Träumen am Ostkreuz

Das Ostkreuz lernte ich schon im zarten Alter von elf Jahren kennen. Denn ich ging hier mal verloren. Unsere Klasse kam von einem Ausflug in den Spreewald zurück. Bevor wir wieder nach Mecklenburg fuhren, sollte noch ein Tag Berlin mitgenommen werden. Wir stiegen Ostkreuz um.
Mit einem Mal merkte ich, dass ich die Anderen verloren hatte und mutterseelenallein auf dem Bahnhof stand. Ich war das erste Mal in Berlin und kannte mich nicht aus. Ich wusste auch nicht, wo unsere Gruppe hin wollte.
Mein Verstand sagte mir, dass es das Schlaueste wäre abzuwarten, bis jemand mein Fehlen bemerken würde, und sie zurückkommen würden, um mich zu suchen.
Ich wartete und wartete. Ich dachte eigentlich, dass alle schon in heller Aufregung sein müssten, aber niemand ließ sich blicken. Sie schienen mich vergessen zu haben. Verzweifelt stieg ich in die erste beste S-Bahn, die bis Alex fuhr. Unter der Weltzeituhr traf ich zwei Mädchen von uns.
Gerettet. Keiner hatte mein Fehlen bemerkt. Da begriff ich, dass die Anderen mich nicht leiden konnten, und ich keine Freunde hatte. Ich fuhr fürs erste wieder zurück in mein Heimatdorf, aber sieben Jahre später kehrte ich zurück, um zu bleiben, und seit 89 lebe ich am Ostkreuz.

Warum hier an der Stelle ´ne Buchrezension. Muss das sein? Ja, es muss. Der Grund ist folgender. Ich gehöre zu den wenigen Auserwählten, die von sich behaupten können, dass über ihr Haus ein Buch verfasst wurde. Jemand, der mal in ihm wohnte, hat über sein Leben in meinem Haus geschrieben. Der Autor heißt Christian Mackrodt und ist Jahrgang 1975. Der Roman erschien 2014 und spielt Mitte der Neunziger, in den Jahren nach dem Fall der Mauer.
In unserem Haus am Ostkreuz scheint eine Aura zu herrschen, die zum Schriftstellern anregt. Seit einigen Jahren scheibe ich ja auch.

Vielleicht haben in diesem Haus vor hundert Jahren ja mal Joseph Roth, Else Lasker Schüler oder wenigstens ein Dadaist, wie Richard Huelsenbeck eine Weile gefroren und dünne Suppe gelöffelt, währenddessen sie mit klammen Fingern ihre Gedichte schrieben, und in den Mauern hat sich für uns Nachgeborene etwas von ihrem künstlerischen Karma erhalten.
Aber eigentlich haben sich die Intellektuellen früher ja alle mehr im Westen Berlins, um die Gedächtniskirche herum, wo ihr Stammcafe war, angesiedelt.
Aber eventuell hat es doch mal einen hierher verschlagen. Weiß man es?


"Die Sonne schien, aber nicht in mein Fenster, das fast reine Nordseite war. Während es draußen schon Frühling wurde, verharrte bei mir, wie in vielen anderen Hinterhofwohnungen des Friedrichshains, der Winter. Kalte Mauern und ein nicht mehr beheizter Ofen verzögerten den Wechsel der Jahreszeiten erheblich. Auf der Straße erkannte ich die anderen Hinterhofbewohner daran, dass sie mindestens eine Jacke zu viel angezogen hatten und ungläubig in den Himmel schauten, wenn sie aus ihren Häusern ins Licht traten."
Mackrodt, Christian. Ostkreuz: Erwachsenwerden in der Wendezeit


Das Zitat trifft es voll, denn genau die Gefühle überkamen mich, als ich am heutigen Tag, den 19. März 2025, verfroren aus meiner Haustür, in den Neunzigern auch die seine, auf unsere Straße trat.

Die Zeit am Ostkreuz muss Christian sehr geprägt haben, sonst hätte er kein Buch darüber geschrieben. Er lebte eigentlich nicht allzulange hier, aber es war seine erste eigene Wohnung nach der Schule. Das muss 94 gewesen sein. Er wollte hier erstmal seine Freiheit genießen und den Ernst des Lebens noch vor sich her schieben. So schafften er und seine Freunde bei einer Firma, die Kurzzeitjobs bei Umzügen oder als Helfer auf dem Bau vermittelte.

Auf den autobiografischen Roman „Ostkreuz“ von Christian Mackrodt stieß ich zufällig, als ich nach Spuren suchte, die mein Viertel im WeltWeiten hinterlassen hat. Ich fand einen Roman, der genauso hieß wie die Gegend hier. Das ist der Kiez, in dem ich seit langem wohne.

Er befindet sich nahe der Grenze zu Lichtenberg, so dass ich mich eigentlich mehr in Lichtenberg bewege als in Friedrichshain.
Der Autor und ich sind uns wohl kaum jemals über den Weg gelaufen. Er war den Neunzigern für kurze Zeit hier und ich lebe in diesem Haus seit 2000. Als er hier ankam, zog ich gerade von meiner Wohnung in der Neuen Bahnhofstraße, gegenüber dem Bahnhof Ostkreuz, in die Gubener Straße, weit weg vom Ostkreuz. Als ich dann nach fünf Jahren ans Ostkreuz zurückkehrte, wohnte er schon nicht mehr hier.

Aber viele Sachen, die er beschreibt, habe ich natürlich wiedererkannt. Es ist schon ein merkwürdiges Gefühl, seine vertraute Umgebung in den Augen eines Anderen wiedergespiegelt zu sehen.
Ich entdeckte viele Parallellen zwischen ihm und mir. Wir sind ja beide Kinder der DDR.

Blick aus einem Fenster am Ostkreuz

Eine Leseprobe war bei google-books auch vorhanden. Der Verfasser beschrieb den Ausblick aus dem Fenster, in dem er seine erste eigene Wohnung hatte. Mir schwante, dass er Anfang der Neunziger in meinem Haus gewohnt haben musste, vor der Sanierung.

Sein Ich-Erzähler heißt auch Christian wie der Autor selber.

Der Blick aus dem Fenster, den er beschreibt, ist derselbe, den ein Nachbar aus seinem hat, bzw. den er hatte, bevor die Baulücke vor noch gar nicht mal so langer Zeit geschlossen wurde.
Jetzt sehen wir nur noch auf die Neubauten, die sie uns vor die Nase gesetzt haben und die uns das Tageslicht wegnehmen. Der Autor würde seine alte Gegend gar nicht mehr wiedererkennen.
Wenn er damals schon depressiv war wegen dem mangelnden Sonnenlicht, wie würde es ihm heute erst gehen, in einer noch viel dunkleren Behausung.

Hartes Brot am Ostkreuz

Der Ich-Erzähler klagte noch sehr über Kohleschleppen und Frieren.
Das ist Jammern auf hohem Niveau, aber er ist in einer sonnigen, zentralgeheizten Berliner Wohnung aufgewachsen und wohl von seiner Mutter sehr verwöhnt worden und kam mit der Kälte und der Dunkelheit im Hinterhaus nur schlecht klar.
Mit Neunzehn hüpft man eigentlich auf einem Bein die Treppen hoch, trägt dabei zwei Kohleeimer und pfeift noch ein Liedchen.

Schmunzeln musste ich auch bei seinen Klagen über das ewig harte Brot, dass er, der in einer dreiköpfigen Familie aufgewachsen ist, nicht kannte.
Er biss in unserem Haus in das harte Brot der Alleinstehenden, denn frisch gekauftes Brot wird nach mindestens zwei, drei Tagen steinhart und ist dann aber noch lange nicht alle. Und natürlich schmeißt man es nicht weg.

So kauen Singles ständig auf hartem Brot rum.
Als ich mal eine Weile mit meinem Freund zusammenlebte, wurde auch bei mir endlich mal das Brot alle. Dadurch hatte ich immer frisches Brot im Haus und musste mir nicht mehr an den harten Kanten die Zähne ausbeißen.

Den grünen Tee, mit dem der Ich-Erzähler sich immer in seiner kalten Wohnung aufwärmt, dazu isst er Vollkornbrot mit Humus - er lebt übrigens sehr gesundheitsbewußt - habe ich kennengelernt, als es in den Kaufhallen Ostberlins in den Achtzigern, ein paar Jahre vor dem Fall der Mauer, eine Weile plötzlich keinen schwarzen Tee mehr gab.

Damals wohnte ich noch in der Käthe Niederkirchner im Prenzlauer Berg. Auch meine Wohnung war kalt, und ich versuchte mit heißem Tee meine Lebensgeister wachzuhalten und der Kälte zu trotzen.
Wir waren ja ein Land das wenig Devisen hatte, und Tee musste aus dem westlichen Ausland importiert werden. Zum Ersatz gelang es unseren Wirtschaftslenkern stattdessen irgendwo Grünen Tee einzukaufen.

Diesen Tee kannte man vorher in der DDR nicht. Heute gilt er ja als das ultimative Heilgetränk und soll bei vielen Krankheiten helfen.
Ich war ärgerlich, aber ich versuchte es mit dem Grüntee, es gab ja nichts Anderes. Meine Wohnung war kalt, und mit irgendwas musste ich mich ja aufwärmen und meine Gäste bewirten. Kaffee war viel zu teuer im Osten.

Zuerst schmeckte er mir gar nicht. Der Grüne Tee war viel heller als Schwarzer Tee und schmeckte auch ganz anders. Er war viel bitterer und auch viel stärker.
Aber wie das oft so ist, nach einer Weile gewöhnte ich mich an den Grünen Tee und wollte ihn nicht mehr missen.

Leider verschwand er nach ein paar Monaten wieder aus unseren Kaufhallenregalen und der Schwarze Tee kehrte zurück. Es war der DDR wohl gelungen mit irgendeinem asiatischen Land ein Lieferabkommen abzuschließen.
Später, in meiner nächsten Wohnung in der Neuen Bahnhofstraße, gegenüber dem Bahnhof Ostkreuz, die ich besetzt hatte, war dann die Mauer schon gefallen, und wir tranken alle nur noch Kaffee.

Überfordert am Ostkreuz

Die Hauptfigur des Romans, Christian, ist ein geborener Berliner, und mir wurde beim Lesen des Buches klar, wie anders der Start ins Leben ist, wenn man aus Berlin kommt und nicht wie ich und viele Kumpel von mir von weit her.

Er, dessen Eltern zwar geschieden waren, hatte seinen Vater mit Familie, seine Mutter und seinen Stiefvater, zwei Omas und viele Freunde, die er schon aus der Schulzeit kannte, nebenan oder nur ein paar S-Bahnstationen entfernt zu wohnen, und im Prinzip hatte er ja seine vertraute Umgebung nie verlassen.
Aber merkwürdigerweise war er trotzdem mit der Freiheit und Selbstständigkeit in seiner ersten eigenen Wohnung überfordert, obwohl er keinerlei finanzielle Probleme hatte, ganz im Gegensatz zu mir. Er, der noch nie allein gelebt hatte, scheiterte schon beim Saubermachen und Essenkochen.
Langsam verwilderte seine Wohnung, da ihm niemand mehr Druck machte aufzuräumen, er wurde etwas depressiv und fühlte sich einsam, obwohl er viele Freunde hatte. Vielleicht war der Grund dafür auch, dass er die Aura spürte, die die, die vorher in seiner Wohnung lebten, hinterlassen hatten.
In den Einraumwohnungen, die uns eng vorkommen, haben früher ganze Proletarierfamilien gewohnt. Hier sind Kinder geboren worden, es wurde gestorben und man prostituierte sich. Dort hungerten und froren die Berliner und hatten mehr Sorgen als Haare auf dem Kopf.

Ähnlich erging es mir in meiner ersten Berliner Wohnung in der Käthe Niederkirchner Straße im Prenzlauer Berg. Auch ich hatte noch nie alleine gelebt, sondern entweder bei meiner Mutter in unserem Dorf in Mecklenburg, im Lehrlingswohnheim, im Studentenwohnheim oder im Arbeiterwohnheim und war mit kalter Wohnung und zugefrorenem Außenklo erstmal überfordert.

Meine Möbel besorgte ich mir aus dem Sperrmüllcontainer in unserer Straße. Christian hatte seine von Bekannten und Verwandten geschenkt bekommen.
Aber ich, die aus dem Norden Deutschlands stammt, war, wie die meisten von meinem Kumpels, die fast alle von außerhalb sind, im Gegensatz zu Christian, völlig auf sich allein angewiesen. Und ich besaß noch nicht einmal einen Mietvertrag, sondern nur einen Ausbauvertrag.

Einheizen und Kohleeimerschleppen brauche ich nach der Sanierung übrigens nicht mehr, aber seit Putin uns den Ölhahn abgestellt hat und die Heizung so teuer geworden ist, ist es bei mir trotzdem nicht viel wärmer als bei ihm damals.

Vegetarier am Ostkreuz

An der Ecke zur Neuen Bahnhofstraße blieb ich kurz vor der Litfaßsäule stehen und checkte die Tafel mit dem Tagesgericht der Assikneipe. Hier gab es immer nur Klassiker: Pferderouladen, Eisbein mit Erbspüree, Brühpolnische mit Kartoffelsalat, Karpfen blau. Für mich als Vegetarier hatten diese Schrecklichkeiten etwas abstoßend Lustiges, wie Splatter-Szenen in den Filmen von Peter Jackson.“ *

Der optische Eindruck, den er hat, wenn er aus dem Haus tritt und zur neuen Bahnhofstraße läuft, ist derselbe, der sich mir täglich bietet. Damals gab es noch die Eckkneipe, die auch ich noch kenne und die vor ein paar Jahren ein paar Schritte weiter in die Neue Bahnhofstraße umgezogen ist und jetzt „Eine wie Keine“ heißt.

Dort wurde früher jeden Tag auf einer Tafel ein Mittagsgericht angeboten.
Das hat der Ich-Erzähler, der Vegetarier war, immer hochnäsig von oben herab kommentiert, fast so, als wenn er sein Lebtag nie Kohlrouladen oder Bratwurst mit Kartoffelbrei gegessen hatte.

Auch er hatte sich vor der Wende ganz normal ernährt, denn erst nach Mauerfall wurde es bei uns in Ostberlin Mode, vegetarisch zu leben.
Ich versuchte es auch, angeregt durch die Hausbesetzer hier am Ostkreuz, wurde aber immer wieder rückfällig. Einmal, ich lebte schon ein paar Wochen vegetarisch, kam ich an einem Fleischerladen vorbei und erspähte durch die Scheiben eine Kette Bockwürste.
Ich liebte Würste aller Art: egal ob Blutwürste, Jagdwürste, Bratwürste, Lungwürste, Grützwürste, Knackwürste, Lebenwürste usw. Auf vielen Kindheitsfotos sieht man mich, wie ich mit seligem Gesicht dastehe und in eine dicke Wurst beiße.

Es zog mich magnetisch in den Laden hinein. Und schon gab es eine Vegetarierin weniger in Berlin.
Und eine Assikneipe war das hier an der Ecke auch nicht, sondern eine ganz normale Arbeiter- bzw. Arbeitslosenkneipe, das Essen war preiswert, und Vegetarier war von den Gästen keiner. Aber ich geb zu, mit dem Pferdefleisch, das es dort öfter gab, hatte ich auch so meine Probleme.

Auf den Dächern über dem Ostkreuz

Dann lief ich die Neue Bahnhofstraße hoch. Von allen Straßen des Friedrichshains war sie wahrscheinlich die hässlichste: vierspurig, mit extrem schmalen Gehwegen, an denen sich lückenlos graue und braune Hausfassaden aneinanderreihten, zugekackt, dicht beparkt und mit ungefähr acht traurigen Bäumen auf dem ganzen Stück zwischen Weserstraße und Boxhagener. Einzig die Eldenaer Straße konnte ihr in puncto Ungastlichkeit das Wasser reichen.“ *

Darauf, dass die Neue Bahnhofstraße die häßlichste Straße Friedrichshains ist, war ich noch gar nicht gekommen. Na ja, ich gebe zu die Schönste ist sie nicht, aber sie gleich als die Häßlichste zu bezeichen, halte ich dann doch für übertrieben.

Den Dönerladen, Ecke Boxhagener, neben dem der Freund des Erzählers wohnt, hatte es damals auch schon gegeben. Ihn gibt es heute auch noch, bloß das der Döner jetzt, im Jahre 2025, im Gegensatz zu damals, wo er, wie ich mich noch erinnern kann, 2,50 DM gekostet hat, 6€ kostet.

Sein Kumpel züchtet in der Neuen Bahnhofstraße Marihuanapflanzen auf dem Dach und dort hielt sich sein Freundeskreis oft auf, kiffte, hörte Musik und malte. Marihuanapflanzen in Töpfen sah ich zuerst Anfang der Neunziger in der Wagenburg in der Wuhlheide, wo mir jemand stolz seine Eigenzüchtung zeigte und mir einen Vortrag hielt über die Vorteile und Nachteile von grünem und schwarzen Afghanen.
Von den Wessis schien Haschisch als Heilkraut angesehen zu werden, das Tote lebendig machen kann. Die Nebenwirkungen auf die Psyche blendeten sie aus. Dafür verteufelten sie den Alkohol.

Das man Berliner Dächer betreten kann, kannten wie zu DDR Zeiten nicht.
Erst mit der Wende und den neu gewonnenen Freiräumen, in der kurzen Zeit, in der alles erlaubt zu sein schien, wurde es bei uns Mode, die Dächer zu besteigen. Das erstemal auf einem Berliner Dach saß ich 91 in einem besetzten Haus in der Schliemannstraße im Prenzlauer Berg. Und ich fand es gar nicht so besonders toll, da alles ungesichert war. Ich war froh, als ich da wieder runter war.

Techno am Ostkreuz

Der Freundeskreis des Erzählers war in der Technoszene unterwegs. Für die Technobewegung, die sich nach der Wende etablierte, fühlte ich mich bei Mauerfall schon zu alt. Ich hatte aber auch gar kein Interesse daran.
Diese Musik war einfach nicht mein Ding. Niemals habe ich einen der Clubs betreten, von denen er spricht. Aber ich denke, wenn ich so alt wie er gewesen wäre, wäre ich wahrscheinlich um Techno nicht herum gekommen und hätte mir auch im WMF, im E-Werk oder im Toaster die Gliedmaßen verrenkt.

Die Loveparade habe ich bloß im Fernsehen mitgekriegt, traf hier in Friedrichshain und Lichtenberg aber auf Schritt und Tritt auf Openair Technopartys, schüttelte den Kopf und verstand nicht, was die Leute daran fanden. Meine musikalischen Interessen lagen bei Blues, Punk, Metal.
Ich rechnete aber der Technoszene hoch an, dass sie alte Berliner Industriearchitektur, die dem Verfall preisgegeben war, wieder nutzbar gemacht hat.

Vor einigen Jahren, es war ein klapperkalte Silvesternacht, hatten Technokids hier auf dem Anne-Mirl-Bauer-Platz, der dem Bahnhof Ostkreuz gegenüberliegt, ein spontanes Openair veranstaltet. Da ich nichts anderes vorhatte, holte ich mir aus dem Späti ein Flasche Wein und gesellte ich mich zu ihnen.
Ich bewunderte ihren Enthusiasmus und Durchhaltewillen, den es war, wie schon erwähnt, bitterkalt. Wir tanzten, bis die Batterien aufgaben, währenddessen uns der Atem vor den Mündern gefror.

In Alt Stralau auf dem Gelände des Neuen Deutschlands fand an einem Wochenende ein wilde Technoparty statt, d. h. ein Trüppchen Unentwegter stand im Nieselregen vor einem Soundsystem auf Rädern.
Ein paar Kids laufen verzweifelt um das abgezäunte Gelände herum und fragen, wo der Eingang ist. Da kann ich leider auch nicht weiterhelfen. Wahrscheinlich sind die, die drin sind, auch über den Zaun gestiegen. Ihr Equipment über den Zaun zu hiefen, der gar nicht mal so niedrig ist, muss aber eine besondere logistische Leistung gewesen sein. Das erinnert mich daran, wie wir zu DDR Zeiten oft mal auf einem spontanen Blueskonzert auf einem Parkplatz an der Dimitroffstraße, in einem Biergarten in Köpenick, in einem Gasthof in Wildau oder unter dem Riesenrad im Plänterwald getanzt haben. Das sprach sich nur über Mundpropaganda rum, da es noch keine Handys gab.

Besetzte Häuser am Ostkreuz

Wenn ich ihm kein Haschisch besorgte, ging er wahrscheinlich direkt zurück zum Eisenbahner in der Pfarrstraße und kaufte von irgendeinem grindigen Punker in der Hausbesetzerkneipe ekelerregenden, mit Schallplatten oder Schuhcreme gestreckten Standard.“ **

Auf dem Weg zum Ostkreuz kehrten wir noch kurz im Supamolly am Traveplatz ein, um zum Runterkommen ein Bier zu trinken. In den letzten zwei Jahren hatten die meisten Feiernächte in Jans Wohnung begonnen und im Supamolly geendet. Mir waren die ganzen Hausbesetzer und Politpunker da eigentlich zu anstrengend,...“ *

Das Supamolly und die Pfarrstraße, zu der der „Eisenbahner“ gehörte, sind besetzte Häuser hier ganz in der Nähe. Im Supamolly, das nur ein paar Schritte von unserem Haus entfernt ist, war ich in den Neunzigern öfter mit meiner Freundin. Es ist ein besetztes Haus, das im Frühjahr nach der Wende besetzt wurde, als die Kreuzberger Autonomen rüber in den Osten kamen. Ich habe gehört, dass die ehemaligen Hausbesetzer, das Haus gekauft haben und es selbst verwalten.

Früher bin ich auch oft ins Supamolly gegangen, weil die Getränke dort noch erschwinglich waren. Eine Cola-Whiskey kostete drei Mark, woanders wollten sie schon sechs oder sogar acht Mark haben. Ich habe den Eindruck, dass die Freunde des Ich-Erzählers, die alle aus Ost-Berlin stammten, bei der Wende Teenager waren und meist in Friedrichshain und Lichtenberg aufgewachsen sind, genausowenig wie meine Freundin und ich wirklichen Kontakt zur Hausbesetzerszene hatten, obwohl sie natürlich auch von den besetzten Häusern magnetisch angezogen wurden.
Sie fanden dort nicht wirklich Anschluss.
Wir, die entweder in Ost- und Westdeutschland aufgewachsen waren, in zwei total verschiedenen Systemen, sind wohl zu unterschiedlich sozialisiert worden, um uns zu verstehen.

Vom Ostkreuz nach Indien

Der Ich-Erzähler und seine Freunde knüppelten eine Weile auf dem Bau, verdienten gutes Geld und machten dann über die Wintermonate eine dreimonatige Reise nach Indien.
Ich selber war noch nicht dort, aber ich habe viele Indienreisende in meinem Bekanntenkreis.
Nach der Wende wurde es bei uns Mode nach Indien zu reisen. Alle fuhren auf einmal dorthin. Mich hat Indien nie gelockt. Ehrlich gesagt, ich wußte gar nicht, was ich da sollte. Den Einheimischen beim Hungern zusehen?
Meine beste Freundin fuhr nach Indien, auch für drei Monate. Ein paar Monate hatte sie Zeitungen ausgetragen und noch bei einer Putzfirma ausgeholfen, um das Geld zusammenzukriegen. Sie reiste zusammen mit ihrem großen Potsdamer Freundeskreis, und sie hatten sogar zwei Kinder dabei. Eigentlich hätte das ja super werden müssen.

In Goa langweilten sich alle gräßlich, zerstritten sich fürchterlich und kamen wochenlang nicht vom Klo runter und mit der Hitze und dem scharfen Essen nicht klar. Sie waren froh nach drei Monaten wieder in den Flieger nach Deutschland einsteigen zu können. Meine Freundin hat ihre Indienreise nie wieder erwähnt.
Im Supamolly traf ich mal einen Kumpel von mir. Er war gerade von seiner Freundin verlassen worden und wollte jetzt für ein halbes Jahr allein nach Indien. „Ob ihm das weiterhilft, oder ob ihm das den Rest gibt?“, ging es mir durch den Kopf.

Drogen am Ostkreuz

Nach der Wende wurden für uns Ostdeutsche Drogen zugänglich. Auf Feten wurde gekifft, wobei ich aber nie etwas spürte. Haschisch wurde in Kekse eingebacken oder mit Brühe verrührt. Dabei merkte ich schon eher etwas, aber es gefiel mir nicht.
Seit ich einmal, nachdem ich Kekse gegessen hatte, das Bedürfnis verspürte, meiner besten Freundin eine runterzuhauen, wurde mir klar, dass das nichts für mich ist und ich blieb bei Bier und Cola-Whiskey.
In der Pfarrstraße, im besetzten Haus, erzählte mir mal jemand begeistert von einer Party mit Fliegenpilzpizza. Zum Schluß liefen alle schreiend umher. Was fand er bloß daran so gut?

Der Ich-Erzähler und seine Freunde pflegten einen sorglosen Umgang mit Drogen. Mir wurde Angst und Bange, als ich das las. Und es kam so, wie ich es vorausgesehen hatte. Er blieb auf einem Trip, den ihm eine Frau auf der Insel der Jugend leichtsinnigerweise in die Hand gedrückt hatte, hängen. Er entwickelte dadurch schwere psychische Probleme. Eigentlich hätte er in Behandlung gehört. Zum Glück gingen die Symptome nach einigen Monaten wieder zurück, und er erkannte, dass es nicht mehr so weitergeht, und dass er auf der Stelle tritt.

Keinen Bock mehr auf Ostkreuz

Nach einer Weile verlor er fast zu sämtlichen Freunden und Freundinnen den Kontakt. Mit seinem besten Kumpel, der wie ein Bruder für ihn war, entzweite er sich auf der Indienreise, und einer war sauer auf ihn, weil er ihm eine Frau ausgespannt hatte, und zu den Anderen schlief das Verhältnis ein. Mit einer Freundin hatte er selber Schluß gemacht, seine große Liebe verließ ihn, als er die drei Monate in Asien war. Ähnliches ist mir auch passiert.

Langsam bekam er vom Ostkreuz die Nase voll.

Er stellte sich breitbeinig hin, sah zu seinen Fenstern hinauf und schrie: »Ich will nich mehr in dieser scheißkalten Hinterhauswohnung leben, in die niemals die Sonne scheint! Das ist doch ein Grab und keine Wohnung!“ *

Er zog nach Prenzlauer Berg, weg vom Ostkreuz, schrieb sich an die Uni ein und begann ein neues Leben. Sein Roman, der in meinem Haus und seiner näheren Umgebung spielt, ist auch eine wehmütige Reminiszenz an seine Jugend am Ostkreuz und seine Freunde.


Zum Schluss noch ein Zitat aus einem Gedicht, das auch von einem Christian ist.

Berlin
Ich liebe dich bei Nebel und bei Nacht, wenn deine Linien ineinander schwimmen, -
zumal bei Nacht, wenn deine Fenster glimmen und Menschheit dein Gestein lebendig macht.
Christian Lichtenberg


Die Zitate mit * sind aus Mackrodt, Christian. Ostkreuz: Erwachsenwerden in der Wendezeit.
** Wer sich für den Eisenbahner interessiert: Ich habe schon in „Verrückte Weihnachten – Das Konzert, dass nie anfing“ darüber geschrieben.

Fazit: Und was ist meine Meinung? Gefiel mir das Buch ? Na ja. Viele Sachen wirken sehr konstruiert, besonders die Liebesgeschichten. Es bleibt alles zu sehr an der Oberfläche. Die Jugendlichen, übrigens fast alles Berliner und dadurch, im Vergleich zu meinem Freundeskreis, auch mehr abgefedert, sind eigentlich nicht wirklich aufmüpfig, sondern probieren nur, auch mit Hilfe von sehr viel Partydrogen, die kurze Phase der Freiheit bis zum Erwachsenenalter, die ihnen die Gesellschaft zubilligt, so gut wie möglich nutzen.

Meckern auf hohem Niveau, denn wer kann schon von sich sagen, dass es ein Buch über sein Haus gibt.
 
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