte die Mutter, und gab ihr den Rucksack. Etwas zu trinken hatte sie eingepackt. Und ein Brot. Und eine Banane. Und so ausgerüstet ging Tina aus dem Haus.

Laut klatschten ihre Stiefel, wenn sie durch Pfützen ging. Und sie musste durch jede Pfütze gehen, weil die Sonne sich so lustig in ihnen spiegelte. So beschäftigt war sie damit, dass sie kaum aufsah.
Platsch, Platsch, Platsch ging es, und schnell trippelte sie zur nächsten Pfütze, wo es wieder Platsch, Platsch, Platsch ging. Platsch, Platsch Platsch. Platsch, Platsch, Stopp.
Irgendwas hörte sie. Eine kleine Melodie. Wie von einer Pfeife. Und es schien, als würde die Melodie aus der Hecke kommen. Was aber nicht sein kann. Bäume können nicht singen. Neugierig ging Tina weg von der Straße und bahnte sich einen Weg durch die dichten Sträucher. Auf der anderen Seite sah sie eine riesige Herde von Schafen auf einer riesigen Wiese grasen. Und unter einem Baum sah sie einen jungen Bub sitzen. Mit geschlossenen Augen saß er in der Sonne und spielte mit einer kleinen Pfeife aus Holz. Zuerst wollte Tina nicht auf ihn zugehen. Doch er spielte so schön, dass sie tief Luft holte und los stapfte.
„Hallo“
„Guten Tag kleines Mädchen.“
„Was machst du denn hier?“
„Was ich hier mache? Ich passe auf die Schafe auf.“
„Ich meine... die Musik...“
„Ach, du meinst das Flötenspiel? Das ist was ich mache. Auf Schafe aufpassen, Flöte spielen, in der Sonne sitzen. Das gehört alles zusammen.“
„Machst du das den ganzen Tag?“
„Den ganzen Tag. Solange es Sommer ist. Am Morgen stehe ich auf und bringe die Schafe hierher. Und dann passe ich den ganzen Tag auf sie auf.“
„Und spielst Flöte?“
„Und spiele Flöte.“
„Und sitzt in der Sonne?“
„Und sitze in der Sonne.“
Der junge Bub lächelte. Dann machte er seine Augen wieder zu. Er lehnte sich gegen den Baumstamm und begann wieder mit der Flöte zu spielen. Eine Weile blieb Tina noch neben ihm stehen. Dann dachte sie bei sich: „Dieser Bub hat ein schönes Leben. Aber ich will schauen, ob ich noch andere sehe“. Und so ging sie wieder zur Straße zurück.

Die Straße war inzwischen trockener geworden. Das Wasser in den Pfützen war versickert. Aus dem lustigen Platsch, Platsch Platsch wurde ein trockenes Tack, Tack Tack. Aber Tina freute sich auch darüber. Vor allem wurde die Sonne immer wärmer. Und so wurde ihr bald die Jacke zu heiß. Und da sie sowieso die Jacke in den Rucksack packen musste, dachte sie sich: „Da kann ich auch gleich was essen.“ Sie nahm die Banane aus der Tasche und setzte sich auf eine Bank neben der Straße. Die Bank war für größere Menschen gemacht, und so baumelten ihre Beine in den schönsten Gummistiefeln in der Luft. Während sie aß, sah sie sich ein bisschen um. Sie war auf einem kleinen Hügel, und rund um sie waren große Äcker. Und auf dem Acker neben sich sah sie einen Bauern arbeiten. Mit einer Schaufel und einer Hacke grub er die Erde um. Ab und zu stöhnte er und wisch sich den Schweiß von der Stirn. Aber dann machte er sich wieder fröhlich summend an sein Werk.
So fröhlich summte er, dass Tina aufstand und zu ihm ging.
„Hallo.“
„Hallo kleines Mädchen.“
„Wieso summst du so fröhlich?“
„Weil heute eine schöner Tag ist. Die ganze Woche hat es geregnet, nie bin ich zum Arbeiten gekommen. Und heute endlich spielt das Wetter mit.“
„Aber es ist ja anstrengend. Du schwitzt und stöhnst. Wie kannst du da noch so fröhlich summen?“
„Natürlich schwitze und stöhne ich. Es ist ja auch Arbeit. Aber sie gehört gemacht. Der Acker gehört bestellt, die Früchte müssen geerntet werden. Damit ich etwas zu essen habe. Und damit du etwas zu essen hast. Deshalb bin ich fröhlich. Es ist anstrengend, ja. Aber es ist eine gute Arbeit.“
„Da hast du recht, ich finde es gut, dass ich etwas zu essen habe.“
„Und ich freue mich, dass du dich freust. Da geht mir die Arbeit gleich viel leichter von der Hand.“

Lächelnd nahm der Bauer seine Schaufel wieder in die Hand. Er begann wieder mit seiner Arbeit. Und wie er arbeitete, nahm er wieder das Summen auf. Tina blieb noch eine Weile stehen. Sie sah zu, wie der Bauer mit großen Schwüngen tief in die Erde grub und dabei sang. Dann dachte sie sich: „Der Bauer hat eine gute Arbeit. Und ich finde es gut ,dass er sie macht. Aber ich will schauen, ob ich noch andere sehe.“ Sie winkte dem Bauer noch zu und ging zurück auf die Straße.

Inzwischen war es Mittag geworden. Die Sonne stand hoch am Himmel. Die Schatten der Bäume waren klein geworden. Zuerst ging sie noch schnell dahin. Klack Klack Klack gingen ihre Gummistiefel auf dem Asphalt. Doch langsam wurde sie müde. Und es wurde immer heißer. Und auch der Rucksack wurde ihr immer schwerer. Aber dann sah sie vor sich die Häuser eines Dorfes. „Dahin gehe ich noch. Dann suche ich mir einen schönen Platz. Und dann werde ich Mittagessen. Hunger habe ich, und der Rucksack ist dann auch nicht mehr so schwer.“ Gesagt, getan, und so trippelte sie noch schnell die letzten Meter in das Dorf. Im Dorf was es ruhig, nirgends konnte sie Leute sehen. Doch aus einem Haus hörte sie das Geräusch einer Säge. Ratsch, Ratsch, Ratsch ging es. Neugierig ging sie zu dem Haus und blinzelte durch das Tor.

In einer großen Werkstatt sah sie einen Mann stehen. Mit großen Schwüngen zog er an einer größten Säge. Sein Gesicht war verzogen vor Anstrengung und Schweißtropfen standen auf seiner Stirn. Tina klopfte an das angelehnte Tor. Der Mann hörte auf zu sägen und sah zu ihr hin.

„Hallo.“
„Hallo kleines Mädchen.“
„Was machst du denn hier?“
„Ich arbeite.“
„Und... was arbeitest du?“
„Ich bin ein Tischler.“
„Und was arbeitet ein Tischler?“
„Ich mache Bretter.“
„Wieso machst du Bretter?“
„Damit ich sie zuschneiden kann und einen Stuhl daraus machen kann.“
„Und was machst du mit dem Stuhl?“
„Ich verkaufe ihn.“
„Und wieso musst du den Stuhl verkaufen?“
„Weil ich Geld brauche. Und bevor du fragst, das Geld brauche ich um etwas zu essen zu kaufen. Um ein Haus zu kaufen. Um Gewand zu kaufen.“
„Das ist schade.“
„Wieso ist das schade?“
„Dass du etwas machst, was dir nie gehört. Du machst was Schönes und musst es weg geben.“
„Es muss sein. Ich brauche was zu essen. Und Stühle habe ich genug. Dafür bekommen dann andere Menschen Stühle. Das ist dann wieder schön.“
„Da hast du auch recht. Aber ich habe Hunger. Willst du nicht raus in die Sonne gehen mit mir und etwas essen?“
„Nein, tut mir leid kleines Mädchen. Ich habe heute viel zu tun und bin noch lange nicht fertig.“
„Dann ist das eine anstrengende Arbeit.“
„Ja, das ist es wohl.“

Der Tischler wandte sich wieder zurück zu seiner Säge. Ratsch, Ratsch, Ratsch, hörte Tina sie. Die Sägespäne flogen im Raum umher. Eine Weile blieb Tina noch stehen und sah der Säge zu. „Der Tischler hat ein anstrengendes Leben. Schade, dass er keine Zeit für mich hat. Aber ich will schauen, ob ich noch andere sehe.“ Als sie aus der Werkstatt ging, blieb sie kurz stehen. Sie nahm das Brot aus der Tasche. Kauend blieb sie für einen Moment stehen und genoss die Sonnenstrahlen, bevor sie weiter ging.
Noch immer waren keine Wolken zu sehen. Die Sonne schien. Nur ab und zu blies ihr ein warmer Wind die Haare ins Gesicht. Ab und zu kitzelten sie Tina so sehr an der Nase, dass sie laut lachen musste. Als sie schon weit weg vom Dorf war, sah sie am Straßenrand ein Auto stehen. Groß, silbern glänzend war es. Doch es bewegte sich nicht und machte kein Geräusch. Neben dem Auto stand ein Mann. Laut sprach er zu sich selbst. Unruhig ging er neben dem Auto auf und ab. Er hatte einen schwarzen Anzug an. Dazu trug er schwarze neue Schuhe mit harten Sohlen. Tack, Tack, Tack, hörte Tina sie. Zuerst wollte sie umdrehen und von dem Mann weggehen. Doch dann dachte sie sich: „Ich habe heute schon so viele Menschen gesehen. Und alle haben sie was Interessantes gesagt. Ich will mir auch diesen Menschen ansehen.“ So ging sie hin zu dem Mann. Der beachtete sie erst gar nicht. Erst als sie ihn anredete, sah er zu ihr.
„Hallo.“
„Guten Tag.“
„Wer bist du?“
„Ich bin ein Direktor!“
„Ein Direktor? Was ist das?“
„Das bedeutet, ich organisiere. Ich sage den Menschen, was sie machen sollen und wie sie es machen sollen. Und weil ich das so gut kann, hören die Menschen auf mich. Und dann machen was ich sage.“
„Das wird eine wichtige Arbeit sein“
„Ja, das ist es.“
„Und was machst du hier?“
„Wie sieht es denn aus? Mein Auto ist liegen geblieben.“
„Kannst du es denn nicht reparieren?“
„Sehe ich so aus? Nein. Für so etwas ist meine Zeit zu wertvoll. Ich hab mir einen Abschleppdienst organisiert. Und einen Mechaniker. Die kommen und reparieren mein Auto. Und ich kann mich dann wieder wichtigen Sachen widmen.“
„Menschen sagen was sie machen sollen?“
„Ja. Wie ich jetzt dem Mechaniker gesagt habe, er soll kommen und mein Auto reparieren.“
„Würde er das Auto sonst nicht reparieren?“
„Er würde. Irgendwann. Aber er würde nicht zuerst mein Auto reparieren. Und mein Auto ist wichtiger als andere Autos. Weil ich wichtiger bin als andere Menschen.“
„Weil sie ohne dich nicht wüssten, dass sie etwas für dich machen sollen.“
„So ist es.“

Dieses mal hatte Tina keine Lust stehen zu bleiben oder zu reden. Und auch der Mann sah nicht danach aus. Er ging schon wieder unruhig auf und ab. Tina sah er überhaupt nicht mehr an.
„Auch dieser Mann hat ein anstrengendes Leben. Aber ich glaube, dass er sich das ganz alleine so macht. Und ich glaube nicht, dass es schön ist. Nicht für ihn. Und nicht für die anderen. Ich will nicht mehr schauen. Ich will nach Hause gehen.“
So drehte sich Tina um. Langsam stapfte sie mit ihren wunderschönen Gummistiefeln auf der Straße dahin. Tap, Tap, Tap, ging es. Rings um sie wurden die Schatten der Bäume etwas länger. Der Wind wurde kälter und die Sonne ging langsam tiefer. Als sie durch das Dorf kam, hörte sie keine Säge. Sie blieb kurz stehen, um sich die Jacke anzuziehen. Aber dann packte sie die Neugierde und sie lugte in die Werkstatt. Dort stand ein wunderschöner Sessel. Aus Holz gebaut, geschliffen und poliert. Und Tina ging weiter. Als sie am Acker vorbeikam, war auch der Bauer weg. Aber der Acker war schön umgegraben, so dass im nächsten Sommer die Pflanzen wachsen können. Zuletzt schaute sie noch bei der Schafherde vorbei. Aber auch der Junge und seine Schafe waren schon lange weg. Zurück gelassen hatten sie nur eine abgegraste Wiese.
Zuletzt kam sie endlich heim von ihrer langen Reise. Warm wurde sie empfangen, sie wurde schon vermisst. Warmes Essen und gemütliche Kleidung warteten auf sie. Von draußen hörte sie den Wind brausen. Und in der Dämmerung konnte sie sehen, wie sich die Bäume im Wind bewegten.
Als sie im Bett lag, dachte sie noch einmal über den Tag nach. Über das, was sie gesehen hatte. Über den Jungen, über den Bauern, über den Tischler, über den Manager. Zuletzt dachte sie noch: „Komisch, alle waren sie glücklich. Alle außer dem, der glaubte, das Meiste zu haben, der Wichtigste zu sein. Der hatte so viel, dass gar kein Platz mehr für das Glück blieb.“
 



 
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