Tobias

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Michele.S

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Um 17:00 Uhr verließ Tobias das Daimler-Werk in Sindelfingen, wo er als Programmierer arbeitete. Während er den Bahnsteig auf und ab ging und auf seinen Zug wartete, genoss er die warme Abendsonne auf seinem Gesicht. Um 18:30 Uhr war er mit seinem Freund Heiko verabredet, den er seit zwei Monaten nicht mehr gesehen hatte. Er kannte Heiko, seit er acht Jahre alt gewesen war und die meiste Zeit über war er sein einziger Freund gewesen. Seit dieser an den Bodensee gezogen war, sah er ihn jedoch nur noch alle paar Monate, wenn Heiko seine Eltern in Weil der Stadt besuchte.
Tobias machte sich keine Illusionen, die Freundschaft war im Begriff sich aufzulösen. Wenn sie sich trafen hatten sie sich eigentlich kaum noch etwas zu erzählen.
"Du vereinsamst", sagte er sich. Vor einem Jahr war er von zu Hause ausgezogen, und obwohl seine Eltern im Nachbarort wohnten, fehlte ihm das Familienleben sehr. Wenn er abends von der Arbeit in seine Wohnung kam, war es dort immer sehr still.
Ein Mann mit langem Vollbart sprach ihn an: "Darf ich dir etwas von Allah, unserem Schöpfer und seinem Propheten erzählen?"
"Gerade passt es mir nicht so gut", antwortete Tobias höflich. "Mein Zug kommt in zwei Minuten".
Der Mann lächelte freundlich. "Darf ich dir dann wenigstens diese Broschüre mitgeben?"
"Aber natürlich", sagte Tobias schnell und steckte sie in seine Hosentasche.



Eine Stunde später saß er bei seinem Freund auf dem Sofa. Sie schauten gemeinsam fern, ohne viel zu reden. Heiko und seine Familie waren tiefgläubige Christen. Oft hatte Tobias Heiko für seinen Glauben beneidet. Sein Leben ergab einen Sinn, er hatte genaue Vorgaben, an die er sich halten konnte und am Ende wartete, nach seiner festen Überzeugung, die ewige Glückseligkeit.
Heikos Eltern hatten leider nur Zugang zu den öffentlich-rechtlichen Sendern und so waren sie gezwungen, Tatort zu gucken. Tobias hasste diese Serie, mit ihrer gekünstelt düsteren Atmosphäre und den pseudo-gesellschaftskritischen Themen. Die Folge heute war besonders langweilig, und weil Tobias nicht wusste, was er sonst tun sollte, holte er die Broschüre hervor und überflog sie. Die fünf Säulen des Islam wurden erklärt, außerdem viel von Gottes unbeschreiblicher Liebe zu den Menschen geredet. Nichts, was er nicht schon von den Zeugen Jehovas oder anderen religiösen Gruppen dutzendfach gehört hätte.
Ein Abschnitt auf einer der hinteren Seiten interessierte ihn dagegen.
"Der Koran, im Arabischen gelesen, ist so schön, dass er die Leute zum Weinen bringt. Selbst Ungläubige werden von seiner Lektüre tief berührt. Muss eine Schrift, die die Herzen der Menschen so anspricht, nicht auch wahr sein?"
Fast bekam Tobias selbst Lust, den Koran im Arabischen zu lesen.
Er erhob sich mit einem Stöhnen vom Sofa und sagte entschuldigend "Du, ich glaub, ich packs dann. Ich bin ziemlich müde"


In dieser Nacht hatte Tobias einen seltsamen Traum. Er fand sich in eine Situation zurückversetzt, die vor vier Jahren stattgefunden hatte. Damals hatten er und seine Familie Freunde in einem kleinen Dorf in der Türkei besucht. In der ersten Nacht war er um fünf Uhr morgens durch den Azan, den Ruf zum Gebet, geweckt worden. Diese erhabene Melodie hatte ihn damals tief beeindruckt. Jetzt im Traum aber folgte er dem Ruf und verließ mitten in der Nacht das Haus. Er lief so lang in die Richtung, aus der die Stimme kam, bis er vor einer prächtigen Moschee stand. Dort sank er willenlos in die Knie und küsste den staubigen Boden.
Noch ganz bewegt von seinem Traum erwachte Tobias und ging auf die Toilette.


Am Wochenende besuchte Tobias wie gewöhnlich seine Eltern. Lächelnd umarmten sie ihn im Flur. Doch Tobias merkte sofort, dass etwas nicht stimmte.
"Du, wir müssen mit dir reden", sagte seine Mutter vorsichtig. "Setz dich erst mal"
Ihm schwante Böses.
"Du weißt ja, dass es deinem Vater in letzter Zeit nicht gut ging. Ihm war immer schlecht und er hat fast zehn Kilo abgenommen"
Sein Vater nickte ernst.
"Also, wir waren beim Arzt. Dein Vater hat Bauchspeicheldrüsenkrebs"
Im ersten Moment fühlte Tobias gar nichts, nur Verwunderung.
Doch schon im nächsten Moment überschwemmte ihn eine Woge der Verzweiflung, und er begann hemmungslos zu weinen. Seine Eltern nahmen ihn in den Arm und so weinten sie alle drei für eine ganze Weile.



Als Tobias später im Auto saß und nach Hause fuhr, machte er das Radio an. Es lief Pink Floyd. Die traurigen Melodien brachten ihn erneut zum Weinen. Niemandem auf der Welt fühlte er sich so nah wie seinem Vater. Und noch nie in seinem Leben war er so verzweifelt gewesen.



Am nächsten Freitag fuhr Tobias nach Arbeitsende nicht direkt nach Hause, sondern besuchte die Moschee in Sindelfingen. Am Eingang wurde er gebeten, die Schuhe auszuziehen. Das Innere des Gebetshauses wirkte schlicht, aber dennoch sehr ansprechend. Tobias fand es sehr angenehm, in Socken über den weichen Teppich zu laufen. Ein freundlich aussehender Mann mit langem Bart kam auf ihn zu und gab ihm breit lächelnd die Hand. "Ich bin Imam Malik - al- Sahoad", stellte er sich vor. "Ich habe Sie hier noch nie gesehen. Kann ich Ihnen weiterhelfen?"
Tobias gab sich eine aufrechte Körperhaltung. "Ich bin Tobias Meissner und ich will zum Islam konvertieren"
Der Imam strahlte. "Das ist ein freudiger Tag für jeden Muslim. Die Sache ist ganz einfach. Ich werde dir jetzt einen Satz auf Arabisch vorsprechen, und du musst ihn wiederholen. Auf Deutsch bedeutet dieser Satz: "Ich bezeuge, es gibt keinen Gott außer Allah und Mohammed ist sein Gesandter. Das ist unser Glaubensbekenntnis".
Tobias hatte sich vorbereitet. Er konnte den arabischen Satz bereits auswendig und hatte mit Hilfe von youtube-Videos lange an der Aussprache gearbeitet. Nachdem der Imam zu Ende gesprochen hatte sagte Tobias mit großem Ernst in der Stimme " Aschhadu an la ilaha illa-lah wa aschhadu anna muhammadan rasulu-lah"
"Und nun bist du Moslem", verkündete der Imam feierlich. "Das bedeutet, dass du jetzt eine große Familie hast. Eine Familie mit 1,6 Milliarden Mitgliedern. Denn wir Muslime sehen uns als Brüder und Schwestern"

Als Tobias die Moschee verließ blendete ihn die Herbstsonne. Die Vögel sangen heute ungewöhnlich laut. Er wusste, dass für ihn nun ein neues Leben begann.
 
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