... und plötzlich sind wir

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… und plötzlich sind wir so alt wie unsere Eltern.

So alt wie unsere Eltern, als wir unsere schwersten Kämpfe gegen sie fochten.

Gegen ihre Weltvorstellungen, gegen ihre tiefdunkelroten Erziehungsmethoden, gegen ihre Partei,
gegen ihre Berufe, ihre täglichen Wege, ihre Musik, ihre Mittelgebirgswanderurlaube.

Da jodelt es schon aus dem Off:

Ich wandre ja so gerne am Rennsteig durch das Land,
den Beutel auf dem Rücken, die Klampfe in der Hand.
Ich bin ein lust'ger Wandersmann, so völlig unbeschwert.
Mein Lied erklingt durch Busch und Tann, das jeder gerne hört.
Diesen Weg auf den Höhn bin ich oft gegangen, Vöglein sangen Lieder.
Bin ich weit in der Welt habe ich Verlangen, Thüringer Wald nur nach dir. (1*)



Diese Begeisterung! Überall, wo zwei den Text drauf hatten, wurde es gemeinschaftlich gesungen.
Der Thüringer Wald hallte davon wider. Die Tiere fanden keine Ruhe mehr für Kampf und Brunft.
Der Rothirsch starb aus. In den Flüssen schwammen Fische ungesund mit den Bäuchen nach oben.
Vergammelt stinkend. Der Geruch galt bald als natürlich, als traditionell für Thüringen. Die Urlauber
gewöhnten sich daran. Irgendwann jedoch erlosch die Lust am Rennsteiglied. Und am Wandern.
Auch bei meinen Eltern.
Ich war nach 2000 noch einmal dort. Vielleicht um nachzusehen, ob meine Kindheit noch dort rumläge.
Nein. Alles war fort. Und am Fachwerkgebälk der Kleinstadthäuser nagte hörbar der Zahn der Zeit.
Selbst die schöne alte Buchhandlung, in der ich so manches Märchenbuch bekam, stand voll grauer
Trümmer und Unmengen von Staub. Wie nach einem weiteren Krieg. Die Traube gab es noch, hatte
aber geschlossen. Weil ein Wochentag war. Dort macht niemand mehr Urlaub. Es gibt auch wieder
Hirsche. Und ich stecke in den Rückzugsgefechten gegen meine Kinder.







(1*) Teil des "Rennsteigliedes" von Karl Müller (Text) & Herbert Roth (Komposition)
 

anbas

Mitglied
Moin,

ein Text, der mir gut gefällt. Ich habe zwar keine Kinder, aber natürlich gibt es die Orte meiner Kindheit.
Schon vor über 20 Jahren bin ich mal wieder in das Dorf gefahren, in dem ich als Kind ein paar Jahre gelebt habe. Es war schon ernüchternd, was sich dort alles so verändert hatte. Trotzdem kam auch etwas Wehmut und Melancholie auf. Ich habe vor, in diesem oder nächsten Jahr noch einmal dorthin zu fahren. Mal sehen, wie es mir dann so ergeht.

Empfehlen würde ich, dass Du das Zitat aus dem Rennsteiglied in Anführungszeichen setzt (und vielleicht zusätzlich auch die Kursivschrift wählst). Mich hat es jedenfalls beim Lesen irritiert, dass plötzlich diese Strophen des Liedes kamen.

Liebe Grüße

Andreas
 
Hallo Andreas,
ja, mit dem Zitieren von fremden Texten in eigenen könnte ich noch sorgsamer umgehen, z.B. Kursivsetzung.
Ich habe beim Enstellen drüber nachgedacht, fand es in dem Moment aber ausreichend hinzuweisen, was es
von wem ist. Nun ja.

Schön, wenn jemand anders auch solche Sachen macht, wie biografische Orte irgendwann noch mal
aufzusuchen. Ich glaub, ich kenne mehr Menschen, die um nichts in der Welt nochmal zu den Urlaubsorten
fahren würden, wo man in der Kindheit mit der Familie gewesen ist, oder ähnliches. Ich mag es, wenn Erinnern
anstrengend, ja fast Arbeit wird.

Hab eine gute Woche, Andreas!

Liebe Grüße vom Clown
 
Hallo Clown seiner Klasse,
als ich Mittelgebirgsurlaube las, kamen bei mir Flashbacks an die Oberfläche. Zum Thüringer Wald und zum Harz habe ich ein gespaltenes Verhältnis, da mir noch Wanderungen mit meiner Mutter, auf denen wir uns verirrt haben, in den Knochen stecken.
Thüringen fand ich genial, wenn man mit dem Zug angereist ist, und der Blick auf "Die drei Gleichen" fiel. Diese Ritterburgen regten meine Erwartung an. Das war aber das Beste an dem ganzen Urlaub, der meist nur aus Gelatsche durch den Wald bestand und den Versuchen, unfreundlichen Gastronomen etwas Essbares abzutrotzen.

Das Rennsteiglied kenne ich nur zu gut. Gefühlt jeden Sonnabend wurde es in der jeweiligen Bunten Sendung - Goldene Note und die anderen üblichen Verdächtigen - dem DDR Bürger zu Gehör gebracht. Und man stellte sich mal vor, bei mir im Studienjahr gab es doch tatsächlich jemand, die beinharter Fan von Herbert Roth - für mich: "Der Schrecken hat einen Namen" oder Fürst der Finsternis - war. Sie war aus Thüringen.
Gruß Friedrichshainerin
 



 
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