Ungewohnte Perspektiven 2: Rapunzel

ex-mact

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Diese "Fingerübung" soll den Autor dazu veranlassen, bekannte Geschehen aus "ungewohnten Perspektiven" zu sehen - und zu erzählen.
Aus solcherart entstandenen Texten können heitere "Varianten", aber auch erkenntnisreiche Beobachtungen entstehen, die bei der täglichen Textarbeit zu neuen Einsichten führen können. Die Aufgabe ist dabei, die Sichtweise eines Charakters (Person, Ding, Tier...) einzunehmen und wertend, emotional nachvollziehbar aus dieser Perspektive zu erzählen - das kann in der "Ich-Form" sein, aber durchaus auch vom Standpunkt eines allwissenden Erzählers oder in der persönlichen dritten Person.

Dieses Mal geht es um "Rapunzel", die junge Maid, die in einem hohen Turm eingesperrt wird und ihren Liebsten an den langen Zöpfen ins Turmzimmer klettern lässt, bis ihre Peinigerin das Haar abschneidet, während der Retter erst klettert und dann wettert. Als mögliche "Erzählsperspektiven" stehen der "Retter" (Prinz, Friseur... was auch immer) und die "Gefängniswärterin" (böse Stiefmutter, Hexe, Vorzimmerdame... oder sonstwer) zur Verfügung, nicht jedoch Rapunzel, der Turm oder das Pferd.
 

Renee Hawk

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ich gestehe ein, ich benötige etwas Zeit - ich habe noch nicht einmal die Grimm'sche Version nachgelesen. Vielleicht schaffe ich es am Wochenende.

Gruß
Reneè
 
Rapunzel

“Oooomaaa! Oma, du sollst die Geschichte erzählen!”
“Oma, du hast’s uns versprochen!”
“Hab ich das? Ich verspreche euch ganz schön viel scheint mir. Na gut, Versprechen soll man halten, doch zuerst legt ihr euch ins Bett und seid leise, ja?”
“Und dann erzählst du uns von früher, gell?”
“Ja, dann erzähle ich von früher. So, leg dich hin und du dich auch. Huch - deine Füße sind ganz kalt. Ab unter die Decke damit!”
Die alte Frau legt einpaar Scheite Holz in den Kamin und das Feuer flackert wieder so lustig wie zuvor. Dann stellt sie den kleine Hocker zwischen die Fußenden der Betten, in denen ihre Enkel liegen. Sanja und Titus sind Zwillinge und seid heute sieben Jahre alt. Mit großen glänzenden Augen sehen sie nun ihre Großmutter an, die ihnen die schönsten Geschichten zu erzählen vermag. Ganz leise sind die zwei, damit sie nichts verpassen. Und so ist einige Sekunden lang nur das knistern des Feuers zu hören. Dann beginnt die Großmutter mit samtener Stimme:

“Vor ungefähr 30 Jahren zog ich weg von dem Wohnort meiner Eltern. Meine Mutter war sehr, sehr streng und obwohl ich zu diesem Zeitpunkt bereits die Mitte meines Lebens überschritten hatte, ich war, glaube ich, 47 Jahre alt, meinte sie mich noch erziehen und mir Vorschriften machen zu müssen. So kaufte ich mir hier, fünf Tagesmärsche von meiner Mutter entfernt, ein kleines Häuschen mit einem Garten. Ihr kennt das Haus, ich lebe heute noch darin. Dort legte ich Obst und Gemüse und allerlei Kräuter im Garten an. Und weil ich die Kräuter zu Tinkturen und Cremes verarbeitet habe und diese, für meinen Lebensunterhalt, verkaufte, wurde ich in dieser Gegend nur noch “Hexe” genannt, was freilich kein schöner Name war. Doch ebenso schnell wie diese Bezeichnung verbreitete sich auch, wie wirksam und hilfreich meine Mitellchen sind. So kamen denn auch Leute von Weit her angereist, um bei mir zu kaufen. Dadurch verdiente ich eine ganze Menge Geld mit meiner Arbeit, die mir eine große Freude war. Eigentlich hätte ich glücklich sein müssen, nur dazu fehlte mir das Wichtigste: eine Familie. Nein, meine Eltern vermisste ich kaum. Ich sehnte mich nach einem Mann und einem Kind.
Mit der Zeit wurde ich recht grantig und zu einem wahren Einsiedler. Jeden, der es wagte bei mir zu klopfen, verscheuchte ich rigoros. Selbst ein paar Kinder, die mir Hilfe bei der Ernte anboten, herrschte ich an. Da könnt ihr euch sicher vorstellen, wie zornig ich war, als mein Nachbar des Nachts in meinen Garten schlich, um Rapunzeln zu stehlen. Ich schrie ihn an, beschimpfte und verfluchte ihn aufs übelste, bis ich völlig außer Atem war. Von mir eingeschüchtert stotterte der junge Mann von Ehefrau und schwanger, von Heißhunger und Rapunzeln und schrecklichem Gejammer.
‘Ihre Frau ist schwanger und hat fürchterlichen Heißhunger auf Rapunzeln?’ rätselte ich mir zusammen
‘Und wenn sie keine bekommt stirbt sie?’ Der Mann nickte.
‘Nun - ich bin ja kein Unmensch, aber bezahlen müssen sie schon.’ Er habe kein Geld sagte er.
‘So?’ fragte ich. ‘Ohne Geld wollen Sie ein Kind großziehen?... In Gottes Namen - nehmen Sie die Rapunzeln - doch versprechen Sie mir das Kind! Ich kann es allemal besser aufziehen als eine jammernde Mutter und ein diebischer Vater.’
Mit den Rapunzeln auf dem Arm kletterte der Mann über die Mauer, zurück inseinen eigenen Garten, in dem es nichts gab als Wiese. Sobald mir bewusst wurde, dass ich ein Kind bekommen werde, freute ich mich über alle Maßen und sang und tanzte durch das ganze Haus. In meiner Freude jedoch verachtete ich meinen Nachbarn, der sein Kind für ein paar Rapunzeln verkauft hatte, obwohl er und seine Frau schon lange auf Nachwuchs warteten. Mitleid emfund ich nicht für sie, denn ich hatte die feste Überzeugung, dem Kind etwas gutes zu tun.
Nach einigen Monaten brachte die Frau ein Mädchen zur Welt. Ich nannte es Rapunzel.”

“Dann ist Mutti also gar nicht deine richtige Tochter?”

“Biologisch gesehen ist sie nicht meine Tochter, doch ich liebte sie so sehr, als wäre sie es.
Während ihren ersten sechs Lebensmonaten wohnte Rapunzel noch bei ihren leiblichen Eltern und ist nur nachmittags bei mir gewesen. Kleine Babies brauchen regelmäßig Muttermilch um gesund zu bleiben und kräftig zu wachsen. Ich wollte nicht, dass dieses Wunschkind schwach und kränklich wird - deswegen nahm ich es nicht gleich zu mir. Seinen Eltern fiel es, nachdem sie sich so recht an das Kind gewöhnt hatten, natürlich doppelt - ach was sag ich, dreifach! - schwer, Rapunzel in meine Obhut zu geben. Wie ich dies merkte, gestattete ich ihnen, das Kind regelmäßig zu besuchen, solange sie es nicht von sich abhängig machten. Natürlich hatte ich die berechtigte Sorge, Rapunzel würde mich, sobald sie selbstständig denken konnte, verlassen und zu ihren Eltern ziehen. Jedoch sieben Jahre nach Rapunzels Geburt zogen ihre Eltern fort. Im nachhinein erfuhr ich die Gründe durch Dritte: Einerseits konnten sie es sich nicht Mitansehen, wie ihr Kind an mir, der ‘bösen Hexe‘, hing, andererseits fürchtete die Mutter, auch ihre neue Schwangerschaft an mich abgeben zu müssen. Damals war ich froh, meinen Goldschatz endlich ganz für mich allein zu haben.
Und Rapunzel ist ein wahrer Goldschatz gewesen! Jeden Abend bürstete ich ihr die langen blonden Haare, die, obschon ich sie niemals geschnitten hatte, dicht und kräftig waren. Dann flocht ich ihr einen Zopf, der Jahr für Jahr länger wurde. Bald war es notwendig, den Zopf einzurollen und ein Haarnetz, grade so eines, wie ich es um meinen Dutt trage, darumzubinden, damit die Haare nicht auf dem Boden schleiften. Rapunzel hatte große blaue Augen und eine kleine Stupsnase und war mir also recht zur Freude. Morgens bereitete sie das Frühstück und ging, nachdem wir gegessen hatten, in die Schule. Wenn sie wieder nach Hause kam, berichtete sie mir vom Unterricht während wir das aßen, was sie sich am Vortag bei mir wünschte. Dann lernte sie. Da sie sehr fleißig war und eine gute Auffassungsgabe hatte, waren fast alle ihrer Arbeiten mit ‘sehr gut’ benotet. Nachmittags half Rapunzel mir im Garten und abends richteten wir gemeinsam das Abendmahl. Im Winter, wenn im Garten nichts zu tun war, strickten und nähten wir. In allem war Rapunzel äußerst geschickt.
Seid Rapunzel bei mir war, blühte ich merklich auf. Jedermann schätzte mich für meine Freundlichkeit und für meine Ausgeglichenheit. Ich verkaufte auch mehr Kräuterprodukte als zuvor.
Doch weil das Perfekte unwirklich und niemals langanhaltend ist, wurde ichschon bald von Rapunzel geschockt. Als sie zwölf Jahre alt war bemerkte ich, dass sie stahl.Geld aus meinem Portemonaie, Knöpfe und Garn vom Kurzwarenhändler, Teilchen beim Bäcker.
Ich ärgerte mich fürchterlich: Das hat doch meine Tochter nicht nötig! Das sind die verfluchten Gene ihres Vaters!
Nachdem ich mich beruhigt hatte, redete ich mit Rapunzel und erklärte ihr, warum klauen so schlimm ist und erzählte ihr auch recht gruselige Geschichten, was mit Dieben passiert. Sie war bestürzt und zeigte sich einsichtig - doch nur für den Moment. Nicht lange Zeit später klaute sie wiederum.
‘Du musst das Kind bestrafen!’ dachte ich mir und grübelte über eine gerechte Strafe.
Nicht weit im Wald stand ein alter Wachtturm - er wurde inzwischen abgerissen - dessen Tür war zugemauert. Das niedrigste Fenster war gerade so tief, das man mit einer hohen Leiter leicht hinauf steigen konnte.
‘Jedes Mal, wenn du klaust, sperr ich dich dort ein - und zwar so viele Tage, wie du Diebstähle begangen hast!’
Für ihre ersten vier Diebstähle blieb sie demnach vier Tage in dem Turm. Das war auch für mich eine schwere Zeit, da sie ihr ganzes Leben lang, abgesehen von den ersten sechs Monaten, jeden Tag und jede Nacht bei mir verbracht hat. Nun sah ich sie nur dreimal täglich, nämlich dann, wenn ich ihr das Essen brachte. Neine - hungern sollte meine liebe Rapunzel nicht!
Ich war schon über sechzig Jahre alt und konnte nicht jedesmal wenn ich mein Kind besuchte die Leiter mitnehmen, also ging ich mit dem Korb, der schon schwer genug war, zum Turm, rief Rapunzel zu, sie solle ihr Haar hinunterlassen und kletterte daran hinauf.
Kurz nachdem Rapunzel ihre Strafe verbüßt hatte und wieder nach Hause kam, wurde sie auf dem Markt beim stehlen erwisch, sodass ich sie wiederum einsperren musste. Auf diese Weise ging das mehrere Jahre und die Länge von Rapunzels Turmaufenthalten wuch so stetig wie ihr Haar. Eines Tages, ich brachte ihr gerade Essen, fragte das Kind mich, wie es kommt, dass ich schwerer als der Prinz bin! Darüber ärgerte ich mich gewaltig, denn wenn ein Prinz sie besuchte, war ihre Strafe gar keine mehr, sondern eine Freude. Es war nun auch nicht mehr verwunderlich, wie Rapunzel immer wider stehlen konnte, trotz des Wissens, dafür in einen dreckigen Turm eingesperrt zu werden.
Nach der Offenbarung meines Kindes zweifelte ich an mir selbst. Ist es sinnvoll, ein junges Mädchen so zu erziehen? Hätten nicht doch junge Leute diese Aufgabe übernehmen sollen? Ich glaubte, an Rapunzel größtes Unrecgt getan zu haben und da ihre Elter nicht mehr auffindbar waren, beschloss ich, sie in ein Heim zu geben - nicht ohne mich mit ihr versöhnt zu haben.
Zur Erinnerung band ich Rapunzels Zopf - im Heim durfte sie nicht solch lange Haare haben - an einen Fensterhaken des Turms und konnte so jederzeit hinaufsteigen. Diesem Umstand verdankte ich es, den Königssohn kennengelernt zu haben: Er kletterte, ebenso wie ich es immer tat, den Zopf hinauf und ward sehr erschrocken, als er mich an Rapunzels Stelle sah. Ich berichtete ihm von Rapunzels Verblei und dem Grund für diesen. Er zermaterte sich so in Selbstvorwürfen, dass er mir Leid tat, doch eh ich reagieren konnte, sprang er aus dem Turmfenster.
Seid dem hatte ich lange Zeit nichts mehr von ihm gehört. Nur von einem Arzt erfuhr ich, dass sein Augenlicht verloren gegangen sei.
Etwa zwei Jahre nach dem Unfall erhielt ich eine Hochzeitseinladung ind das Schloß, in dem ihr heut noch glücklich und zufrieden lebt.”

Die alte Frau horchte noch einen Moment nach dem Atmen der Kinder, stellte dann leise den Hocker an seinen Platz und schlich aus dem Kinderzimmer.
 



 
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