Traumbastler

Familie Ohlers lebte in der Komfortzone des Mittelstands. Die neuen Technologien und futuristische wissenschaftliche Forschung gehörten bei ihnen noch nicht zum Alltag. Das Familienoberhaupt, Helmut Ohlers, fühlte sich in seiner beruflichen Tätigkeit als Außendienstleiter eines Versicherungsunternehmens zufrieden. Seine Freizeit füllt er überwiegend mit Basteln und Werken. Eine zusätzliche Freude bereitete ihm dabei sein Sohn Leon, der diese handwerklichen Vorlieben des Vaters teilt. Was der Sohn bereits in ganz jungen Jahren mit Werkzeug und Bauteilen zustande brachte, war einfach phänomenal. Es war dabei nicht nicht nur das handwerkliche Geschick, das ihn auszeichnete. Technische Zusammenhänge zu erkennen und Probleme zu lösen, das konnte Leon wie kaum ein Zweiter. Dies setzte sich später in der Anwendung digitaler Techniken fort. Ebenfalls vom Vater übernommen hatte Leon dessen Leidenschaft für den Besuch von Baumärkten. Vater und Sohn konnten dort stundenlang auf Entdeckungsreise gehen - auch ohne konkrete Kaufabsicht. Durch diese häufigen Expeditionen durch die Welt der Baumärkte hatte sich Leon ein enormes Wissen über die dort in riesiger Zahl angebotenen Artikel angeeignet. So war Ihm bereits frühzeitig aufgefallen, dass ein sehr großer Teil des Warenangebots Importe aus China waren. Für den kleinen Jungen eine spannende Beobachtung, derart viele Gegenstände des täglichen Gebrauchs mit exotischen Zeichen beschriftet zu sehen. Dieses Faible für chinesische Schriftzeichen verband ihn mit einer Vorliebe seiner Großmutter Luise, die seit vielen Jahren Stammgast in einem China-Restaurant war, mit dessen SeniorChef sie sich angefreundet hatte und ihm beim Erlernen der deutschen Sprache behilflich gewesen war – mit Erfolg. So wurde der alte Kang-Chi einer der wenigen Chinesen, die das deutsche 'R' einwandfrei aussprechen können, und nicht wie sonst üblich auf das 'L' ausweichen müssen.

Leider konnte die alte Dame irgendwann ihrer Passion, chinesisches Essen, nicht mehr wie gewohnt frönen, sie litt unter Arthrose an den Fingern, die es ihr unmöglich machte, mit Essstäbchen zu speisen. China-Food mit Löffel und Gabel lehnte sie kategorisch ab, das wäre ein schlechter Stil, so Oma Luise. Zu ihrer großen Freude hatte Enkel Leon ihr daraufhin eine praktische Hilfe konstruiert: für die von Arthrose deformierten Hände maßgeschneiderte Fingerlinge. Diese wiesen an den Auflagepunkten speziell geformte Polster auf, so dass sie die Essstäbchen mit wenig Kraftaufwand zur eleganten Speiseaufnahme benutzen konnte. Bald war Luise beim chinesischen Essen wieder so virtuos wie früher; selbst einzelne Erbsen und Erdnüsse konnte sie wieder problemlos 'waidmännisch' fassen. Durch Omas Vorliebe für diese Speisen war vieles aus dem Reich der Mitte bei den Ohlers zum Alltagsthema geworden, dennoch verblüffte Leons Ankündigung, Sinologie studieren zu wollen. Alle hatten fest mit einer technisch-naturwissenschaftlichen Ausbildung gerechnet, gerätselt wurde eigentlich nur welches Fach. Der junge Abiturient verfolgte sein Ziel aber konsequent und schloss das Studium an der Universität Heidelberg mit dem Master ab. Darauf folgte ein Jahr der Weiterbildung in China, an der Shangdong Universität in Jinan. Leons Plan war es, später für deutsche Unternehmen im Chinahandel beratend tätig zu werden – ein Bereich mit enormen Potential. Aber dazu sollte es nicht kommen.

Das Leben als Student in China stellte für Leon zunächst die erwartete Herausforderung dar. Er hatte sich jedoch schnell an die Lebensweise in seiner neuen Umgebung gewöhnt und fand rasch Anschluss an eine Gruppe einheimischer Studenten, die ihn zwar als exotisch empfanden, aber seine vorausschauende Art an Probleme heranzugehen, sehr schätzten. Durch die Familie seiner Freundin Shemmi lernte Leon viel aus dem authentischen Alltagsleben des Landes. Besonders mit dem Großvater seiner Freundin, Hao Jin, verstand er sich ausgezeichnet. Sie waren Brüder im Geiste. Opa Jin war ein Tüftler alter Schule, der vor vielen Jahren das Plektron für Linkshänder erfunden hatte. Der alte Herr war ungemein technikafin und fand die Herausforderungen der neuen Wissenschaften spannend. So verfolgte er mit Interesse die verborgene Forschungsarbeit der Studentengruppe um seine Enkelin Shemmi und deren Freund Leon. Und diese Gruppe war, zusätzlich zu ihrer eigentlichen Tätigkeit an der Universität, auf einem höchst sensiblen Forschungsgebiet im Bereich der menschlichen Spezies tätig; wissbegierig, zielgerichtet und unkonventionell. Das, was im amerikanischen Silicon Valley als Künstliche Intelligenz Furore machte, war für diese Jungforscher in China eine lahme Ente ohne großes visionäres Potential. Selbst die hier im Lande vorgenommenen Eingriffe in den Bauplan des Menschen zur Schaffung eines humanoiden Klons galten ihnen als zu schlicht, zu ähnlich der 'Methode Dr. Frankenstein'.

Die hellen und furchtlos forschenden Geister um Shemmi und Leon Ohlers waren einer Vision gefolgt und hatten so den energetischen Ursprung der menschlichen Träume gefunden. Sie fanden bestätigt, dass Träume zwar überwiegend in der Schlafphase stattfinden, aber dort nicht zwingend für die Regeneration notwendig sind. Es steckte mehr dahinter. So hatten sie neuro-elektrische Rezeptoren isoliert, die bei nicht veränderter Impulsfrequenz scheinbar unsortiert senden. Doch bei genauerer Analyse war ein System zu erkennen, das einem kryptischen Sudoko glich. Und dieses hatte Leon entschlüsselt. Er war in der Gruppe derjenige mit der größten Begabung als Algorithmus-Architekt. Im Ergebnis Ihrer Forschungen stellten sie fest, dass man über die Rezeptoren aus Traumsequenzen Emotionen erzeugen kann, um so charakteristische Merkmale des menschlichen Wesens zu modifizieren. Unglaublich. Diese jungen Forscher hatten nicht weniger als den Ursprung, und damit nicht nur den Beweis über die Existenz und Beschaffenheit der menschlichen Seele gefunden, sondern auch deren sphärischen Bauplan erkennbar gemacht. Für sie eine bedeutendere Erkenntnis als Einsteins Weltformel.

Alle Ergebnisse dieser brisanten Entdeckungen wurden zunächst analog dokumentiert und später digital verschlüsselt. Leons Aufgabe war es, dieses auszuführen. Am letzten Forschungstag hatte er für sich nach Feierabend noch eine Extra-Schicht drangehängt und eine spezielle Traumsequenz seziert, und zwar die eines Albtraums. Und was er dort erblickte, verstörte ihn, er konnte es nicht fassen, welche Varianten der menschlichen Seele man auf diese Weise erschaffen konnte. Eine grauenvolle Erkenntnis, wie Charaktereigenschaften labortechnisch kreiert und noch schlimmer, auf diese Weise manipuliert werden können. Leon kopierte sämtliche bisherigen Ergebnisse auf einen USB-Stick und löschte alle Verläufe. Er erkannte, sie waren in ihrem Forscherdrang zu weit gegangen; mit so etwas sollte und durfte die Wissenschaft nicht umgehen. Mit dem Stick in der Tasche machte er sich auf den Weg, um seine neuesten Erkenntnisse mit seinen Freunden zu bewerten. Kurz vor Erreichen des Treffpunkts kam sein E-Mobil von der Straße ab und versank nahe der Biegung eines Flusses in dessen dunkler Tiefe – mit ihm das Geheimnis um die Seele des Menschen.
 

Bo-ehd

Mitglied
Sehr schön und wahrhaftig, wie wir inzwischen wissen. Die Revolution frisst mal wieder ihre Kinder.
 



 
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