Tsunami

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Günter Wendt

Mitglied
Kalter Wind peitschte über die Salzwiesen. Kurze, heftige Hagelschauer prasselten auf die Schafe, die sich am niedrigen Deich zusammengekauert hatten.
Schon am Tag hatte sich Panik in Rungholt breitgemacht, als bei den Frerksens eine Kuh mit zwei Köpfen geboren wurde. War der Hofbesitzer doch bekannt dafür, dass er gotteslästerliche Flüche ausstieß, sobald die Sprache auf den christlichen Glauben kam. „Ach was! Verdammter Aberglaube! Nur weil angeblich ein Mensch, der von den Römern verurteilt wurde, so mir nichts, dir nichts wieder aus seinem Grab gestiegen sein soll? Blödsinn! Tot ist tot!“, rief er, wenn der Dorfpfarrer in der Schänke seinen Schafen wieder eine Geschichte aus der Bibel vorlas. Nun hatte er das Ergebnis seiner lästerlichen Sprüche! Viele, die seinen Mut bewunderten und zu ihm gehalten hatten, nahmen nun Abstand. Wer will schon ein Schaf oder ein Schwein mit zwei Köpfen? Gut, wandten einige ein, man konnte zweimal Kopfsülze machen, aber war es das wert? Der Zorn Gottes war nicht zu unterschätzen! Da kam kein Thor oder Wotan mit!

Vollkommene Dunkelheit, wäre nicht der flackernde Schein eines Feuers gewesen, um das sich zwölf in schwarzen Mönchskutten gekleidete Gestalten gescharrt hatten. Rhythmisch schwankten ihre Oberkörper im Takt ihres Gesanges, der die kleine Kirche inmitten der nordfriesischen Wildnis erzittern ließ. Jemand hob eine goldene Rose empor. Blut tropfte von den Dornen und verdampfte zischend im Feuer. Ihm gegenüber hob jetzt ein anderer ein handgroßes Medaillon in die Höhe und antwortete mit den vorgeschriebenen Worten. Verschlungene Ornamente zierten die Vorderseite und es tropfte ebenfalls Blut von diesem Zeichen der Gläubigkeit ins Feuer.
Als in dieser eiskalten Nacht jeder aus der Gemeinschaft der Zwölf seiner Wege ging, geschah das Unglück: Frerksens Hof brannte bis auf die Grundmauern nieder. In dem Feuer verbrannte seine Familie, sein Vieh und, was viele mehr bedauerten als den Tod der Menschen, auch der Hund.
Zeugen wollten in dieser Nacht gesehen haben, wie jemand im Haus der Frerksens mit einer brennenden Kerze herumging. Selber Schuld, hieß es schulterzuckend und jeder ging seinem Tagwerk nach. Hinter der Hand wurde allerdings gemunkelt, dass die Zeichen klar gewesen seien. Seitdem die zwölf Christen im Dorf waren, geschahen seltsame Dinge. Frauen verschwanden, das kam schon mal vor. Auch Kinder ertranken schon mal im Watt. Damit lebten die Bewohner der Küste. Aber seitdem diese seltsame Gruppe von Mönchen im Dorf lebte, verschwanden so viele Frauen und Kinder wie nie. Gut, es kommt auch vor, dass eine junge Frau ohne sich zu verabschieden ins nächste Dorf zog. Oder wenn die Sachsen an der Ostküste wieder mal Frauenmangel hatten und sie Frauen oder Kinder entführten. Das kannten sie, damit lebten sie. Aber so spurlos? Keiner hatte etwas gesehen, niemand bekam etwas mit. Am nächsten Tag waren sie fort. Einfach so.
Ein Schlauberger meinte in der Schänke, dass man sich die doch von den Angeln zurückholen könne. Eine kleine Armee mit den Nachbardörfern aufgestellt und die von der Ostküste mal so richtig vermöbeln. Daraus wurde dann auch nichts, weil man ja so viel zu tun hatte. Die Schafe, die Kühe … und überhaupt würde sich das wieder einpendeln, hieß es.


Willy Wendt, seines Zeichens Hauptkommissar der Husumer Mordkommission, schlug das Buch zu. Was für ein Schwachsinn! „Die Rache der Zwölf“, hieß das Machwerk des Autoren, der die Sage von Rungholt neu aufleben ließ. Verpackt als „Verschwörungsthriller“ wurde ziemlich lahm behauptet, dass der Untergang des Ortes Rungholt das Ergebnis verschwörerischer Kräfte gewesen sein soll. Er sah auf seine Uhr. Zwölf Uhr. Mitternacht. Zeit zum Schlafen. Er ging an den Kühlschrank, um sich ein Gute-Nacht-Bier zu genehmigen. Oder sollte er lieber das Eis …? Lieber nicht, entscheid er, sonst läuft die Badewanne noch über. Er musste über diesen schwachen Witz grinsen. Zwei Clowns in der Stammkneipe hatten ihm diesen lahmen Scherz im Suff erzählt. Er fand es beim ersten Mal saukomisch und hatte sich totgelacht.
Die Lampe im Kühlschrank flackerte, dann war es dunkel. Zappenduster. Im Haus, auf der Straße, so richtig dunkel. Schwarz. Willy fluchte laut und tastete nach seinem Feuerzeug in der Hosentasche. Irgendwo hatte er eine Taschenlampe. Ach ja! Am Sicherungskasten. Natürlich. Da lag sie gut.
So ging er mit seinem Feuerzeug als Fackel vor sich haltend, zum Sicherungskasten. Seltsame Dunkelheit, dachte er, als er einen heißen Daumen bekam und das Feuerzeug kurz ausmachen musste. Wirkliche Dunkelheit. Totale Schwärze.
Als er die Lampe anknipste, musste er geblendet kurz die Augen schließen. Mit dieser modernen Fackel bewaffnet ging er vor die Tür, auf die Straße. Nachbarn standen herum und diskutierten heftig. Jeder hatte ein Leuchtmittel in der Hand. Wie im Mittelalter fühlte man sich. Außerhalb der kleinen Lichtkegel war es pechschwarz. Zu ihrem Glück war es in dieser Nacht nicht besonders kalt und ein letzter, warmer Sommerhauch ging durch die Straßen. Über ihnen schien ein vollkommen klarer Sternenhimmel.
Und es war, abgesehen von den Motoren der Autos und den Stimmen auf der Straße, erstaunlich still. Die Klimaanlagen der beiden Hotels im Viertel liefen natürlich nicht und nun war es offensichtlich welchem Lärmpegel man selbst in der Nacht ausgesetzt war. Kein Fernseher, keine Stereoanlage, kein Radio und keine Heizungsanlage. Sämtliche elektrischen Geräte waren aus.

Er gesellte sich zu seinen Nachbarn. Viele standen mit ihren Smartphones herum und wussten nichts mit der Meldung „Kein Netz“ anzufangen. Klar. Wären es Funkgeräte, wäre das kein Problem. Aber da das Signal nicht verstärkt werden konnte, mangels Strom in den entsprechenden „Zellen“, war das Smartphone nur ein Stück Plastik.

„Festnetz geht noch!“, rief jemand aus einem Fenster herunter.
„Ist aber total überlastet!“, rief eine andere Stimme.
„Radio geht auch nicht!“, schallte es aus einer anderen Ecke der Straße.
„Aber Mittelwelle. Ist doch logisch“, antwortete eine andere Stimme.
Willy dachte nach. Das konnte nur bedeuten, dass in ganz Schleswig-Holstein der Strom ausgefallen war. Das Problem war nur, dass inzwischen fast alle deutschen Radiosender ihre Mittelwellensender eingestellt hatten und auf UKW umgestellt hatten.
Jetzt waren Polizeisirenen zu hören. Ein Fahrzeug der Kripo mit Blaulicht und Martinshorn kam in seine Straße gefahren. Dicht vor Willys Beine kam der Wagen zum stehen. Eine lange, schwarze Gestalt faltete sich, gemeinsam mit der sich öffnenden Tür, auseinander. Sein Kollege Seigur Larsson.
„Was ist los Larsson?“
„Es ist dunkel.“, kam die lakonische Antwort.
„Ja. Soll in der Nacht vorkommen.“, war Willys logische Folgerung.
Er stieg zu seinem Kollegen in den Wagen. „Halt!“, rief er, als der Kollege Gas geben wollte. Er sprang heraus und schloss sein Haus ab. Dann brausten sie los.

„Was genau los ist, wissen wir nicht“, informierte Seigur seinen Chef. Er fuhr fort: „Wir haben über unser internes Netz Informationen erhalten, dass zumindest im nördlichen Schleswig-Holstein totaler Stromausfall herrscht. Teile von Dänemark an der Grenze sind auch betroffen. Momentan versuchen die Stromanbieter mit ihren Fachleuten den Fehler zu beheben.“ Er konnte im letzten Moment einem Mann ausweichen, der scheinbar völlig betrunken durch die schwarze Nacht torkelte. „Letzte Meldung ist, dass nun versucht wird über andere Leitungen Strom aus Dänemark ins Land zu liefern.“

Larsson kannte sich aus in Husum, genauso wie sein Chef, der bemerkte, dass sie inzwischen an der Polizeidirektion vorbei waren und in Richtung Husumer Bucht preschten. Durch die schwarze Nacht. „Ich muss Ihnen was zeigen“, sagte Larsson, als sie an der Husumer Dockkoogspitze waren. Sie ließen das Auto mit flackerndem Blaulicht stehen und stiegen mit ihren Taschenlampen die Treppe zum Deich hoch.

„Hören Sie?“, fragte Willys Assistent atemlos, als sie oben waren.
„Nö.“
„Hören Sie mal genau hin, Chef.“
„Ich höre nichts. Nur ein paar Vögel irgendwo.“
Der Kommissar stierte vergeblich in die Finsternis. „Normalerweise ist jetzt Hochwasser.“, sagte Larsson düster. Wendt ging vorsichtig in Richtung Wasserkante, bis zur Steinbegrenzung. Er leuchtete ins Watt. Trocken. Sein Licht verlor sich auf der anderen Seite der Husumer Mühlenau, die hier sich mit der Nordsee vermischte. Normalerweise. Selbst bei Niedrigwasser und bei Dunkelheit konnte man gewöhnlich Wasser in der Fahrrinne erkennen. Jetzt gähnte dort eine tiefe, trockene Rinne.
„Wir haben Meldungen, dass dieser Wasserrückzug eine Stunde vor dem Stromausfall begann. Die Inseln und die Halligen liegen praktisch auf dem Trockenen. Zu Helgoland haben wir keinen Funkkontakt. Ein Hubschrauber der Luftwaffe ist aber auf dem Weg um sich dort vor Ort ein Bild zu machen.“ Larsson unterbrach seinen Bericht und sah auf die Zeitanzeige auf seinem Smartphone. „Die müssten in etwa einer halben Stunde dort eintreffen.“

„Haben Sie Kontakt zu anderen Städten in Schleswig-Holstein?“
„Ja. Über unser Intranet und Satelliten. In Heide kam es nur teilweise zu einem Ausfall. Lübeck meldet keine Probleme und Hamburg hat von dem ganzen nichts mitbekommen. Nur, dass dort der Hafen auch fast trocken liegt, bis auf das Wasser das die Elbe herunterkommt. Die komplette Deutsche Bucht fällt trocken, wenn das so weitergeht.“ Sie stiegen wieder den Deich hoch. Während sie schweigend rauchten sahen sie eine lange, blinkende Kette blauer Lichter in ihre Richtung kommen. Fahrzeuge des Katastrophenschutzes und des Technischen Hilfswerkes.

„Irgendwann muss das Wasser ja zurückkommen“, hoffte Wendt und im selben Moment erkannte er das Unfassbare. Er sah seinen Kollegen an. „Und zwar alles.“
Mit vor Entsetzen geweiteten Augen sahen sich die Polizisten an. In diesem Augenblick erstarb die leichte Brise, die von der Nordsee hereingekommen war. Und sie hörten weit in der Ferne ein Donnern. Sie spürten es in ihren Füßen. Der Boden begann zu vibrieren.
„Was schätzen Sie? Wie lange?“ Larsson sah seinen Chef an.
„Für eine Zigarette wird es noch reichen.“, erwiderte der.
„Ich rauche nicht.“
„Kommt es jetzt noch darauf an?“
 



 
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