Über das Fliegen, Glück und ein rotes Stirnband

Shallow

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„Jeder ist seines Glückes Schmied“, sagte Lorenz. Er sagte es immer, wenn er die Englisch-Klausuren zurückgab. Der Stapel auf dem Pult vor ihm war ordentlich sortiert. Oben die schlechtesten Arbeiten, unten die besten. Die Schlechten verteilte er zuerst, das gehörte zum Ritual. Nach einer langen Pause, in der die gesamte Klasse geduckt vor ihm saß, stand er auf und griff nach den Blättern. Es war totenstill, dann schritt er durch die Reihen der Schüler. Ich glaube, diesen Moment genoss er am meisten. Jeder hoffte, dass er vorbeiging und einem nicht die schlechteste Arbeit auf den Tisch pfefferte. An meinem Platz blieb Lorenz nicht stehen. Ich atmete auf. Hinter mir erwischte es ein Mädchen, dem er die Klausur mit angewidertem Blick hinwarf.
„Deine mündliche Leistung hast du eindrucksvoll bestätigt mit diesem …“
Er tat so, als fände er kein passendes Wort und runzelte die Stirn.
„Alles halb so schlimm, wäre da nicht die Sache mit der Versetzung“, fügte er hinzu. Dann kam er zu mir. Schön war das nicht.
Vor allem deshalb nicht, weil wir die Arbeiten von den Eltern unterschrieben zurückgeben mussten. Das roch nach Ärger zu Hause kurz vor den großen Ferien. Eine gute Seite hatte die Sache: Ich lernte Dana näher kennen. Wir sprachen das erste Mal in der Pause nach der Englisch-Stunde miteinander. Dana war zwar in meiner Klasse, hätte aber genauso gut in der Parallelklasse sein können. Sie redete mit kaum jemandem, hatte keine Freundinnen. Sie bemühte sich, unsichtbar zu sein, mied die anderen Mädchen und die mieden sie. In den Pausen stand sie allein da. Jetzt kam sie auf mich zu.
„Englisch gehört nicht zu deinen Stärken?“
Ich schüttelte verunsichert den Kopf. Ich stand sonst immer bei meinen Jungs. Mit Mädchen redeten wir nicht, rissen lieber Witze über sie, und mit Dana hatte garantiert noch keiner gesprochen.
„Zu deinen auch nicht, oder? Bekommst Du Ärger zuhause?“
Sie sah mich verständnislos an.
„Warum?“
„Naja, eine sechs kommt nicht richtig gut rüber, oder?“
„Musst du ja nicht zeigen“, sagte sie. „Mache ich nie!“
„Aber du brauchst doch die Unterschrift der Eltern“, wandte ich ein.
Dana lachte. Ich hatte sie noch nie lachen gehört, es klang hell und fröhlich.
„Du kannst doch schreiben?“, fragte sie.
Es dauerte etwas, bis mir klar wurde, dass Dana die Unterschriften fälschte. Ich kam mir plötzlich klein und dumm vor. Unselbstständig und angepasst. Wie ein Idiot. Hoffentlich beobachteten die Jungs mich nicht.
„Aber das kommt irgendwann raus“, wandte ich ein.
„Irgendwann vielleicht“, sagte sie. „Besser einmal Ärger, als dauernd Ärger.“
Mir gefiel der Verlauf des Gespräches nicht, ich wechselte das Thema.
„Fährst du weg in den Ferien? Ich fahre nach Amerika, nach New York“, sagte ich, nicht ohne Stolz.
Das Lachen verschwand aus ihrem Gesicht, aber sie war auch hübsch, wenn sie ernst war. Ich hatte keine Erklärung dafür, dass es mir erst jetzt auffiel.
„Mit deinem Englisch kommst du nicht weit“, sagte sie und schob nach: „In New York war ich auch schon.“
Etwas in ihrer Stimme sagte mir, dass der letzte Satz gelogen war. Aber ganz sicher war ich nicht. Das Mädchen war schwer einzuschätzen und ich durcheinander. Wir wünschten einander schöne Ferien und verabschiedeten uns. Erst auf dem Heimweg wurde mir bewusst, dass sie nicht verraten hatte, wo sie ihren Urlaub verbringen wollte. Ich freute mich auf Amerika. Auf das nächste Schuljahr auch.

Der erste Tag nach den Ferien war immer der schönste im Spätsommer. Die Freunde wiedertreffen, von den Urlaubserlebnissen erzählen, Witze über Lehrer und Mädchen reißen. Am meisten lachten wir, wenn einer mit dunkler Stimme und gerunzelter Stirn vortrug: „Jeder ist seines Glückes Schmied.“ Klausuren lagen in weiter Ferne und warfen keine Schatten auf die ausgelassene Stimmung. Es hatte seit Tagen nicht geregnet, der August zeigte sich von seiner besten Seite. Ich stand bei meinen Jungs unter der Linde in der Mitte des Schulhofs, der Boden darunter war klebrig und machte bei jedem Schritt ein schmatzendes Geräusch. Wir fanden es lustig. Als Dana auf uns zukam, hörten meine Freunde auf zu reden und warfen sich Blicke zu. Mein Herz schlug schneller. Ich freute mich sie zu sehen, gleichzeitig war es peinlich vor den Jungs.
„Ihr habt euch den richtigen Platz ausgesucht“, sagte sie spöttisch mit Blick auf die Linde. Sie sah nicht gut aus. Ihre Lippe war aufgeplatzt, die Wange bläulich und geschwollen. Meine Freunde kicherten.
„Die Treppe runtergefallen?“, fragte einer.
Dana beachtete ihn nicht.
„Können wir reden?“, fragte sie, fasste meinen Arm und zog mich hinter sich her.
Ich wusste, dass uns alle hinterhersahen. Die Jungs machten mit ihren Füßen schmatzende Geräusche und lachten. Ich schüttelte ihre Hand ab.
„Ich komme ja“, sagte ich. „Freiwillig.“
Die Pausenklingel rettete mich.
Nach der Schule begleitete ich Dana zur U-Bahn, sie kam nicht aus unserer Gegend. Sie bat um meine Hilfe, worum es ging, ließ sie offen.
„Heute geht nicht, hab´ Fußballtraining heute Nachmittag“, antwortete ich. „Hat es was mit deiner Lippe zu tun?“
Vielleicht hatte ein Mitschüler ihr übel mitgespielt, aber sie schüttelte den Kopf.
„Ist nicht wichtig, geht um meinen Teppich. Er ist in einem Container. Da ist eine Kette vor. Ich muss ihn wiederhaben.“
Ein eingesperrter Teppich also. Das erklärte nicht viel, trotzdem war ich erleichtert. Immerhin ging es um keine finsteren Gestalten, die sie bedrohten, oder sowas. Meine Verwegenheit hielt sich in Grenzen, ich gehörte eher zu den zurückhaltenden Typen.
„Warum ist der Teppich in dem Container?“
Sie blickte mich ernst an, ihre Lippe sah nicht gut aus. Die Wange auch nicht. Alles andere schon. Sie trug ein rotes Stirnband, Jeans und ein weißes T-Shirt.
„Mein Vater hat ihn da reingeworfen.“
Mehr kam nicht. Man musste ihr jedes Wort aus der Nase ziehen. Ich fand, sie schuldete mir die ganze Geschichte, wenn ich ihr helfen sollte. Kurz vor der U-Bahn-Station war meine Geduld am Ende. Ich blieb stehen.
„Du musst es mir nicht erzählen, wenn du nicht willst.“
Sie ging ein paar Schritte weiter, drehte sich schließlich um.
„Er hat ihn mir weggenommen, weil ich nachts auf ihm sitze. Er meint, ich bekomme zu wenig Schlaf, dabei kann ich im Sitzen schlafen. Ich habe ihn in die Hand gebissen, er hat mich geschlagen und den Teppich in den Müll geworfen. Das ist alles.“
Ein Bild huschte durch meinen Kopf. Dana im Dunkeln auf dem Boden sitzend, ihr Vater, der ins Zimmer stürmte. Dem sie in die Hand biss und der so kräftig zuschlug, dass ihre Lippe blutete und der Wangenknochen anschwoll. Ich hatte mich in eine Sache reingeritten, aus der ich schnellstens wieder raus musste. Das Mädchen war eindeutig seltsam und ihren Vater wollte ich auch nicht näher kennenlernen. Einen Augenblick dachte ich, sie würde anfangen zu weinen, aber es flossen keine Tränen. Ihr Ausdruck hatte etwas Verzweifeltes, aber da war zugleich eine Entschlossenheit, die mir Respekt abnötigte.
„Ich brauche etwas, mit dem ich die Eisenkette aufbekomme, bevor der Container geleert wird“, sagte sie.
„Einen Bolzenschneider“, antwortete ich fachmännisch.
„Hast du sowas?“
Ich nickte. Sämtliche Werkzeuge waren bei uns im Keller, darunter ein Bolzenschneider, den mein Vater gekauft hatte, als ich den Fahrradschlüssel verloren hatte.
„Kannst du mir den leihen?“
„Warum sitzt du nachts auf dem Teppich?“, kam meine Gegenfrage.
„Ich fliege mit ihm. Zu allen Orten der Welt. Als du in New York warst, war ich auch da. Ich hab´ dich von oben gesehen.“
Ihre Antwort bestätigte meinen Verdacht, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Ich forschte in ihrem Gesicht, ob sie sich über mich lustig machte, aber Dana sah mich vollkommen ernst an.
„Klingt verrückt, weiß ich“, sagte sie und kramte einen Zettel aus ihrer Schultasche. Sie kritzelte etwas drauf und gab ihn mir. Ich trat den Heimweg an.
Das Training lenkte kaum ab, meine Gedanken kreisten um einen fliegenden Teppich und ein seltsames, hübsches Mädchen mit einem roten Stirnband. Sie hatte mir ihre Adresse aufgeschrieben mit einer Uhrzeit. In meiner Sporttasche war neben den Fußballklamotten ein Bolzenschneider, von dem ich nicht wusste, ob ich ihn benötigte. Meine Eltern gingen von einer Übernachtung bei einem Freund aus. Alle Türen waren offen. So schien es mir damals.
Die Gegend, in der sie wohnte, war mir fremd. Hochhäuser, statt der Altbauwohnungen bei uns. Kaputte Fassaden, blätternder Putz, beschmierte Wände. Verwahrlost und heruntergekommen. Als ich ankam, war Dana nicht mehr da, ich war eine halbe Stunde zu spät. Ihr Name stand nicht auf den Klingelschildern. Ob ich überhaupt den Mut aufgebracht hätte zu klingeln, kann ich nicht sagen, der Respekt vor ihrem Vater war groß. Wer seine Tochter prügelte, hätte bei mir noch weniger Probleme.
Der Container im Hinterhof war nicht zu übersehen, verschlossen mit einer Kette, wie Dana es geschildert hatte. Ich wartete bestimmt eine Stunde, sie kam nicht. Es wurde dunkel, ich musste mich entscheiden.
Die Kette war widerstandsfähiger als vermutet, aber irgendwann fiel sie laut scheppernd über die Metallklappe auf den Boden. Das Geräusch schreckte niemanden auf. Ich wühlte in dem Müll, bis ich den Teppich gefunden hatte. Er war nicht groß, aber dreckig. Er musste es sein, einen anderen gab es nicht. Rot mit orientalischen Mustern und Fransen am Rand. Ich klopfte ihn notdürftig ab und machte mich aus dem Staub. Erst in der U-Bahn fühlte ich mich sicher. Und unendlich stolz. Dana würde Augen machen. Die Vorstellung, wie sie reagieren würde, berauschte mich geradezu.
Am nächsten Tag war Dana nicht in der Schule. Auch an den darauffolgenden nicht. Nach einer Woche fragte ich die Lehrer, ging ins Sekretariat, sprach den Direktor an. Niemand wusste etwas. Sie war verschwunden. Einfach so. Die Mädchen in meiner Klasse schienen nicht mal bemerkt zu haben, dass ihr Platz leer war. Es war, als wäre sie nie dagewesen. Aber sie blieb in meinem Kopf, ich dachte jeden Tag an das Mädchen mit den Jeans und dem weißen T-Shirt. Das Schuljahr schritt voran, zu viele Male blieb Lorenz, unser Englisch-Lehrer, bei der Rückgabe der Klausuren als erstes vor meinem Tisch stehen mit seiner Leier vom Glück. Ich hatte jedenfalls keins und wurde am Ende nicht versetzt. Meine Eltern machten weniger Ärger als vermutet, vielleicht merkten sie, dass mir zu dem Zeitpunkt alles egal war. Fußballspielen machte keinen Spaß, die Verabredungen mit den Freunden wurden seltener, ich verkroch mich zuhause.
An einem Wochenende waren die Eltern zu einer Hochzeit eingeladen. Sie überlegten, ob man mich in der Verfassung allein lassen könnte, aber ich beruhigte sie. Zwei Tage ohne Menschen um mich herum! Die Lebensgeister kehrten zurück. Verhungern würde ich nicht: Meine Mutter hatte vorgekocht. Ich war ziemlich aufgeregt und der Grund dafür lag im Keller. Dort war der Teppich versteckt, den ich abends nach oben trug und in meinem Zimmer ausbreitete. Nach der Säuberung mit dem Staubsauger und einem feuchten Tuch, sah er aus wie ein Kunstwerk, dass schon einiges mitgemacht hatte. Ein verwaschenes Rot, durchsetzt mit Ocker- und Blautönen, die Fransen teilweise abgerissen. In der Mitte befand sich ein Medaillon, eingerahmt von floralen Mustern und feinen Linien, die nach außen immer dichter wurden. Er war nicht groß, vielleicht etwas über einen Meter lang. Liegen konnte man nicht darauf. Aber sitzen. Ich stellte mir ein Mädchen in Jeans, weißem T-Shirt und einem roten Stirnband darauf vor. Wobei Dana wohl kaum mit einer Jeans bekleidet war, mitten in der Nacht. Sie musste einen Schlafanzug oder Pyjama angehabt haben, oder was immer Mädchen anzogen, wenn sie zu Bett gingen oder gehen sollten. Ich probierte es knieend, dann mit angewinkelten Beinen, beides war unbequem. Im Schneidersitz ging es besser.
Nach einer Weile verflog meine Unruhe. Müdigkeit stellte sich ein und das Gefühl, wie bescheuert das war, was ich tat. Auf dem Boden hockend wie ein Kleinkind. Zum Glück sahen mich die Jungs nicht. Ich hörte ihr Lachen und die Kommentare. Das Schmatzen der Schuhe unter der Linde. Ich sah Lorenz kopfschüttelnd vor mir stehen, in seiner Hand eine Klausur übersät mit roten Korrekturen. Die Pausenglocke ertönte. Die Jungs gingen zum Baum am Rand des Schulhofes. Etwas weiter spielte meine Fußballmannschaft auf dem Kunstrasenfeld in den blauen Trikots, die Zuschauer hielten die Hände vor die Gesichter, als Carsten, unser Mittelstürmer den Ball nicht ins Tor brachte. Dann verschwamm das Bild, ein großer Platz mit bepflanzten Beeten tauchte auf. An seinem Ende befand sich ein Brunnen mit einer Statue, flankiert von zwei liegenden Skulpturen. Ein paar Menschen spazierten umher, ein kleines Kind fuhr Schlangenlinie mit dem Fahrrad und stürzte. Ein Mädchen half ihm auf. Es hatte Jeans und ein weißes T-Shirt an, um die Stirn ein rotes Band. Ich erkannte Dana sofort. Als das Kind wieder stand, sah sie zu mir auf. Sie musste mich gesehen haben. Ich wollte ihr etwas zurufen, ihr sagen, dass ich den Teppich gerettet hatte, wollte fragen, wie es ihr ginge und wo sie lebte. Ich ließ es, Worte funktionierten nicht. Wir blickten uns nur an und bevor das Bild verschwand, lächelte sie.
Am nächsten Morgen saß ich noch immer auf dem Teppich. Dana hatte recht, man konnte im Sitzen schlafen. Bevor meine Eltern zurückkamen, rollte ich den Teppich zusammen und brachte ihn in den Keller. Es war nur ein Teppich, auf dem ich eingeschlafen war und mich an meine Träume erinnern konnte. Nichts weiter. Ich bin kein kleines Kind, das an den Weihnachtsmann glaubt oder den Osterhasen. An Fliegende Teppiche schon gar nicht. Aber ich glaube, dass ich Lorenz – sollte ich ihn im nächsten Schuljahr in Englisch haben - etwas sagen werde zu der Art, wie er die Klausuren zurückgibt. Und irgendwann werde ich Dana davon erzählen.
 
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