Träumen, flüchten, atmen

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Janine

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Das Quietschen der Bremsen auf dem glatten Eisen der Zugschiene schiesst durch mein Blut, als hätte man mir eine giftige Injektion verabreicht. Reflexartig halte ich mir mit meinen Zeigefingern die Ohren zu und spüre die kalten Kuppen meiner restlichen Finger auf meinen Backen. Mein Herz pumpt schneller als noch einige Sekunden zuvor und die Muskeln rund um meine Augen verkrampfen sich. So sitze ich starr da und warte. Warte, bis ich ich bereit bin, mich der Welt wieder hinzugeben. Warte, bis sich mein Körper beruhigt hat. Ich spüre den starken Ruck, mit dem mein Kopf an den Sitz zurückgeschleudert wird, öffne die Augen, und die Welt steht still.

Durch die schmuddelige Scheibe sehe ich das Gewusel auf dem Bahnsteig; Menschen, die sich in Züge drängeln, aneinanderstossen, suchend umherblicken und Gepäck herumschleifen. Oh, ich will da nicht raus, nie mehr, nie mehr raus. Ich will für immer bleiben, meine Augen geschlossen halten, träumen, flüchten, atmen.
Ein kalter Luftstrom aus meiner Nase berührt meine Oberlippe, ich spüre meine trockene Spucke meinen Hals hinab wandern und beschliesse, dass ich noch nicht bereit bin. Das Geschrei und Gequengel um mich herum scheint immer weiter entfernt, meine Gedanken drehen sich, wie auf einem Karussell, und ich lasse mich auf den leichten Schwindel ein.

Und dann ist da nichts mehr als die endlose Weite meines Lieblings-grün. Das taunasse Gras lugt zwischen meinen nackten Zehen hervor und ich spüre die kalte Erde an meinen Fusssohlen reiben. Gerne würde ich sagen, dass es nach Blumen und Blüten riecht, aber anstatt eines rosigen Dufts durchströmt mich erdige Feuchte.
Ich lasse meinen Füssen Zeit, den Untergrund zu entdecken; die Zehen in die Erde zu bohren, die Fersen zu heben, die Riste aufzulegen. Und dann, ruckartig wie das Bremsen des Zuges, renne ich los. Renne, bis ich nicht mehr kann. Bis die Luft nicht mehr in meine Lunge gelangt und meine Beine mich nicht mehr tragen. Breite meine Arme aus, stelle mir vor zu fliegen, spreize meine Finger und fange den Wind ein. Meine Haare wild im Gesicht und meine umgebundene Jacke tief am Gesäss. Oh, ich will ich sein, für immer, für immer ich sein. Ich will nie mehr warten, meine Augen geschlossen halten, träumen, flüchten, atmen.
 



 
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