Unsere Blumen

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kräutertee

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Mit zehn wurde mir zum ersten Mal die Sinnlosigkeit der Existenz bewusst. Danach verbrachte ich Stunden, Tage, Wochen damit, einen Sinn zu finden. Ein höheres Ziel, in der Hoffnung, die Wurzeln, die sich um meine Seele gelegt hatten und ihr die Luft abschnitten, rausreißen zu können. Aber der Samen war gepflanzt und bei jedem Versuch, ihn auszugraben, verletzte ich mich nur mehr. Ich wollte Physik studieren – wenn ich verstehe, warum überhaupt etwas existiert, muss ich sicher eine Antwort auf meine Frage bekommen?
Ich wurde älter, und die leuchtenden, giftigen Blumen der Vergänglichkeit und Ungerechtigkeit wuchsen weiter in mir. Um sie nicht weiter zu füttern hörte ich auf zu essen und fand Sinn darin, zu verschwinden. Je schwächer ich wurde, desto stärker wurden sie, und bald drohten sie, meine Seele gänzlich zu verschlingen. Durch eine letzte Lücke in der dichten Blätterdecke drang ich in mein Innerstes vor und begann, einige Triebe der Pflanze zu stutzen. Je mehr Blüten sie verlor, desto mehr kam die Außenwelt wieder bei mir an. Ich sah wieder Dinge außerhalb ihrer blendenden Farben, roch Gerüche außer ihrer tödlichen Süße.
Seitdem stutze ich meine Blume regelmäßig, doch manchmal werde ich nachlässig und lasse mich von ihren Illusionen einnehmen. Bis jetzt habe ich immer noch einen Ausweg gefunden, bevor sich ihr Blätterkleid komplett um mich geschlossen hat. Ich habe Dinge gefunden, von denen sie wächst und Dinge, von denen sie welkt. Manchmal fühlt es sich an, als hätte es sich die ganze Welt zur Aufgabe gemacht, sie zu gießen und zu düngen, doch dann fällt mir auf, dass ich im Regen stehe, obwohl ein paar Meter weiter die Sonne scheint.
Als ich akzeptierte, dass ich meine Blume immer in mir tragen werde, konnte ich auch die Blumen anderer sehen. Mit ihren unterschiedlichen Formen, Farben, und Gerüchen, bringen sie eine eigenartige Schönheit in unser Leben, so lange wir dafür sorgen, dass sie nicht ungehindert wuchern können. Jetzt versuche ich, Menschen zu treffen, die ihre Blume kennen und pflegen. Die mich daran erinnern, dass es noch mehr Farben gibt und die mir den Weg in die Sonne zeigen, wenn ich ihn gerade nicht finde, und für die ich dasselbe tun kann. Vielleicht ist meine Aufgabe in diesem Leben also, anderen zu zeigen, wie sie mit ihrer Blume leben können.
 



 
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