Tränen in Berlin

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Trasla

Mitglied
09.08.2008

Ich fror.
Obwohl ich wusste, dass nicht die Kälte dafür verantwortlich war zog ich die dünne Regenjacke enger um mich und drückte meinen Rücken fester an den Stützpfeiler des alten Sprungturmes, unter den ich mich geflüchtet hatte. Der Turm war völlig zerfallen, aber die Reste seines Aufganges schützten mich vor dem Regen, dem Unwetter, das den Campingplatz im Herzen Berlins so jäh überrascht hatte.
Die Anlage war ein ehemaliges Freibad. Findige Investoren hatten aus den Liegewiesen Zeltflächen gemacht, die Becken mit Sand und Volleyballnetzen aufgefüllt und aus Bademeisterhäuschen und Tribüne eine Cocktailbar gebastelt. Eines der Becken war mitsamt Sprungkuhle zum Skatepark umfunktioniert worden und an die Sanitäranlagen wurden Spülbecken angefügt. Insgesamt ein nettes Konzept, welches uns erlaubte ohne große Hotelkosten einige Gehminuten vom Hauptbahnhof entfernt das Treffen unserer „World of Warcraft“ – Gilde abzuhalten.
Doch jetzt wurde dieser idyllische Ort von heftigen Niederschlägen heimgesucht. Es war nicht zu kalt, auch nicht besonders windig, aber der Regen wirkte wie ein dichter Vorhang aus Wasser. Wahrscheinlich wurden gerade Grill und Picknickdecken, Vorräte und Stühle gnadenlos durchgeweicht. Aber es war nicht der Regen gewesen, der mich an diesen verlassenen Ort getrieben hatte. Ganz im Gegenteil, er war ein willkommener Schutz, die Garantie dafür, dass niemand hier her kommen würde, dass sie sich nicht auf den Weg machen würde um mich zu suchen. Der abgesperrte Sprungturm, ehemals zentrales Element des Freizeitbetriebes, stand jetzt ein wenig abseits neben dem größten der Becken, in welchem vor kurzem noch ein paar Jugendliche mit ihren Kickboards umhergefahren waren.
Noch immer liefen Tränen über mein Gesicht. Sie tropften auf den hellgrauen Steinboden und färbten ihn Dunkel, als wollten sie den Regentropfen bei ihrer Arbeit helfen. In stillem Rhythmus vollführten meine Finger einen Tanz des Vergessens auf dem Handy. Öffnen, Optionen, Löschen, Bestätigen. Kurznachricht um Kurznachricht flackerte über das Display, und alle wurden von mir noch einmal gelesen, durften einen letzten verzweifelten Abdruck in der Welt hinterlassen ehe ihnen die weitere Existenz versagt wurde.
Ich war schnell, aber es waren hunderte von Nachrichten, und während ich sie eine nach der anderen löschte verfluchte ich mich. Wie konnte ich zulassen, dass sie so litt? Es war so unerträglich ihre Tränen zu sehen, darum zu wissen. Den schmerzerfüllten Gesichtsausdruck, Verzweiflung die zu Gewissheit wird, zerbrechende Hoffnungen. Als würde ihr ganzer Körper schreien wollen „Ich wusste es!“ und mit anklagender Geste auf das zerbrochene Herz deuten.
Wie konnte ich diese Verantwortung so missbrauchen? Und wie konnte ich, trotz allem, nicht dazu stehen, warum schien es mir unmöglich den erlösenden Schlussstrich zu ziehen? Ich war weggelaufen. Wie schon immer. Ich hatte nicht die Kraft oder den Mut mich dem Problem zu stellen. Es fühlte sich an wie das Kratzen an einer verschorften Wunde, man weiß genau dass es eine blöde Idee ist, aber man hört trotzdem erst auf wenn es wieder blutet.
Ich dachte einen Moment lang darüber nach, aber eigentlich schien mir die Metapher ungeeignet. Ich verletzte in erster Linie nicht mich selbst, und ich litt nicht unter der Unfähigkeit, aufzuhören, sondern darunter, dass ich es nicht schaffte etwas aktiv zu beenden. Viel besser schien mir ein anderer Vergleich. Es war als stünde ich mitten in der Wüste vor einem Verdurstenden und hätte nur eine Pistole, aber kein Wasser. Ich brachte es einfach nicht übers Herz abzudrücken, und so blieb mir nur, dem Leiden zuzusehen ohne eine Chance zu helfen.
Während dieser Gedankengänge verrichteten meine Hände mechanisch und routiniert ihr zerstörerisches Werk. Eine frevelhafte Tat, meine eigene kleine Bücherverbrennung. Es waren zwar nur Anordnungen irgendwelcher Elektronen in irgendwelchen Speicherzellen, aber was mit ihnen ging waren Erinnerungen, Gefühle, Gedanken…
Im ersten Moment dachte ich, meine Hände hatten angefangen zu zittern, aber dann gesellte sich zum Vibrationsalarm der Gesang von Chen Ching Hsiang hinzu. Er sang ein Lied über Pfirsichblüten, eines das in Shanghai in den Charts gewesen war als ich einige Zeit dort verbrachte, und das seitdem mein Klingelton war. Und jetzt erklang er.
Ich starrte auf das Display. Michaela rief mich an.
Einen Augenblick lang reagierte ich gar nicht. Dann nahm ich das Gespräch entgegen, hielt mir das Handy ans Ohr aber brachte kein Wort heraus. Ich hörte sie leise Schluchzen. „Jan? Wo bist du? Bitte komm zurück…“ Ich setzte zu einer Antwort an, musste mich räuspern und krächzte ins Telefon: „Ich… ich komme gleich wieder, okay?“ Als Antwort bekam ich außer einem zittrigen „Ja“ auch ein Schniefen.
Ich legte auf und ließ die Hand sinken. Einen ganzen Moment saß ich regungslos da, dann rappelte ich mich auf. Alles tat mir weh, mein Rücken, die Beine, alles. Ich hatte viel zu lange starr auf den kühlen Steinen gesessen ohne auf die unbequeme Haltung zu achten. Ich schaute auf mein Handy. Ich musste das zu Ende bringen, oder wenigstens weit genug fort führen. Was auch immer gleich geschehen würde, ich wusste ich konnte nicht verhindern, dass ich ihr sagen und zeigen würde, was immer sie wissen wollte. Keine Kraft, kein Wille, ich würde mich einfach fallen lassen und all den Schmerz auf mich einstürmen sehen… aber es war immer noch ein Unterschied, ob ich ihr nur sagte, dass ihr Traum tot war, oder ob ich ihr einige blutige Leichenteile in die Hand drückte. Also vollendete ich so schnell es ging mein Werk. Die meisten der Kurznachrichten von Meike waren ohnehin gelöscht, die letzten folgten nun nach, während ich langsam zurück stapfte.
Der Regen lief mir über das Gesicht, den Rücken herab und in die Schuhe. Ich steckte mein Handy in die Tasche und während ich langsam zu meinem Zelt wanderte machte sich ein Hauch von Gleichgültigkeit in mir breit. Ich war besiegt, ich würde mich ergeben. Der Tod konnte nicht schlimmer sein als die Ungewissheit, die Folter nicht schlimmer als die Leiden der Schlacht. Ich wies alle Entscheidungen von mir und nahm alle Verantwortung auf mich. Was auch immer sie mir vorwerfen würde, keine Widerworte. Was sie würde wissen wollen, keine Lügen.
Aber der Moment verflog und ich wusste, so leicht würde sie es mir nicht machen. Es ging nicht um Schuld, es war nicht so einfach. Eine Frage würde sie stellen, ständig, und ich hatte keine Antwort. „Warum?“. Und sie hatte recht, dieser Punkt blieb nach allem unbeantwortet, auch in mir.
Ich blieb stehen. Vor mir lag das Zelt, regengepeitscht, und krallte sich in den Boden. Darin saß Michaela. Ich holte tief Luft und öffnete den Reißverschluss, kroch ins Vorzelt und schloss den Eingang schnell wieder. Sie hatte mich auf jeden Fall gehört, blieb aber ruhig. Ich fand es ein wenig unpassend mich auszuziehen, aber es gab keine trockene Stelle an meinem Körper und ich fing langsam an zu zittern. Also entkleidete ich mich und schlüpfte in das Hauptzelt.
Sie saß in einer Ecke, in ihren Schlafsack gewickelt, einige zerknüllte Taschentücher um sie herum und das Handy in der Hand. Wortlos reichte sie mir frische Wäsche aus meiner Tasche am Rand der Liegefläche. Während ich mich abtrocknete und warm anzog sagte sie leise „Ich hatte Angst du kommst nicht mehr zurück.“ So lächerlich die Idee, ich würde in einer fremden Stadt ohne irgendetwas als meiner Kleidung und meinem Mobiltelefon einfach weglaufen und nicht umkehren auch scheinen mochte, ich fand ihre Sorge völlig berechtigt. Als ich losgerannt war brannte nichts als der Wunsch in mirwegzulaufen und alles hinter mir zu lassen.
Sie hatte sich mein Handy geliehen, weil sie jemanden aus der Gilde wegen der Planung für den Abend anrufen wollte und das für sie ziemlich teuer war, da sie von Österreich aus gesehen aus dem Ausland ins Ausland telefonierte. Nach dem Gespräch hatte sie allerdings weiter rumhantiert und auf meine Frage, was sie da macht in selbstverständlichem Tonfall geantwortet „Nachschauen was für eine sms das war, die du vorhin bekommen hast.“ Ich verlangte sofortige Rückgabe mit dem ungehaltenen Hinweis, dass ich es absolut nicht witzig finde wenn jemand einfach ungefragt in meinen privaten Sachen rumkramt.
Von ihr folgte sofort „Wieso? Was steht da denn drin, das ich nicht wissen soll?“ und sie versuchte weiter, meine Nachrichten zu lesen. Ich musste ihr meinen Besitz förmlich aus der Hand reißen. Sie fing wütend und mit Tränen in den Augen an, mich zu beschimpfen, und eine Unterstellung folgte der anderen. Nebenbei bekräftigte sie ihre Einschätzung, dass nur unehrliche Menschen Privatsphäre brauchen. Ich war aufgestanden, und als sie mich am Arm festhielt und Erklärungen einforderte, hatte ich mich einfach losgerissen und war gerannt. Einfach weg.
Was soll man auch sagen?
„Es geht mir ums Prinzip, ich bin Verfechter der Ansicht Menschen brauchen Rückzugsorte und Geheimnisse, selbst wenn sie sich sehr nahe stehen, und die Tatsache dass dieses Handy voll von Nachrichten von einer Anderen ist hat nichts damit zu tun. Du hast gar keine Berechtigung mir zu unterstellen ich würde dich belügen, obwohl du damit recht hast. Das hast du nämlich nur zufällig, du kannst gar nicht wissen, dass ich dich betrüge, und wenn unter den zahllosen völlig haltlosen Unterstellungen und wirren paranoiden Theorien die du entwickelst mal eine die Wahrheit trifft, ist das ohne Bedeutung für die Problematik.“
Die Idee schien mir nicht besonders gut. Also war ich gelaufen. Und das Berliner Wetter bewies ein exzellentes Gefühl für Dramatik und schickte uns einen Wolkenbruch sondergleichen. Ob das die dramatische Wendung unterstreichen sollte oder Sinnbild für ihre oder meine Tränen war, ich weiß es nicht. Aber es trieb mich in den Schutz des alten Sprungturmes. Nun war ich allerdings wieder hier, warm, trocken und diesem bohrenden Blick ausgesetzt…
 

jon

Mitglied
Boah, ich glaube, ich werde süchtig nach deinen Geschichten hier. Ich finde es faszinierend, dass ich all diese Dinge so gut verstehe, auch wenn ich in keiner der Situationen je war. Aber vielleicht war ich es ja doch, so wie wohl jeder irgendwann irgendwie ein bisschen in so einer oder einer ähnlichen Situation war, vielleicht nur ausschnittsweise. Als sei das eine Leben ein Puzzle aus Elementen, die anders gemischt und gewichtet genausogut ein anderes Leben ergeben könnten …
 

Trasla

Mitglied
Wowo, vielen Dank, das ist ja mal ein ganz schönes Kompliment! Ich werd auch gleich einen weiteren Teil einstellen, wenn ich schon mal einen süchtigen Leser habe will ich den auch pflegen ^^

Es freut mich zu hören, dass meine Beschreibungen nachvollziehbar sind, ich war da immer etwas skeptisch, weil ich selber ja das Gefühl und die Situation kenne und kaum einschätzen kann, wie gut sich das vermitteln lässt.

Und dein Puzzle-Gedanke ist sehr interessant - ich glaube schon dass viele abgeschlossene Kleinst-Erfahrungen von vielen Menschen gemacht werden, und die Reihenfolge einen starken Einfluss auf das Gesamterlebnis hat.
 

jon

Mitglied
Komma-Dröseleien

Obwohl ich wusste, dass nicht die Kälte dafür verantwortlich war[red]Komma[/red] zog ich die dünne Regenjacke enger um mich und drückte meinen Rücken fester …
Die Anlage war ein ehemaliges Freibad. Findige Investoren hatten aus den Liegewiesen Zeltflächen gemacht, die Becken mit Sand und Volleyballnetzen aufgefüllt und aus Bademeisterhäuschen und Tribüne eine Cocktailbar gebastelt. Eines der Becken war mitsamt Sprungkuhle zum Skatepark umfunktioniert worden und an die Sanitäranlagen wurden Spülbecken angefügt. Insgesamt ein nettes Konzept, welches uns erlaubte[red]Komma[/red] ohne große Hotelkosten einige Gehminuten vom Hauptbahnhof entfernt das Treffen unserer „World of Warcraft“ – Gilde abzuhalten.
Das Kursive klingt für mich in Sachen Zeitform falsch. Wie wäre es mit "hatte man Spülbecken angefügt"?
"World of Warcraft"-Gilde (kurzer Bindestrich und ohne Leerzeichen)

Ganz im Gegenteil, er war ein willkommener Schutz, die Garantie dafür, dass niemand hier her kommen würde, dass sie sich nicht auf den Weg machen würde[red]Komma[/red] um mich zu suchen.
Noch immer liefen Tränen über mein Gesicht. Sie tropften auf den hellgrauen Steinboden und färbten ihn Dunkel, als wollten sie den Regentropfen bei ihrer Arbeit helfen.
dunkel

Kurznachricht um Kurznachricht flackerte über das Display, und alle wurden von mir noch einmal gelesen, durften einen letzten verzweifelten Abdruck in der Welt hinterlassen[red]Komma[/red] ehe ihnen die weitere Existenz versagt wurde. Ich war schnell, aber es waren hunderte von Nachrichten, und während ich sie eine nach der anderen löschte[red]Komma[/red] verfluchte ich mich. Wie konnte ich zulassen, dass sie so litt? Es war so unerträglich[red]Komma[/red] ihre Tränen zu sehen, darum zu wissen.
Wie konnte ich diese Verantwortung so missbrauchen? Und wie konnte ich, trotz allem, nicht dazu stehen, warum schien es mir unmöglich[red]Komma[/red] den erlösenden Schlussstrich zu ziehen? Ich war weggelaufen. Wie schon immer. Ich hatte nicht die Kraft oder den Mut[red]Komma[/red] mich dem Problem zu stellen. Es fühlte sich an wie das Kratzen an einer verschorften Wunde, man weiß genau[red]Komma[/red] dass es eine blöde Idee ist, aber man hört trotzdem erst auf[red]Komma[/red] wenn es wieder blutet.
Ich verletzte in erster Linie nicht mich selbst, und ich litt nicht unter der Unfähigkeit, aufzuhören, sondern darunter, dass ich es nicht schaffte[red]Komma[/red] etwas aktiv zu beenden. Viel besser schien mir ein anderer Vergleich. Es war[red]Komma[/red] als stünde ich mitten in der Wüste vor einem Verdurstenden und hätte nur eine Pistole, aber kein Wasser. Ich brachte es einfach nicht übers Herz abzudrücken, und so blieb mir nur, dem Leiden zuzusehen[red]Komma[/red] ohne eine Chance zu helfen.
Es waren zwar nur Anordnungen irgendwelcher Elektronen in irgendwelchen Speicherzellen, aber was mit ihnen ging[red]Komma[/red] waren Erinnerungen, Gefühle, Gedanken[red]Leerzeichen[/red]…
Im ersten Moment dachte ich, meine Hände hatten angefangen zu zittern, aber dann gesellte sich zum Vibrationsalarm der Gesang von Chen Ching Hsiang hinzu. Er sang ein Lied über Pfirsichblüten, eines[red]Komma[/red] das in Shanghai in den Charts gewesen war[red]Komma[/red] als ich einige Zeit dort verbrachte, und das seitdem mein Klingelton war.
Ich hörte sie leise Schluchzen. „Jan? Wo bist du? Bitte komm zurück[red]Leerzeichen[/red]…“ Ich setzte zu einer Antwort an, musste mich räuspern und krächzte ins Telefon: „Ich[red]Leerzeichen[/red]… ich komme gleich wieder, okay?“
schluchzen

Einen ganzen Moment saß ich regungslos da, dann rappelte ich mich auf.
Was ist ein "ganzer Moment"? Meinst du "eine Weile"?

Ich hatte viel zu lange starr auf den kühlen Steinen gesessen[red]Komma[/red] ohne auf die unbequeme Haltung zu achten. Ich schaute auf mein Handy. Ich musste das zu Ende bringen, oder wenigstens weit genug fort führen. Was auch immer gleich geschehen würde, ich wusste[red]Komma[/red] ich konnte nicht verhindern, dass ich ihr sagen und zeigen würde, was immer sie wissen wollte. Keine Kraft, kein Wille, ich würde mich einfach fallen lassen und all den Schmerz auf mich einstürmen sehen[red]LZ[/red]… aber es war immer noch ein Unterschied, ob ich ihr nur sagte, dass ihr Traum tot war, oder ob ich ihr einige blutige Leichenteile in die Hand drückte.
Der Regen lief mir über das Gesicht, den Rücken herab und in die Schuhe. Ich steckte mein Handy in die Tasche und während ich langsam zu meinem Zelt wanderte[red]Komma[/red] machte sich ein Hauch von Gleichgültigkeit in mir breit.
Sie hatte mich auf jeden Fall gehört, blieb aber ruhig. Ich fand es ein wenig unpassend[red]Komma[/red] mich auszuziehen, aber es gab keine trockene Stelle an meinem Körper und ich fing langsam an zu zittern. Also entkleidete ich mich und schlüpfte in das Hauptzelt.
Während ich mich abtrocknete und warm anzog[red]Komma[/red] sagte sie leise[red]:[/red] „Ich hatte Angst[red]Komma[/red] du kommst nicht mehr zurück.“ So lächerlich die Idee, ich würde in einer fremden Stadt ohne irgendetwas als meiner Kleidung und meinem Mobiltelefon einfach weglaufen und nicht umkehren[red]Komma[/red] auch scheinen mochte, ich fand ihre Sorge völlig berechtigt. Als ich losgerannt war[red]Komma[/red] brannte nichts als der Wunsch in mir[red]Komma[/red] wegzulaufen und alles hinter mir zu lassen.
Hier kommt jetzt ein (trotz des vorigenSatzes) recht unvermittelt klingender Sprung zu dem, was eigentlich passiert ist. "Trotz des Satzes" wahrscheinlich, weil es noch weiter zurück ist (X= er ist unter dem Turm, X+1 = er kommt zurück, X-1 er rannte weg, X-3 = sie nahm das Handy, X-2 sie entdeckt die SMS'e, X - 1 er rannte weg)

Sie hatte sich mein Handy geliehen, weil sie jemanden aus der Gilde wegen der Planung für den Abend anrufen wollte und das für sie ziemlich teuer war, da sie von Österreich aus gesehen aus dem Ausland ins Ausland telefonierte. Nach dem Gespräch hatte sie allerdings weiter rumhantiert und auf meine Frage, was sie da macht[red]Komma[/red] in selbstverständlichem Tonfall geantwortet „Nachschauen[red]Komma[/red] was für eine sms[red]SMS[/red] das war, die du vorhin bekommen hast.“ Ich verlangte sofortige Rückgabe mit dem ungehaltenen Hinweis, dass ich es absolut nicht witzig finde[red]Komma[/red] wenn jemand einfach ungefragt in meinen privaten Sachen rumkramt.

„Es geht mir ums Prinzip, ich bin Verfechter der Ansicht[red]Komma[/red] Menschen brauchen Rückzugsorte und Geheimnisse, selbst wenn sie sich sehr nahe stehen, und die Tatsache[red]Komma[/red] dass dieses Handy voll von Nachrichten von einer Anderen ist[red]Komma[/red] hat nichts damit zu tun. Du hast gar keine Berechtigung[red]Komma[/red] mir zu unterstellen[red]Komma[/red] ich würde dich belügen, obwohl du damit recht hast. Das hast du nämlich nur zufällig, du kannst gar nicht wissen, dass ich dich betrüge, und wenn unter den zahllosen völlig haltlosen Unterstellungen und wirren paranoiden Theorien[red]Komma[/red] die du entwickelst[red]Komma[/red] mal eine die Wahrheit trifft, ist das ohne Bedeutung für die Problematik.“
Nun war ich allerdings wieder hier, warm, trocken und diesem bohrenden Blick ausgesetzt [red]LZ[/red]…
 

Trasla

Mitglied
09.08.2008

Ich fror.
Obwohl ich wusste, dass nicht die Kälte dafür verantwortlich war, zog ich die dünne Regenjacke enger um mich und drückte meinen Rücken fester an den Stützpfeiler des alten Sprungturmes, unter den ich mich geflüchtet hatte. Der Turm war völlig zerfallen, aber die Reste seines Aufganges schützten mich vor dem Regen, dem Unwetter, das den Campingplatz im Herzen Berlins so jäh überrascht hatte.
Die Anlage war ein ehemaliges Freibad. Findige Investoren hatten aus den Liegewiesen Zeltflächen gemacht, die Becken mit Sand und Volleyballnetzen aufgefüllt und aus Bademeisterhäuschen und Tribüne eine Cocktailbar gebastelt. Eines der Becken hatte man mitsamt Sprungkuhle zum Skatepark umfunktioniert und an die Sanitäranlagen Spülbecken angefügt. Insgesamt ein nettes Konzept, welches uns erlaubte ohne große Hotelkosten einige Gehminuten vom Hauptbahnhof entfernt das Treffen unserer „World of Warcraft“-Gilde abzuhalten.
Doch jetzt wurde dieser idyllische Ort von heftigen Niederschlägen heimgesucht. Es war nicht zu kalt, auch nicht besonders windig, aber der Regen wirkte wie ein dichter Vorhang aus Wasser. Wahrscheinlich wurden gerade Grill und Picknickdecken, Vorräte und Stühle gnadenlos durchgeweicht. Aber es war nicht der Regen gewesen, der mich an diesen verlassenen Ort getrieben hatte. Ganz im Gegenteil, er stellte einen willkommenen Schutz dar, die Garantie dafür, dass niemand hier her kommen würde, dass sie sich nicht auf den Weg machen würde, um mich zu suchen. Der abgesperrte Sprungturm, ehemals zentrales Element des Freizeitbetriebes, stand jetzt ein wenig abseits neben dem größten der Becken, in welchem vor kurzem noch ein paar Jugendliche mit ihren Kickboards umhergefahren waren.
Noch immer liefen Tränen über mein Gesicht. Sie tropften auf den hellgrauen Steinboden und färbten ihn dunkel, als wollten sie den Regentropfen bei ihrer Arbeit helfen. In stillem Rhythmus vollführten meine Finger einen Tanz des Vergessens auf dem Handy. Öffnen, Optionen, Löschen, Bestätigen. Kurznachricht um Kurznachricht flackerte über das Display, und alle wurden von mir noch einmal gelesen, durften einen letzten verzweifelten Abdruck in der Welt hinterlassen, ehe ihnen die weitere Existenz versagt wurde.
Ich war schnell, aber es waren hunderte von Nachrichten, und während ich sie eine nach der anderen löschte, verfluchte ich mich. Wie konnte ich zulassen, dass sie so litt? Es war so unerträglich, ihre Tränen zu sehen, darum zu wissen. Den schmerzerfüllten Gesichtsausdruck, Verzweiflung die zu Gewissheit wird, zerbrechende Hoffnungen. Als würde ihr ganzer Körper schreien wollen „Ich wusste es!“ und mit anklagender Geste auf das zerbrochene Herz deuten.
Wie konnte ich diese Verantwortung so missbrauchen? Und wie konnte ich, trotz allem, nicht dazu stehen, warum schien es mir unmöglich, den erlösenden Schlussstrich zu ziehen? Ich war weggelaufen. Wie schon immer. Ich hatte nicht die Kraft oder den Mut, mich dem Problem zu stellen. Es fühlte sich an wie das Kratzen an einer verschorften Wunde, man weiß genau, dass es eine blöde Idee ist, aber man hört trotzdem erst auf, wenn es wieder blutet.
Ich dachte einen Moment lang darüber nach, aber eigentlich schien mir die Metapher ungeeignet. Ich verletzte in erster Linie nicht mich selbst, und ich litt nicht unter der Unfähigkeit, aufzuhören, sondern darunter, dass ich es nicht schaffte, etwas aktiv zu beenden. Viel besser schien mir ein anderer Vergleich. Es war, als stünde ich mitten in der Wüste vor einem Verdurstenden und hätte nur eine Pistole, aber kein Wasser. Ich brachte es einfach nicht übers Herz abzudrücken, und so blieb mir nur, dem Leiden zuzusehen, ohne eine Chance zu helfen.
Während dieser Gedankengänge verrichteten meine Hände mechanisch und routiniert ihr zerstörerisches Werk. Eine frevelhafte Tat, meine eigene kleine Bücherverbrennung. Es waren zwar nur Anordnungen irgendwelcher Elektronen in irgendwelchen Speicherzellen, aber was mit ihnen ging, waren Erinnerungen, Gefühle, Gedanken …
Im ersten Moment dachte ich, meine Hände hatten angefangen zu zittern, aber dann gesellte sich zum Vibrationsalarm der Gesang von Chen Ching Hsiang hinzu. Er sang ein Lied über Pfirsichblüten, eines, das es in Shanghai in die Charts geschaffen hatte, als ich einige Zeit dort verbrachte, und das seitdem mein Klingelton war. Und jetzt erklang er.
Ich starrte auf das Display. Michaela rief mich an.
Einen Augenblick lang reagierte ich gar nicht. Dann nahm ich das Gespräch entgegen, hielt mir das Handy ans Ohr aber brachte kein Wort heraus. Ich hörte sie leise schluchzen. „Jan? Wo bist du? Bitte komm zurück …“ Ich setzte zu einer Antwort an, musste mich räuspern und krächzte ins Telefon: „Ich … ich komme gleich wieder, okay?“ Als Antwort bekam ich außer einem zittrigen „Ja“ auch ein Schniefen.
Ich legte auf und ließ die Hand sinken. Einen Weile saß ich regungslos da, dann rappelte ich mich auf. Alles tat mir weh, mein Rücken, die Beine, alles. Ich hatte viel zu lange starr auf den kühlen Steinen gesessen, ohne auf die unbequeme Haltung zu achten. Ich schaute auf mein Handy. Ich musste das zu Ende bringen, oder wenigstens weit genug fort führen. Was auch immer gleich geschehen würde, ich wusste, ich konnte nicht verhindern, dass ich ihr sagen und zeigen würde, was immer sie wissen wollte. Keine Kraft, kein Wille, ich würde mich einfach fallen lassen und all den Schmerz auf mich einstürmen sehen … aber es war immer noch ein Unterschied, ob ich ihr nur sagte, dass ihr Traum tot war, oder ob ich ihr einige blutige Leichenteile in die Hand drückte. Also vollendete ich so schnell es ging mein Werk. Die meisten der Kurznachrichten von Meike waren ohnehin gelöscht, die letzten folgten nun nach, während ich langsam zurück stapfte.
Der Regen lief mir über das Gesicht, den Rücken herab und in die Schuhe. Ich steckte mein Handy in die Tasche und während ich langsam zu meinem Zelt wanderte, machte sich ein Hauch von Gleichgültigkeit in mir breit. Ich war besiegt, ich würde mich ergeben. Der Tod konnte nicht schlimmer sein als die Ungewissheit, die Folter nicht schlimmer als die Leiden der Schlacht. Ich wies alle Entscheidungen von mir und nahm alle Verantwortung auf mich. Was auch immer sie mir vorwerfen würde, keine Widerworte. Was sie würde wissen wollen, keine Lügen.
Aber der Moment verflog und ich wusste, so leicht würde sie es mir nicht machen. Es ging nicht um Schuld, es war nicht so einfach. Eine Frage würde sie stellen, ständig, und ich hatte keine Antwort. „Warum?“. Und sie hatte recht, dieser Punkt blieb nach allem unbeantwortet, auch in mir.
Ich blieb stehen. Vor mir lag das Zelt, regengepeitscht, und krallte sich in den Boden. Darin saß Michaela. Ich holte tief Luft und öffnete den Reißverschluss, kroch ins Vorzelt und schloss den Eingang schnell wieder. Sie hatte mich auf jeden Fall gehört, blieb aber ruhig. Ich fand es ein wenig unpassend, mich auszuziehen, aber es gab keine trockene Stelle an meinem Körper und ich fing langsam an zu zittern. Also entkleidete ich mich und schlüpfte in das Hauptzelt.
Sie saß in einer Ecke, in ihren Schlafsack gewickelt, einige zerknüllte Taschentücher um sie herum und das Handy in der Hand. Wortlos reichte sie mir frische Wäsche aus meiner Tasche am Rand der Liegefläche. Während ich mich abtrocknete und warm anzog, sagte sie leise „Ich hatte Angst, du kommst nicht mehr zurück.“ So lächerlich die Idee, ich würde in einer fremden Stadt ohne irgendetwas als meiner Kleidung und meinem Mobiltelefon einfach weglaufen und nicht umkehren, auch scheinen mochte, ich fand ihre Sorge völlig berechtigt. Als ich losgerannt war, brannte nichts als der Wunsch in mir, wegzulaufen und alles hinter mir zu lassen.
Bevor ich weggelaufen war, hatte sie sich mein Handy geliehen, weil sie jemanden aus der Gilde wegen der Planung für den Abend anrufen wollte und das für sie ziemlich teuer war, da sie von Österreich aus gesehen aus dem Ausland ins Ausland telefonierte. Nach dem Gespräch hatte sie allerdings weiter rumhantiert und auf meine Frage, was sie da macht, in selbstverständlichem Tonfall geantwortet „Nachschauen, was für eine SMS das war, die du vorhin bekommen hast.“ Ich verlangte sofortige Rückgabe mit dem ungehaltenen Hinweis, dass ich es absolut nicht witzig finde, wenn jemand einfach ungefragt in meinen privaten Sachen rumkramt.
Von ihr folgte sofort „Wieso? Was steht da denn drin, das ich nicht wissen soll?“ und sie versuchte weiter, meine Nachrichten zu lesen. Ich musste ihr meinen Besitz förmlich aus der Hand reißen. Sie fing wütend und mit Tränen in den Augen an, mich zu beschimpfen, und eine Unterstellung folgte der anderen. Nebenbei bekräftigte sie ihre Einschätzung, dass nur unehrliche Menschen Privatsphäre brauchen. Ich war aufgestanden, und als sie mich am Arm festhielt und Erklärungen einforderte, hatte ich mich einfach losgerissen und war gerannt. Einfach weg.
Was soll man auch sagen?
„Es geht mir ums Prinzip, ich bin Verfechter der Ansicht, Menschen brauchen Rückzugsorte und Geheimnisse, selbst wenn sie sich sehr nahe stehen, und die Tatsache, dass dieses Handy voll von Nachrichten von einer Anderen ist, hat nichts damit zu tun. Du hast gar keine Berechtigung, mir zu unterstellen, ich würde dich belügen, obwohl du damit recht hast. Das hast du nämlich nur zufällig, du kannst gar nicht wissen, dass ich dich betrüge, und wenn unter den zahllosen völlig haltlosen Unterstellungen und wirren paranoiden Theorien, die du entwickelst, mal eine die Wahrheit trifft, ist das ohne Bedeutung für die Problematik.“
Die Idee schien mir nicht besonders gut. Also war ich gelaufen. Und das Berliner Wetter bewies ein exzellentes Gefühl für Dramatik und schickte uns einen Wolkenbruch sondergleichen. Ob das die dramatische Wendung unterstreichen sollte oder Sinnbild für ihre oder meine Tränen war, ich weiß es nicht. Aber es trieb mich in den Schutz des alten Sprungturmes. Nun war ich allerdings wieder hier, warm, trocken und diesem bohrenden Blick ausgesetzt …
 

Trasla

Mitglied
Vielen vielen Dank für die ganze Mühe, die du dir machst!
Ich habe die Fehler korrigiert und an den von dir angemerkten Stellen versucht, das Ganze etwas passender zu formulieren.

Danke!!
 



 
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