Über den Wolken

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Es ist sehr zeitig am Morgen. Noch ist es stockdunkel. Was auch am Wetter liegen mag. Der Himmel ist wolkenverhangen und es regnet in Strömen. So, als würde er meine Stimmung wiedergeben wollen. Außerdem war es unangenehm kalt. Die dicke Fliegerjacke, die ich trage, konnte mich kaum schützen. Es ist egal, denke ich mir. Ich darf es nicht verpassen. Nur noch wenige Minuten, dann würde meine Maschine, eine Dornier 328, die ich so viele Jahre lang fliegen durfte, ohne mich in den Himmel steigen.

Ihr Ziel wird Wernigerode sein. Dort liegt das größte Luftfahrtmuseum Deutschlands. Und dort würde sie zur Ruhe kommen. Dass ich sie überhaupt so lange fliegen durfte, grenzt schon an ein Wunder. Bereits vor fünfzehn Jahren wollte man sie mir wegnehmen. Sie war bereits alt und man wollte unnötige Risiken vermeiden. Doch damals sollte sie noch auf einen Friedhof für Flugzeuge landen. Ich wehrte mich mit Händen und Füßen dagegen, bis ich erreichte, das ich sie bis zum Ende meines Arbeitslebens behalten durfte. Und unter der Bedingung, dass sie wenigstens im Museum ihre letzte Ruhe findet.

Und was soll ich sagen? Seit wenigen Tagen bin ich in Rente. Ich verließ meine Maschine, die mir eine so lange Zeit so treue Dienste geleistet hatte. Und ich wusste, ich würde sie nicht mehr betreten. Man erinnerte sich natürlich daran, wie ich mich für meine Dornier eingesetzt hatte und sehr schnell kam dann ein Anruf. Sie würde einen Platz in Wernigerode finden.

Mein und ihr Fachgebiet waren Medizintransporte. Wann immer wir gebraucht wurden, waren wir zur Stelle. Egal ob Tag oder des Nachts, bei Wind und Wetter oder an Feiertagen. Es war nicht wichtig. Hilfe wurde benötigt und die Ware, die wir beförderten, konnte helfen. Bildlich ausgedrückt lag uns beiden ganz Deutschland zu Füßen.

Ich weiß nicht mehr, wieviel Zeit vergangen war, an dem ich am Gebäude der Flugsicherung stand, durchnässt vom Regen, meine Gedanken in der Vergangenheit kreisend. Noch näher durfte ich natürlich nicht in Richtung Startbahn gehen, so gerne ich es auch gewollt hätte. Aber es sollten sich wenigstens keine Wände zwischen mir und ihr befinden, wenn sie sich zum letzten Mal in die Lüfte erhob.

Aber was ich auch getan hätte. Genauso wie ich die alte Dame nicht aus den Augen lies, so beobachteten mich auch meine Kollegen in der Flugsicherung mit Argusaugen, bereit einzugreifen, wenn ich die Nerven verlieren würde. Diese Überlegung kam wahrlich nicht von ungefähr. Seit einigen Tagen war ich ein Nervenbündel. Ich bedachte jede Minute, die der kleine Flughafen in Betrieb war mit meiner Anwesenheit, ohne zu wissen, was ich eigentlich wollte. Das sorgte auch mal für Streit. Und ich bin davon überzeugt, dass sich jeder wünschte, dass die alte Kiste endlich zu ihren letzten Flug aufsteigen würde.

Und dann wurde ich von meiner alten Dornier aus meinen Gedanken gerissen. Ihre Motoren heulten auf. Es klang wie ein Abschiedsgruß. Nein, das ist nicht ganz richtig. Es war ein Abschiedsgruß. Jedenfalls würde ich sie nicht mehr wiedersehen. Ich werde dieses Museum in Wernigerode nicht betreten. Es wäre wie ein zweiter Abschied, wenn ich sie sehen würde und der wäre noch weitaus schlimmer.

Jetzt nimmt sie Fahrt auf. Ihre letzte Reise beginnt. Kein Zurück mehr. Hätte man nicht einen günstigeren Zeitpunkt wählen können? Schöneres Wetter? Aber sie wurde schon sehnlichst erwartet, das ist mir bewusst. Und wenigstens wird die Sonne scheinen, wenn sie zum letzten Mal zur Landung ansetzt. Danach wird sie mit einem großen Schwertransporter die Strecke bis zum Museum chauffiert.

Das Dröhnen wird lauter, die Dornier wird schneller. Wie eine Explosion dröhnt es in meinen Ohren, als sie an mir vorbei jagt. Der Asphalt erzittert. Auch das ist mir egal. Ich genieße jede Sekunde des Lärms und des künstlichen Bebens. Dann hebt sie ab. Für einen Moment neigt sie sich zur Seite. Sie winkt. Und ich winke zurück.

Als sie abgehoben ist, da ist es, als säße ich wieder in ihrem Cockpit. Der Regen ist weg, die Luft ist klar. Vereinzelte Wolkenfetzen ziehen unter mir vorbei. Und unter mir sehe ich die Erde mit ihren Spielzeugautos, den Puppenhäusern und den akkurat geschnittenen Feldern und Wiesen. Hier oben ist es friedlich. Alle Probleme schwinden dahin. Sie sind da unten geblieben, auf der Erde mit ihren Spielzeugautos, Puppenhäusern und akkurat geschnittenen Feldern und Wiesen. Hier oben gibt es nur mich und meine Dornier, die mit ihrem Dröhnen fast eine hypnotische Wirkung auf mich ausübt. Dass ich sie dabei immer wieder mit wechselnden Copiloten teilen muss, stört mich nicht. Ich bin…ich war Profi genug. Ich kam mit jeden Piloten zurecht. Aber zwischen mich und die alte Dame passte kein Blatt Papier.

Auf einmal fängt es im Cockpit an zu regnen. Ich bin für einen Moment perplex, weiß nicht was ich davon halten soll. Auch die Heizung und Beleuchtung fallen aus. Es wird dunkel und sehr schnell wird es auch kalt. Halte durch, ich bringe dich sicher nach unten, gleichgültig, was auch passiert. Und im nächsten Augenblick stehe ich wieder am Gebäude der Luftsicherung. Der schöne Tagtraum von der winzigen Landschaft unter mir, die Wolken unter mir, die keine Probleme und Sorgen durchließen, war viel zu schnell vorbei.

Hier stehe ich also. Und meine treue Dornier erklimmt die Wolken. Das tut sie recht gemächlich, so wie immer, wenn sie in die Luft geht. Meine Augen fixieren sie. Sie soll mir optisch so lange wie nur möglich erhalten bleiben. Es mag wohl eine Zeit vergangen sein, als ich feststellen muss, dass es nur noch die Lichter sind, die ich erkennen kann. Aber egal, diese Lichter gehören ihr. Deswegen ist sie für mich auch noch sichtbar. Und ein wenig später, der Regen ließ ein wenig nach und es wurde etwas heller, verschwanden die Lichter und auch die Motoren hörte ich nicht mehr.

In den Moment, als sie gänzlich verschwand, klarte es in mir auf. Der Abschied tat weh, aber nun sollte ich nach vorne schauen. Meine Dornier wird nicht verschrottet. Das war die Hauptsache. Von nun an würde es wieder besser werden. Nicht heute, nicht morgen, aber in den nächsten Tagen.

Mir wird bewusst, dass ich mich recht unfair verhalten habe gegenüber den Piloten, der jetzt meine Dornier – einmal und nie wieder – zu ihrer Ruhestätte geleitet. Der Pilot ist eigentlich mein bester Freund. Der einzige Copilot, dem ich mich verbunden gefühlt habe und der auch die alte Dame gut behandeln konnte. Mit ihm habe ich schon im Sandkasten gespielt. Zwar gingen wir auf verschiedene Schulen, doch das Schicksal wollte, dass er ebenso wie ich eine Ausbildung zum Piloten absolvierte und seiner Heimatstadt treu blieb. So sahen wir uns nach einer langen Zeit der Trennung dann wieder.

An diesen zeitigen ungemütlichen Morgen – und auch die Tage davor - hatte ich nur Verachtung für ihn übrig. Ich ließ ihm das auch merken. Es hätte auch nicht viel gefehlt, und ich wäre handgreiflich geworden. Für mich war er in diesen Moment derjenige, der mir einen großen Teil meines Lebens einfach wegnehmen würde. Und genau dieser Gedanke war ungerecht von mir. Denn ich selbst habe ihn darum gebeten, lange vor meinem letzten Arbeitstag, meine alte Maschine zum Zielort zu fliegen. Ich wollte mich nicht zweimal von ihr verabschieden. Und er stimmte auch zu, als er feststellte, dass es mir ernst war. Ich vertraue ihm, dass er sie sicher zum Zielort geleiten würde.

Hat er mir meine üble Laune wohl verziehen? Darüber brauchte ich nicht sehr lange nachdenken. Die Dornier hatte zum Abschied mit ihren Flügeln gewinkt. Also hatte er mir verziehen. Das war das wichtigste. Und ganz gewiss geht es ihm da oben genauso wie mir. Probleme sind da oben vollkommend unwichtig. Da oben ist Freiheit, sonst nichts. Ich atmete hörbar ein und aus, bevor mich das Flughafengelände wieder einholt.

Über mir reißen ganz langsam die Wolken auf. Ein Sonnenstrahl trifft die Startbahn und lässt das Benzin in den Pfützen glänzen. Beinahe fünfzig Jahre lang war dieser Flughafen meine Heimat und die Heimat meiner Dornier. An den Benzingeruch gewöhnt man sich recht schnell. Doch heute, am Ende meiner beruflichen Zeit, zum Beginn meiner Rente, da dringt mir der Benzingeruch in die Nase, als wäre er neu. Und es ist ein angenehmer Duft, kein Gestank. Ich bin gänzlich durchnässt vom Regen, aber trotzdem bleibe ich noch eine Weile stehen, um das Aroma einzufangen. Der leichte Wind hilft mir dabei. Wie ich da so stehe, da dringt ein weiterer Geruch in meine Nase und mein Kopf befreit sich weiter von meiner Dornier. Für diesen Moment jedenfalls. Der Geruch der mich jetzt lockt, ist der Duft von Kaffee. Er kommt aus dem Gebäude der Flugaufsicht. Nur noch einmal – zumindest an diesem Tag – kehre ich zu meinem Propellerflugzeug zurück. Wie gerne wäre ich es gewesen, der sie zu ihren Ziel geleitet hätte. Aber es wäre unendlich schwer gewesen.

Erneut blieb ich den gesamten Tag auf den kleinen Flughafen. Nur mit einen großen Unterschied. Ich fand meine innere Balance wieder. Auch, weil wir erfuhren, dass die Dornier gut angekommen ist. Und während dieses Tages fiel die Entscheidung, dass ich die Leitung über die Flugaufsicht bekommen würde. Das war eine große Ehre für mich und ich nahm die Herausforderung an. Es wären nicht mehr viele Jahre, aber so fällt mir der Abschied vielleicht nochmal leichter. Und eines schönen Tages, wenn ich den Himmel absuche, dann wird plötzlich wieder meine Dornier am Himmel erscheinen und mich zu sich rufen.
 

Hagen

Mitglied
Hallo Alexander,
Chapeau! für Deine Geschichte.
Du scheinst ja genau so ein 'Flugzeugfreak' zu sein wie ich.
Aber was das Wichtigste ist: Ab sofort steht Wernigerode auf meir 'To-Do-Liste' ganz oben.
Leider habe ich die Dornier Do 328 bei der Vorrecherche im dortigen Luftfahrtsmuseum nicht entdecken können; - ich hätte sie von Dir gegrüßt!


Nun denn, in diesem Sinne, wir sehen uns in der ScheinBAR!
Zudem lesen wir uns weiterhin!
... und bleib' schön fröhlich, gesund und munter!
Herzlichst
Yours Hagen

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Achte auf Deine Gedanken,
denn sie werden Worte.
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denn sie werden Dein Charakter.
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denn sie werden Gewohnheiten.
Achte auf Deine Worte,
denn sie werden Handlungen.
Achte auf Deinen Charakter,
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Asiatisches Sprichwort​
 
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