Undagrownd
Als Erduin die große Halle betrat, spürte er dieses seltsame Gefühl das ihn immer dann überkam, wenn er sich in der Kirche der Heiligen Gaïa aufhielt. Ein Gefühl der Beklommenheit, das ihm die Kehle zuschnürte, vermengt mit der Ahnung, dass hier etwas nicht stimmte. Die beflieste Halle war beinahe leer; nur ein einzelner Priester in einem bleichgewaschenem roten Umhang, fegte emotionslos den Boden.
Erduin wusste eigentlich nicht so recht, warum sein Weg ihn hierher geführt hatte.
Vielleicht ist es eine Art Abschied, dachte er, wobei ihm nicht richtig klar wurde, warum er sich von etwas verabschiedete, das er nie gemocht hatte.
Seine Hand zitterte, seine faltige und befleckte Hand, die sich schon durch so viele Bücher durchgeblättert hatte. Ich bin alt aber noch nicht tot, dachte er trotzig und wandte den Blick auf die Fliesenmalereien, die auf eindrucksvolle und typisch klerikale Weise die Apokalypse darstellte. Feuer und Verderben hatte die Oberwelt heimgesucht. Brennende Körper, die Arme in die Luft werfend und um Verzeihung bittend. Daneben war Gaïa abgebildet, die Göttliche, die heilige Mutter Erde, die Retterin. Strahlend schön und voller Erbarmen, war sie aus dem Geocentri - dem Kern der Erde - entstiegen, um diejenigen in ihrem Schoß aufzunehmen, die es verdient hatten.
Der Exodus in den Undagrownd, der Abstieg in eine neue Heimat unter der Oberfläche, unter der wahr gewordenen Hölle. Nunmehr als zehntausend Jahre sind seither vergangen und es fiel Erduin schwer, die damaligen Ereignisse durch die religiöse Brille zu sehen. Er war ein Wissenschaftler, ein Gelehrter, einer der bald herausfinden würde, was dort oben nun wirklich war und er war sich sicher, die Hölle würde es nicht sein.
„Bist du Sicher, dass du es heute Abend tun solltest Onkel!“ fragte Miri mit leicht besorgtem Unterton. Erduin schaute sie an. Sie ist wirklich ein hübsches Ding, dachte er sich, passt so gar nicht in unsere Familie. Er lächelte milde und sagte „Wenn nicht heute wann sonst? Ich bin ein alter Mann und wenn ich es nicht bald tue, ist es bald vielleicht zu spät.“
„Dann lass mich dich begleiten!“ sagte sie flehend.
„Miri, mein Kind. Das kann ich nicht. Deine Eltern würden es mir nie verzeihen, wenn dir etwas geschähe!“
„Ich bin keine Kind mehr, Erduin!“ fauchte sie.
Wenn Miri ihn beim Vornamen nannte, war das meist ein Anzeichen für einen aufziehenden Sturm. „Ich bin eine erwachsene Frau, die selbständig Entscheidungen fällen kann!“ sagte sie mit fester Stimme, als könnte sie dadurch das Gesagte bestätigen. Doch Erduin sah, dass sich ihre Augen trübten. Es tat ihm leid ihr weh tun zu müssen, aber er konnte es nicht verantworten dieses Mädchen, dass er so liebte, in Gefahr zu bringen.
„Miri, beruhige dich“, sagte er mit sanfter Stimme „und hör mir zu“.
Er holte tief Luft.
„Ich weiß nicht was mich dort oben erwartet. Ja, ich habe Vermutungen, aber was ist wenn sie sich als falsch erweisen? Ich bin ein alter Mann, der schon den größten Teil seines Lebens hinter sich hat. Wenn ich sterbe, ist es schlimm, aber nicht so schlimm. Du wiederum bist ein junges Mädchen, entschuldige, eine junge Frau, die noch viel vor sich hat Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn dir etwas passieren würde.“
Eine einzelne Träne lief über die hohen Wangenknochen in Miris Gesicht.
Erduin nahm sie in den Arm und drückte sie fest an sich.
Sie begann zu schluchzen.
„Es wird mir schon nichts passieren. Du wirst sehen, in ein paar Tagen werde ich wieder hierhin zurückkehren und dir von wundersamen Dingen berichten.“
Hoffentlich mein Kind, dachte er, hoffentlich.
Die Vorbereitungen waren getroffen.
Erduin ließ einen letzten Blick durch sein Arbeitszimmer wandern, um sicher zu gehen, dass er nichts vergessen hatte. Er fühlte sich auf seltsamen Weise gut. Die Nervosität der letzten Tage war gewichen und nun, wo er die schwere Last des Rucksacks auf seinen Rücken spürte, fühlte er sich um Jahre jünger. Mit einem Griff in die Innentasche seines abgetragenen Ledermantels, versicherte er sich, dass er die Karte eingesteckt hatte; die Karte des Undagrownd, mit seinen beinahe sechshundert Kilometern Tunneln und Gängen. Während seinen Studien hatte Erduin herausgefunden, dass dieses Tunnelnetz einst zu einem Transportsystem gehört hatte, dass sich „U-bahn“ nannte; daher auch der Name Undagrownd. Was vor so langer Zeit als Verkehrswege genutzt wurde, war nun die Heimat einer halben Millionen Menschen geworden. Natürlich wurde im laufe der Jahre das unterirdische Netz erweitert. Es entstanden regelrecht Städte, die sich in den ehemalige Stationen ausbreiteten. In Erduins Augen war das ein untrüglicher Beweis für die Anpassungsfähigkeit der menschlichen Rasse. Er blickte aus dem Fenster und sah, dass die Helligkeit des künstlichen Lichts abgenommen hatte. Es war an der Zeit zu gehen.
Seit zwei Stunden war Erduin schon im Gewirr der Tunnel und Gänge unterwegs. Er war beinahe am äußersten südwestlichen Bereich des Undagrownd angelangt, wo es dunkel und zunehmend feuchter wurde. Bis auf einige Creeps – ausgestoßene Einzelgänger - wurde dieser Teil nur sehr selten benutzt. Sevenoaks war die letzte Siedlung an der Erduin vorbeigekommen war und dort endete auch die künstliche Beleuchtung. Erduin schritt langsam und vorsichtig voran, wobei er mit seiner Taschenlampe die Umgebung ausleuchtete. Hier und da nahm er die Geräusche von Ratten wahr, die vor der plötzlichen Helligkeit flüchteten, doch er war nicht das erste mal hier draußen und es brauchte schon mehr als ein paar Nager, um ihn zu beunruhigen. Endlich erblickte Erduin im Schein seiner Lampe, das wonach er gesucht hatte: auf den Boden zeichneten sich die Umrisse einer runden Stahlplatte ab. Erduin setzte sein Rucksack ab und holte ein Handschweißgerät heraus. Innerhalb weniger Minuten hatte er die Platte aufgeschweißt, die er dann mit einer Eisenstange anhob und auf Seite schob. Nun blickte er in ein dunkles Loch aus dem muffige Luft empor kroch. Erduin lenkte den Strahl der Taschenlampe hinein und erkannte, dass ein schlauchförmiger Tunnel sich in den Boden grub, an dessen Seite eine verrostete Leiter hing. Der alte Mann nahm all seinen Mut zusammen und machte sich daran die Leiter vorsichtig zu testen. Er belastete die obere Sprosse mit seinem rechten Bein, wippte ein wenig und die Sprosse hielt.
Er setzte den Rucksack wieder auf und begann mit dem Abstieg. Ganz behutsam, immer die nächste Sprosse testend, stieg er hinunter in die Dunkelheit. Als er endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, seufzte Erduin erleichtert und sah sich um. Er befand sich in einem Gang der scheinbar noch mit primitiven Mitteln ausgeschlagen worden war, denn die Wände waren unregelmäßig bearbeitet worden und der Boden bestand aus moosbewachsenen Pflastersteinen. Erduin kramte die Karte und sein Kompass hervor und folgte, nach kurzer Überlegung, dem Gang in nordöstlicher Richtung. Er kam nur schleppend voran, den der Boden war feucht und rutschig und obwohl er schweres Schuhwerk trug, hatte Erduin angst vor einem Sturz. In seinem Alter konnte ein Sturz gefährliche Folgen haben und das Risiko wollte er, so nah am Ziel, nicht eingehen.
Langsam wurden seine Beine schwer und auch seine Hoffnung den in der Karte eingezeichneten Ausgang zu finden, schwand, je mehr seine Müdigkeit zunahm. Er hatte einen Umweg nehmen müssen, da einige der Gänge, die er hätte folgen sollen, eingebrochen war. Er war nun in einem Bereich, der nicht auf seiner Karte eingezeichnet war und orientierte sich nur noch dank des Kompasses. Als Erduin schon soweit war sich auf den Boden zu setzen, um seinem entkräfteten Körper eine Pause zu gönnen, sah er eine Tür, die in einer der Wände eingelassen war. Sie war aus einem massiven, dunklen Metall, das Rostflecken aufwies. Erduin näherte sich der Tür und schob sie auf. Dahinter befand sich ein kleiner Raum, in der eine Wendeltreppe nach oben führte. Erduin hob den Kopf und sah, dass der spiralförmige Aufstieg gut fünfzig Meter nach oben ragte. Er packte die Mittelstrebe der Konstruktion und schüttelte daran; die Treppe schwang mit und gab ein Ächzen von sich. In Erduins Hals bildete sich ein Kloß. Mit ein wenig Glück würde er dort oben einen Ausgang in die Außenwelt finden. Das war doch ein Wagnis wert! Er schloss die Augen, holte tief Luft und trat auf die erste Stufe der Treppe. Dann vorsichtig auf die zweite, die dritte und die vierte. Die Treppe schwankte. Erduin blieb stehen, wartete bis die Schwingungen nachließen, um dann noch behutsamer weiter zu steigen. Als er die Hälfte der Treppe unter sich gelassen hatte, blieb er einen Moment stehen, um durchzuatmen.
Du hast es beinahe geschafft! Dieser Gedanke war es, der Erduin wieder vorantrieb, trotz der Erschöpfung, die er verspürte, trotz der Schmerzen, die sich in seinen Gelenken niedergelassen hatten. Er biss die Zähne zusammen und setzte sich in Bewegung. Einen Schritt nach den anderen, ganz langsam. Plötzlich brach eine der Stufen. Für einen Augenblick schwebte sein rechtes Bein in der Luft, wo gerade noch die Stufe war. Erduin verlor das Gleichgewicht und kippte nach vorne. Reflexartig hob er die Hände, um seinen Fall an den oberen Stufen abzubremsen. Sein Standbein rutschte ein Stück nach vorne, blieb aber an der Kante der Stufe stehen. Erduin knallte mit den Händen auf die stählerne Treppe. Der Schmerz trieb ihm Tränen in den Augen, doch er rappelte sich auf und zog sich an der Sprosse hoch, so dass er, schwer atmend, darauf wartete, dass sein Herzschlag sich beruhigte. Als sein Adrenalinspiegel sank, spürte er ein Brennen an seinem linken Knie. Dort war seine Hose aufgerissen, und er sah ein Rinnsal Blut, der von einer offenen Stelle unterhalb seiner Kniescheibe, an seinem Bein herunter lief. Als der Schock ein wenig verflogen war, stand Erduin auf. Er war ein wenig unsicher auf den Beinen, doch trotz des Zitterns, das sich seines Körper ermächtigt hatte, fuhr er mit dem Aufstieg fort.
Wie im Traum setzte er eine Fuß vor den anderen, ohne das Schwanken der Treppe zu beachten. Sein Blick war stur auf das Ende der Stiege gerichtet, das allmählich näher kann.
Als er oben ankam, ließ er sich nieder, um einen Schluck Wasser aus seinem Schlauch zu trinken. Dabei sah er sich um. Er befand sich in einem kleinen, eckigen Raum, der gerade mal drei mal drei Fuß maß. An einem der Wände war ein rotes, zäpfchenförmiges und armlanges Ding befestigt, von dem ein schwarzer Schlauch baumelte. Außer der Öffnung am Boden, aus der Erduin gerade entstiegen war, gab es noch eine Tür aus Metall, unter der ein rötlicher Lichtschein, den Raum in ein sanftes Rot tauchte. Hatte er es tatsächlich geschafft? War das etwa Sonnenlicht? Erduin raffte sich auf, um die Tür genauer in Augenschein zu nehmen. Obwohl das Metal vom Rost zerfressen war, schien sie - trotz der vielen Jahre, in der sie unbenutzt geblieben war - immer noch ziemlich stabil zu sein. Der Öffnungsmechanismus bestand aus einer Querstrebe, die bauchhoch von einer Seite der Tür zur anderen verlief und die man, so vermutete Erduin, herunter drücken musste. Erduin nahm seinen Rucksack ab und holte eine Brille mit abgedunkelten Gläsern raus, die er sich aufsetzte. Er legte beide Hände auf die Strebe und drückte dagegen, doch sie rührte sich nicht. Er versuchte es ein zweites Mal, diesmal belastete er die Stange mit seinem ganzen Gewicht. Erduin hörte ein Knacken, dann ein ächzende Knirschen, als die Strebe nachgab und die Tür sich langsam öffnete. Die Landschaft, die sich Erduin darbot, ließ sein Atem stocken; eine hügelige Weide, die sich im roten Schein des Sonnenuntergangs, beinahe endlos vor ihm erstreckte. Erduin ging durch die Tür und atmete so tief ein, dass seine Lunge zu platzen drohte. Die frische Luft berauschte ihn, ließ seine Glückshormone Purzelbäume schlagen. Wie ein Jünger, dem eine göttliche Erscheinung zuteil wird, stand Erduin ehrfürchtig da, und ließ seinen Blick über das weite Weideland schweifen. Er war so fasziniert von dem was er sah, dass er nicht bemerkte, das sich etwas in seinem Rücken näherte.
Kraarkzar war nicht umsonst das Alpha-Tier seines Rudels - mit einer Schulterhöhe von ein Meter fünfzig und einer Länge von gut zweieinhalb Meter war er das größte Männchen seines Packs. Sein schwarzer Chitinpanzer war von vielen Kampfspuren übersät und eines seiner Facettenaugen wies eine tiefe Narbe auf. Er stand auf einer kleinen, hügeligen Erhebung und betrachtete den Sonnenuntergang. Während die rot schimmernde Scheibe immer tiefer im Horizontstreifen verschwand, witterte er plötzlich etwas, das seine Fühler vor Aufregung erzittern ließ. Blut. Er witterte Blut. Aber irgendwie war dieser Geruch so anders, als alles was er bisher wahrgenommen hatte, und er hatte schon viele Arten von Blut gerochen. Er folgte der Witterung bis auf eine Anhöhe und erblickte einige Meter unter sich ein seltsames Wesen, dass auf seinen Hinterbeinen stand und in die untergehende Sonne starrte. Die Haut dieses Tiers war mit irgendetwas bedeckt, das Kraarkzar nicht einordnen konnte, doch es roch eindeutig nach Blut, und zwar nach leckerem Blut. Kraarkzar sprang und fuhr seine Flügel aus. Völlig geräuschlos schwebte er den Abhang hinunter. Mit einem gezielten Biss in den Hals tötete er das Wesen, das mit erstauntem Blick verblutete.
Erst labte Kraarkzar sich am roten Lebenssaft, dann begann er das zähe Fleisch von den Knochen zu nagen. Als sein Hunger gestillt war, überlass er den Kadaver den sich sammelnden Aasfressern. Er fing an sich zu putzen, bis er auf eine Öffnung im Hang des Hügels aufmerksam wurde. Daher war das Wesen scheinbar gekommen. Vielleicht gab es ja dort mehr davon?
Als Erduin die große Halle betrat, spürte er dieses seltsame Gefühl das ihn immer dann überkam, wenn er sich in der Kirche der Heiligen Gaïa aufhielt. Ein Gefühl der Beklommenheit, das ihm die Kehle zuschnürte, vermengt mit der Ahnung, dass hier etwas nicht stimmte. Die beflieste Halle war beinahe leer; nur ein einzelner Priester in einem bleichgewaschenem roten Umhang, fegte emotionslos den Boden.
Erduin wusste eigentlich nicht so recht, warum sein Weg ihn hierher geführt hatte.
Vielleicht ist es eine Art Abschied, dachte er, wobei ihm nicht richtig klar wurde, warum er sich von etwas verabschiedete, das er nie gemocht hatte.
Seine Hand zitterte, seine faltige und befleckte Hand, die sich schon durch so viele Bücher durchgeblättert hatte. Ich bin alt aber noch nicht tot, dachte er trotzig und wandte den Blick auf die Fliesenmalereien, die auf eindrucksvolle und typisch klerikale Weise die Apokalypse darstellte. Feuer und Verderben hatte die Oberwelt heimgesucht. Brennende Körper, die Arme in die Luft werfend und um Verzeihung bittend. Daneben war Gaïa abgebildet, die Göttliche, die heilige Mutter Erde, die Retterin. Strahlend schön und voller Erbarmen, war sie aus dem Geocentri - dem Kern der Erde - entstiegen, um diejenigen in ihrem Schoß aufzunehmen, die es verdient hatten.
Der Exodus in den Undagrownd, der Abstieg in eine neue Heimat unter der Oberfläche, unter der wahr gewordenen Hölle. Nunmehr als zehntausend Jahre sind seither vergangen und es fiel Erduin schwer, die damaligen Ereignisse durch die religiöse Brille zu sehen. Er war ein Wissenschaftler, ein Gelehrter, einer der bald herausfinden würde, was dort oben nun wirklich war und er war sich sicher, die Hölle würde es nicht sein.
„Bist du Sicher, dass du es heute Abend tun solltest Onkel!“ fragte Miri mit leicht besorgtem Unterton. Erduin schaute sie an. Sie ist wirklich ein hübsches Ding, dachte er sich, passt so gar nicht in unsere Familie. Er lächelte milde und sagte „Wenn nicht heute wann sonst? Ich bin ein alter Mann und wenn ich es nicht bald tue, ist es bald vielleicht zu spät.“
„Dann lass mich dich begleiten!“ sagte sie flehend.
„Miri, mein Kind. Das kann ich nicht. Deine Eltern würden es mir nie verzeihen, wenn dir etwas geschähe!“
„Ich bin keine Kind mehr, Erduin!“ fauchte sie.
Wenn Miri ihn beim Vornamen nannte, war das meist ein Anzeichen für einen aufziehenden Sturm. „Ich bin eine erwachsene Frau, die selbständig Entscheidungen fällen kann!“ sagte sie mit fester Stimme, als könnte sie dadurch das Gesagte bestätigen. Doch Erduin sah, dass sich ihre Augen trübten. Es tat ihm leid ihr weh tun zu müssen, aber er konnte es nicht verantworten dieses Mädchen, dass er so liebte, in Gefahr zu bringen.
„Miri, beruhige dich“, sagte er mit sanfter Stimme „und hör mir zu“.
Er holte tief Luft.
„Ich weiß nicht was mich dort oben erwartet. Ja, ich habe Vermutungen, aber was ist wenn sie sich als falsch erweisen? Ich bin ein alter Mann, der schon den größten Teil seines Lebens hinter sich hat. Wenn ich sterbe, ist es schlimm, aber nicht so schlimm. Du wiederum bist ein junges Mädchen, entschuldige, eine junge Frau, die noch viel vor sich hat Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn dir etwas passieren würde.“
Eine einzelne Träne lief über die hohen Wangenknochen in Miris Gesicht.
Erduin nahm sie in den Arm und drückte sie fest an sich.
Sie begann zu schluchzen.
„Es wird mir schon nichts passieren. Du wirst sehen, in ein paar Tagen werde ich wieder hierhin zurückkehren und dir von wundersamen Dingen berichten.“
Hoffentlich mein Kind, dachte er, hoffentlich.
Die Vorbereitungen waren getroffen.
Erduin ließ einen letzten Blick durch sein Arbeitszimmer wandern, um sicher zu gehen, dass er nichts vergessen hatte. Er fühlte sich auf seltsamen Weise gut. Die Nervosität der letzten Tage war gewichen und nun, wo er die schwere Last des Rucksacks auf seinen Rücken spürte, fühlte er sich um Jahre jünger. Mit einem Griff in die Innentasche seines abgetragenen Ledermantels, versicherte er sich, dass er die Karte eingesteckt hatte; die Karte des Undagrownd, mit seinen beinahe sechshundert Kilometern Tunneln und Gängen. Während seinen Studien hatte Erduin herausgefunden, dass dieses Tunnelnetz einst zu einem Transportsystem gehört hatte, dass sich „U-bahn“ nannte; daher auch der Name Undagrownd. Was vor so langer Zeit als Verkehrswege genutzt wurde, war nun die Heimat einer halben Millionen Menschen geworden. Natürlich wurde im laufe der Jahre das unterirdische Netz erweitert. Es entstanden regelrecht Städte, die sich in den ehemalige Stationen ausbreiteten. In Erduins Augen war das ein untrüglicher Beweis für die Anpassungsfähigkeit der menschlichen Rasse. Er blickte aus dem Fenster und sah, dass die Helligkeit des künstlichen Lichts abgenommen hatte. Es war an der Zeit zu gehen.
Seit zwei Stunden war Erduin schon im Gewirr der Tunnel und Gänge unterwegs. Er war beinahe am äußersten südwestlichen Bereich des Undagrownd angelangt, wo es dunkel und zunehmend feuchter wurde. Bis auf einige Creeps – ausgestoßene Einzelgänger - wurde dieser Teil nur sehr selten benutzt. Sevenoaks war die letzte Siedlung an der Erduin vorbeigekommen war und dort endete auch die künstliche Beleuchtung. Erduin schritt langsam und vorsichtig voran, wobei er mit seiner Taschenlampe die Umgebung ausleuchtete. Hier und da nahm er die Geräusche von Ratten wahr, die vor der plötzlichen Helligkeit flüchteten, doch er war nicht das erste mal hier draußen und es brauchte schon mehr als ein paar Nager, um ihn zu beunruhigen. Endlich erblickte Erduin im Schein seiner Lampe, das wonach er gesucht hatte: auf den Boden zeichneten sich die Umrisse einer runden Stahlplatte ab. Erduin setzte sein Rucksack ab und holte ein Handschweißgerät heraus. Innerhalb weniger Minuten hatte er die Platte aufgeschweißt, die er dann mit einer Eisenstange anhob und auf Seite schob. Nun blickte er in ein dunkles Loch aus dem muffige Luft empor kroch. Erduin lenkte den Strahl der Taschenlampe hinein und erkannte, dass ein schlauchförmiger Tunnel sich in den Boden grub, an dessen Seite eine verrostete Leiter hing. Der alte Mann nahm all seinen Mut zusammen und machte sich daran die Leiter vorsichtig zu testen. Er belastete die obere Sprosse mit seinem rechten Bein, wippte ein wenig und die Sprosse hielt.
Er setzte den Rucksack wieder auf und begann mit dem Abstieg. Ganz behutsam, immer die nächste Sprosse testend, stieg er hinunter in die Dunkelheit. Als er endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, seufzte Erduin erleichtert und sah sich um. Er befand sich in einem Gang der scheinbar noch mit primitiven Mitteln ausgeschlagen worden war, denn die Wände waren unregelmäßig bearbeitet worden und der Boden bestand aus moosbewachsenen Pflastersteinen. Erduin kramte die Karte und sein Kompass hervor und folgte, nach kurzer Überlegung, dem Gang in nordöstlicher Richtung. Er kam nur schleppend voran, den der Boden war feucht und rutschig und obwohl er schweres Schuhwerk trug, hatte Erduin angst vor einem Sturz. In seinem Alter konnte ein Sturz gefährliche Folgen haben und das Risiko wollte er, so nah am Ziel, nicht eingehen.
Langsam wurden seine Beine schwer und auch seine Hoffnung den in der Karte eingezeichneten Ausgang zu finden, schwand, je mehr seine Müdigkeit zunahm. Er hatte einen Umweg nehmen müssen, da einige der Gänge, die er hätte folgen sollen, eingebrochen war. Er war nun in einem Bereich, der nicht auf seiner Karte eingezeichnet war und orientierte sich nur noch dank des Kompasses. Als Erduin schon soweit war sich auf den Boden zu setzen, um seinem entkräfteten Körper eine Pause zu gönnen, sah er eine Tür, die in einer der Wände eingelassen war. Sie war aus einem massiven, dunklen Metall, das Rostflecken aufwies. Erduin näherte sich der Tür und schob sie auf. Dahinter befand sich ein kleiner Raum, in der eine Wendeltreppe nach oben führte. Erduin hob den Kopf und sah, dass der spiralförmige Aufstieg gut fünfzig Meter nach oben ragte. Er packte die Mittelstrebe der Konstruktion und schüttelte daran; die Treppe schwang mit und gab ein Ächzen von sich. In Erduins Hals bildete sich ein Kloß. Mit ein wenig Glück würde er dort oben einen Ausgang in die Außenwelt finden. Das war doch ein Wagnis wert! Er schloss die Augen, holte tief Luft und trat auf die erste Stufe der Treppe. Dann vorsichtig auf die zweite, die dritte und die vierte. Die Treppe schwankte. Erduin blieb stehen, wartete bis die Schwingungen nachließen, um dann noch behutsamer weiter zu steigen. Als er die Hälfte der Treppe unter sich gelassen hatte, blieb er einen Moment stehen, um durchzuatmen.
Du hast es beinahe geschafft! Dieser Gedanke war es, der Erduin wieder vorantrieb, trotz der Erschöpfung, die er verspürte, trotz der Schmerzen, die sich in seinen Gelenken niedergelassen hatten. Er biss die Zähne zusammen und setzte sich in Bewegung. Einen Schritt nach den anderen, ganz langsam. Plötzlich brach eine der Stufen. Für einen Augenblick schwebte sein rechtes Bein in der Luft, wo gerade noch die Stufe war. Erduin verlor das Gleichgewicht und kippte nach vorne. Reflexartig hob er die Hände, um seinen Fall an den oberen Stufen abzubremsen. Sein Standbein rutschte ein Stück nach vorne, blieb aber an der Kante der Stufe stehen. Erduin knallte mit den Händen auf die stählerne Treppe. Der Schmerz trieb ihm Tränen in den Augen, doch er rappelte sich auf und zog sich an der Sprosse hoch, so dass er, schwer atmend, darauf wartete, dass sein Herzschlag sich beruhigte. Als sein Adrenalinspiegel sank, spürte er ein Brennen an seinem linken Knie. Dort war seine Hose aufgerissen, und er sah ein Rinnsal Blut, der von einer offenen Stelle unterhalb seiner Kniescheibe, an seinem Bein herunter lief. Als der Schock ein wenig verflogen war, stand Erduin auf. Er war ein wenig unsicher auf den Beinen, doch trotz des Zitterns, das sich seines Körper ermächtigt hatte, fuhr er mit dem Aufstieg fort.
Wie im Traum setzte er eine Fuß vor den anderen, ohne das Schwanken der Treppe zu beachten. Sein Blick war stur auf das Ende der Stiege gerichtet, das allmählich näher kann.
Als er oben ankam, ließ er sich nieder, um einen Schluck Wasser aus seinem Schlauch zu trinken. Dabei sah er sich um. Er befand sich in einem kleinen, eckigen Raum, der gerade mal drei mal drei Fuß maß. An einem der Wände war ein rotes, zäpfchenförmiges und armlanges Ding befestigt, von dem ein schwarzer Schlauch baumelte. Außer der Öffnung am Boden, aus der Erduin gerade entstiegen war, gab es noch eine Tür aus Metall, unter der ein rötlicher Lichtschein, den Raum in ein sanftes Rot tauchte. Hatte er es tatsächlich geschafft? War das etwa Sonnenlicht? Erduin raffte sich auf, um die Tür genauer in Augenschein zu nehmen. Obwohl das Metal vom Rost zerfressen war, schien sie - trotz der vielen Jahre, in der sie unbenutzt geblieben war - immer noch ziemlich stabil zu sein. Der Öffnungsmechanismus bestand aus einer Querstrebe, die bauchhoch von einer Seite der Tür zur anderen verlief und die man, so vermutete Erduin, herunter drücken musste. Erduin nahm seinen Rucksack ab und holte eine Brille mit abgedunkelten Gläsern raus, die er sich aufsetzte. Er legte beide Hände auf die Strebe und drückte dagegen, doch sie rührte sich nicht. Er versuchte es ein zweites Mal, diesmal belastete er die Stange mit seinem ganzen Gewicht. Erduin hörte ein Knacken, dann ein ächzende Knirschen, als die Strebe nachgab und die Tür sich langsam öffnete. Die Landschaft, die sich Erduin darbot, ließ sein Atem stocken; eine hügelige Weide, die sich im roten Schein des Sonnenuntergangs, beinahe endlos vor ihm erstreckte. Erduin ging durch die Tür und atmete so tief ein, dass seine Lunge zu platzen drohte. Die frische Luft berauschte ihn, ließ seine Glückshormone Purzelbäume schlagen. Wie ein Jünger, dem eine göttliche Erscheinung zuteil wird, stand Erduin ehrfürchtig da, und ließ seinen Blick über das weite Weideland schweifen. Er war so fasziniert von dem was er sah, dass er nicht bemerkte, das sich etwas in seinem Rücken näherte.
Kraarkzar war nicht umsonst das Alpha-Tier seines Rudels - mit einer Schulterhöhe von ein Meter fünfzig und einer Länge von gut zweieinhalb Meter war er das größte Männchen seines Packs. Sein schwarzer Chitinpanzer war von vielen Kampfspuren übersät und eines seiner Facettenaugen wies eine tiefe Narbe auf. Er stand auf einer kleinen, hügeligen Erhebung und betrachtete den Sonnenuntergang. Während die rot schimmernde Scheibe immer tiefer im Horizontstreifen verschwand, witterte er plötzlich etwas, das seine Fühler vor Aufregung erzittern ließ. Blut. Er witterte Blut. Aber irgendwie war dieser Geruch so anders, als alles was er bisher wahrgenommen hatte, und er hatte schon viele Arten von Blut gerochen. Er folgte der Witterung bis auf eine Anhöhe und erblickte einige Meter unter sich ein seltsames Wesen, dass auf seinen Hinterbeinen stand und in die untergehende Sonne starrte. Die Haut dieses Tiers war mit irgendetwas bedeckt, das Kraarkzar nicht einordnen konnte, doch es roch eindeutig nach Blut, und zwar nach leckerem Blut. Kraarkzar sprang und fuhr seine Flügel aus. Völlig geräuschlos schwebte er den Abhang hinunter. Mit einem gezielten Biss in den Hals tötete er das Wesen, das mit erstauntem Blick verblutete.
Erst labte Kraarkzar sich am roten Lebenssaft, dann begann er das zähe Fleisch von den Knochen zu nagen. Als sein Hunger gestillt war, überlass er den Kadaver den sich sammelnden Aasfressern. Er fing an sich zu putzen, bis er auf eine Öffnung im Hang des Hügels aufmerksam wurde. Daher war das Wesen scheinbar gekommen. Vielleicht gab es ja dort mehr davon?