Tränen - grenzenlos

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voltariusm40

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Tränen - grenzenlos

Odenwald. Es war Mitte Dezember, bewölkt, gelegentlich Schneeregenschauer, und zwar in dem Jahr, als die Berliner Mauer fiel, die Grenze sich öffnete, die Menschen im Osten Deutschlands Reisefreiheit erlangten, Bush 41. Präsident der USA wurde und der Teichrohrsänger zum Vogel des Jahres benannt wurde.

Ich öffnete meinen hellbraunen Hausbriefkasten. Ein Brief aus Thüringen mit einer Sondermarke weckte meine Neugierde. Den Namen des Absenders konnte ich nicht sofort zuordnen. Der Inhalt enthüllte sich als Einladung zu einem Klassentreffen. Es gebe keine Grenze mehr. Reisen in den Osten funktionierten nun problemlos, hieß es im Brief.

Erinnerungen an meine Schulzeit überfielen mich. Ich eilte auf den Dachboden, suchte nach Fotoalben, kramte in Kartons und Schachteln, wühlte zwischen Stapel von beschriebenen Zetteln und nicht archivierten Fotos. Einige Aufnahmen, die während einer Exkursion durch einen Mischwald gemacht wurden, fesselten mich. Wir standen im Halbkreis um den Lehrer, der Episoden aus der Thüringer Sagenwelt vortrug. Auf mehreren Bildern blickte mich ein mir gegenüberstehender Junge an. Er schaute sehr liebevoll zu mir, verträumt, dahinschmelzend. Ich fühlte mich plötzlich in alte Empfindungen zurückversetzt. Dieser Jüngling verehrte mich. Er trug oft meine Tasche. Nach täglichem Schulschluss gingen wir noch gemeinsam bis zum Gartenzaun meines Wohnhauses. Dabei sprachen wir über schulische Dinge, über meinen Hund oder über Ereignisse in der Welt. Nie thematisierten wir persönliche Fragen. Er war sehr zurückhaltend und schüchtern. Er konnte nicht über seine Empfindungen sprechen. Aber er schrieb auf, was er empfand, und überreichte mir in den Pausen die Zettel. Sie waren mit Geheimtinte beschrieben, damit andere den Text nicht lesen konnten. Auf dem Nachhauseweg übergab er mir ein kleines Fläschchen mit einer Eisensalzlösung, die ich mit einem Haarlack-Sprüher auf die Zettel sprühen sollte. Er habe die Tinte aus Haarwuchsmitteln gewonnen. In der Klasse wurde er Der Alchemist genannt. Ich war immer voller Spannung, was er erneut geschrieben hatte. In der Tat, ich konnte eine tiefrote Schrift erzeugen. Ich durchstöberte den Karton und fand einen Zettel, seitlich vergilbt, mit intensivroter Schrift: Liebe Brunhilde, Du gefällst mir sehr. Ich schwärme für Dich. Dein sanfter Blick, Deine langen hellen Haare gefallen mir besonders.

Auf einem Holzstuhl sitzend, in Gedanken versunken, blitzten alte Erinnerungen auf. Auch ich schwärmte für ihn. Mein Blick blieb oft an seinen Augen hängen. Diese Sinneseindrücke gingen mir unter die Haut. Diese Empfindungen zu ihm erfassten mich tief. Ich glaube, Er war meine erste heimliche Liebe. Noch heute, nach 25 Jahren, bilde ich mir ein, die Gefühle zu empfinden. Wir kamen uns körperlich nie nahe, wir berührten uns nicht. Jeder von uns erlernte einen Beruf. Ich blieb zuhause. Er wohnte bei seinem Meister im tiefen Thüringer Wald. Etwas später fiel ich auf einen etwas älteren Haudegen rein und ging mit ihm nach den Westen.

Noch mehrmals stieg ich die Treppe zum Dachboden hinauf, wenn ich allein war. Ich schaute mir wiederholt meine Sammlung und die ersten Liebesbriefe an und träumte vor mich hin.

Spannung, Neugierde, Vorfreude erfassten mich in der Wartezeit bis zum Treffen. Am Tag der Zusammenkunft trafen wir uns in unserer alten Schule, die nun nur noch für Schüler bis zur vierten Klasse genutzt wurde. Der Reihe nach berichteten wir, wie unser Leben im vergangenen Zeitraum abgelaufen war, wie es uns ginge, was wir gelernt haben, was wir jetzt machten. Nun kam Er an die Reihe. Ich war innerlich gespannt und leicht aufgeregt. Mit einem weißen T-Shirt unter seinem Jackett, mit Blue Jeans und weißen Socken hatte er sich dem Trend entsprechend gekleidet. Mit großer Überraschung erfuhren wir, dass er im Abendstudium und über den zweiten Bildungsweg das Abitur erworben und studiert hatte. Nun sei er Doktor der Chemie. Aus dem schüchternen Jungen war ein gewandter Mann geworden. Keiner der ehemaligen Klasse hatte eine solche Entwicklung genommen. Welch eine Beharrlichkeit hatte er aufgebracht. Ich merkte, wie er von vielen als Star hofiert wurde. Ich war platt und erstaunt über seine Entfaltung. Ich hatte das in ihm steckende Potential nicht erkannt.

Mit Bildern und Episoden aus der Schulzeit, die einige präsentierten, endete der erste Teil des Treffens.

Am Abend tanzten wir, drehten und schüttelten uns nach den Melodien von Nena, Modern Talking, Depeche Mode.

Als ruhige Töne und althergebrachte Musik aus der Box ertönte, bat Er mich um den Tanz. Als er den Arm um mich legte, durchzog mich ein leichtes Zittern. Es war das erste Mal, dass Er meinen Körper berührte. Jeder Fingerdruck war für mich plötzlich bedeutsam, erregte mich, erfasste meine Empfindungen.

Meine Gefühlsregung erfasste meinen gesamten Körper. Alle meine Sinne waren in Wallungen. Ich stürmte nach dem Tanz ins Freie. Tränen ohne Unterlass, ohne Grenzen rollten. Nach einiger Zeit kehrte ich in den Saal auf meinen Platz zurück und fing seinen Blick ein.
 
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Hallo voltarism,

eine schöne Geschichte mit vielen Informationen (zur damaligen Zeit) und in bisschen Wehmut. Nur das Ende verstehe ich nicht - was hindert die Protagonistin daran, sich auf eine Gefühlsregung einzulassen?

Schöne Grüße
SilberneDelfine
 



 
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