Unter Beobachtung
14. Teil
69
Eine Stunde später kam der Arzt mit Jens aus dem Lazarett zurück. Jens trug seinen rechten Arm in einem Schultertuch. Die Hand war dick verbunden und mit einer Schiene versehen, die von den Fingerspitzen bis über den Ellenbogen reichte, sodass er den Arm nicht bewegen konnte. Schnell begaben sich beide Männer in die provisorische Überwachungszentrale, wo sie von ihren Freunden schon erwartet wurden. 14. Teil
69
Jens ließ sich sofort von Mahmud Kebier, der gleich nach den Festnahmen, zum Stützpunkt zurückgefahren war, die ermittelten Personalien der festgenommenen Personen durchsagen, so weit wie er sie in Erfahrung gebracht hatte. Per Mail schickte er die schnell gemachten Bilder der Leute mit.
„Sechs von ihnen sagen kein Wort. Wir konnten auch ihre Personalien noch nicht ermitteln“, berichtete der Oberstleutnant. „Da wird wohl viel Arbeit auf Sie zukommen, Jens.“
Der betrachtete sich die Bilder der sechs Personen genauer und ein Lächeln huschte über sein Gesicht, denn drei von ihnen erkannte er sofort. Es waren zwei Männer und eine Frau, die in Deutschland bereits wegen Terroranschlägen steckbrieflich gesucht wurden. „Jungs, ich glaube“, sagte er leise, „wir haben da einen dicken Fisch an der Angel. Wenn wir es richtig anstellen, können wir eine organisierte Terroristenzelle an Land ziehen, die von den Waffenhändlern beliefert wurde.“
„Na dann ist natürlich klar, dass die stinksauer sind, weil wir ihnen den Nachschub abgeschnitten und ihnen in die Suppe gespuckt haben“, stellte Andreas trocken fest.
Als Kim mit Ahmed und Rashid am Abend von der Tauchbasis kamen und für alle etwas zu Essen dabeihatten, bemerkten die Freunde erst, dass sie den ganzen Tag noch nichts gegessen hatten.
Sich bei der Überwachung des Penthouse abwechselnd, gingen sie gestaffelt auf die Terrasse und stärkten sich an den köstlichen Speisen, die Ahmed und Rashid für sie zubereitet hatten.
Am späten Abend stieß auch Oberstleutnant Mahmud Kebier noch zu ihnen und sie machten sich an die Arbeit.
Sie breiteten die Blätter mit den grob gezeichneten Grundrissen des Penthouse, dem vierten Stock, der Eingangshalle mit dem Erdgeschoss und den einzelnen Eingängen sowie den beiden Kellern des Hotels auf dem großen Tisch aus.
Gründlich besprachen sie ihren genauen Einsatzplan für die Nacht und teilten die Gruppen dafür ein.
Andreas bestand darauf, dass Sebastian in der Überwachungszentrale bleiben sollte, um alle auf dem Laufenden zu halten und den Einsatz zu koordinieren. Er selbst meldete sich ebenso wie seine Freunde, um eine der Gruppen zum Sturm auf das Hotel zu führen.
„Wie? Willst du da mit der Krücke rein humpeln?“, fragte Pitt skeptisch.
„Nein, ich kann das auch ohne. Sie ist nur dafür da, dass ihr mich etwas bedauert“, gab Andreas grinsend zurück. „Thomas und Jens sind auch nicht besser dran. Aber wir wissen alle, was auf dem Spiel steht. Wir haben schon unter ganz anderen Bedingungen gekämpft. Ich möchte einfach nicht mehr Menschenleben riskieren als unbedingt nötig. Und seien wir doch realistisch, ohne Schusswechsel geht dieser kleine Krieg nicht über die Bühne, auch wenn wir das gern anders wünschten. Oder wollt ihr Schlaftabletten verstreuen? Das hat einmal funktioniert, aber noch einmal wohl eher nicht. Sie wurden gewarnt, als sie ihre Leute anrufen wollten und die nicht ran gingen, weil wir sie gekascht haben. Die haben das Obergeschoss dicht gemacht. Wir können nur stürmen. Anders kommen wir nicht mehr ran. In dem Hotel sind auch viele unschuldige Menschen, deren Leben wir nicht riskieren dürfen. Aber eine Evakuierung im Vorfeld ist auch nicht möglich, ohne dass es die Kerle mitbekommen. Da könnten wir denen auch gleich unsere genaue Angriffszeit mitteilen. Ich gehe auf jeden Fall mit unseren ägyptischen Kameraden mit rein.“
„Und warum ich dann nicht auch?“, fragte Sebastian trotzig.
„Weil wir einen Mann hier brauchen, der beide Sprachen perfekt beherrscht und genau weiß, was er tut. Wir verlassen uns alle auf dich. Außerdem wirst du schon sehr bald Vater und du kennst meinen Standpunkt dazu“, gab Andreas ernst, ja regelrecht streitsüchtig zurück. Sebastian fasste sich an seine Nasenspitze und zog provokativ daran. Alle Freunde verstanden diese Geste sofort, hatten aber versprochen, nichts zu sagen und konnten Andreas´ Argumente eigentlich auch nicht von der Hand weisen.
Jens entschied nach einigen Überlegungen, dass jede Gruppe von einem seiner Freunde und ihm angeführt werden solle. Schon allein, um ihre taktischen Vorteile und langjährigen Erfahrungen zu nutzen.
Damit war Andreas mit von der Partie, und Sebastian war für die Koordination der Gruppen verantwortlich.
Doktor Mechier sollte sich mit seinem Personal im Lazarett bereithalten, um Verletzte schnellstmöglich abtransportieren und behandeln lassen zu können. Oberstleutnant Kebier übernahm selbst auch eine Gruppe und würde am Sturm teilnehmen. Damit stand fest, dass sie mit sechs Gruppen ins Obergeschoss und zur gleichen Zeit in die Kellerräume vordringen und die einzelnen Etagen sichern würden. Denn sie mussten damit rechnen, dass auch weitere Terroristen in dem Hotel untergebracht waren und schon gewarnt wurden. Immerhin waren alle bisher festgenommenen Personen ausgerechnet in diesem Hotel abgestiegen.
Kasim hatte Sebastians Wagen geholt, in dem sich noch Ausrüstungsgegenstände von Uwe, Thomas, Jens und Pitt befanden. Oberstleutnant Mahmud Kebier zog es vor, seine eigenen Waffen zu nutzen. Jens hatte im Vorfeld zusätzliche Ausrüstungsgegenstände und Waffen aus der deutschen Militärmaschine, mit der er gekommen war, holen lassen. Er überließ es seinen Freunden, welche Waffen sie wählen wollten.
Er selbst entschied sich für die HK MP7.
Das ist eine Maschinenpistole von Heckler & Koch und wurde als persönliche Verteidigungswaffe entwickelt. Der große Vorteil dieser MP: ein Spannhebel hinten an der Waffe ermöglicht die leichte Bedienung auch für Linkshänder. Eine manuell zu betätigende Sperre machte es möglich, dass die Hülsen nicht mehr nach rechts, und somit in das Sichtfeld des Linkshänder-Schützens, sondern nach links ausgeworfen werden. Also gerade richtig für seine verletzte Hand. Auch Thomas entschied sich für die Waffe, da er noch ein paar Probleme mit seinem rechten Arm hatte, und stellte sie für sich gleich entsprechend um.
Sie bestückten ihre MPs mit Zeiss Z-Point Rotpunktvisier und Laserlichtmodul sowie mit Schalldämpfer und Lampe. Dazu packten sie sich einige Magazine, mit je vierzig Kleinkaliber-Patronen im Kaliber 4,6 × 30 mm, in die Taschen ihrer taktischen Schutzwesten.
Während Jens seine Waffe auf Drei-Schuss-Feuerstöße einstellte, wählte Thomas, der Scharfschütze der kleinen Gruppe, Einzelfeuer. Die anderen entschieden sich für die größere HK MP5-Navy als Hauptfeuerwaffe, legten sich aber auch die MP7 als Zweitwaffe bereit.
„Gut, dass du ein halbes Waffenarsenal mitgebracht hast“, meinte Andreas und fragte dann. „Woher hast du eigentlich gewusst, dass wir die Bleispritzen brauchen würden?“
Jens grinste seinen Freund an.
„Nennen wir es mal männliche Intuition. Ich habe einfach eingepackt, was mir zwischen die Finger kam. Schließlich brauchte ich das Zeug ja nicht zu schleppen und in der Militärmaschine war ohnehin genug Platz.“ Dann verteilte er Blendgranaten an seine Männer.
Gerade als sich die sechs für ihren Einsatz umzogen und fertig machen wollten, meldete sich Hasan, der die Überwachung des Penthouse vom Hotel übernommen hatte. „Hier tut sich etwas“, sagte er.
Schnell kamen die Freunde in die Zentrale, schauten gespannt auf die Monitore und lauschten dem Gespräch der Männer im Hotel.
Sie sahen, wie drei Personen aus dem Fahrstuhl steigen und sich mit Manfred Steinberg an einen großen Tisch setzen. Die Leibwächter holten aus einem versteckten Wandschrank Walther P5 Pistolen und legten sie zusammen mit einigen Magazinen, die je acht Patronen 9 mm Parabellum fassten, auf den Tisch.
Der dicke Steinberg verteilte Gasmasken an die drei Männer. Dabei ermahnte er sie zu erhöhter Wachsamkeit und schloss auch einen Gasangriff von seiner Seite her nicht aus. Wobei er das Gas doch liebend gern für den geplanten Angriff auf die große Abdel Moneim Riad Moschee in Hurghada-Downtown verwendet hätte, es nun aber hier vielleicht brauche.
Erschrocken schauten sich die Freunde an, als sie das gehört hatten.
„Die Luftschächte“, schoss es Jens durch den Kopf und sagte es laut. „Der Kerl muss die Möglichkeit haben, Gas durch die Schächte zu jagen. Das müssen wir verhindern. In dem Hotel sind auch Familien mit Kindern.“
„Vielleicht sollten wir den Einsatz abbrechen, bis die Kerle sich wieder sicherer fühlen“, schlug Uwe vor.
„Nein, dazu sind wir schon zu weit gegangen“, meinte Jens. „Wenn wir jetzt nicht handeln, dann fangen wir wieder bei Punkt Null an und die tanzen uns auf der Nase herum. Am Ende setzt er noch seinen Plan mit dem Angriff auf die Moschee um. Das dürfen wir nicht zulassen. Unser Einsatzplan ist gut. Wir müssen den Kerlen das Handwerk legen und sie so überraschen, dass dieses Miststück nicht mehr in der Lage ist, irgendeinen Knopf zu drücken. Oberstleutnant Kebier, können Sie ihre Truppen, die für den Einsatz vorgesehen sind, auch noch mit Gasmasken ausrüsten?“
Mahmud Kebier nickte kurz. Er setzte sich sofort ans Telefon und gab seine Befehle durch. Auch Doktor Mechier telefonierte mit dem Lazarett und bereitete seine Kollegen auf Patienten mit unbestimmten Gasvergiftungen vor.
Nachdem Jens sich fertig umgezogen hatte, fixierte der Arzt seinen Arm fest am Körper auf der schusssicheren Weste und sah den Freund besorgt an.
„Keine Sorge, Doc“, beruhigte Jens ihn, „Ich habe mir angewöhnt, mit links genauso gut zu sein wie mit rechts. Stehe nur einfach mit deinen Rettungswagen bereit. Ich hoffe, dass wir sie nicht brauchen werden.“
„Das hoffe ich auch.“
Kurz bevor die Männer losfahren wollten, zogen sie sich noch einmal zurück. Danach überreichte jeder von ihnen Sebastian einen verschlossenen Umschlag. Der nahm die Umschläge schweigend entgegen und steckte sie in die Brusttasche seines Hemdes. Er wusste genau, was das bedeutete und wünschte seinen Freunden viel Glück.
Andreas hockte sich neben Anne, die mit in der Überwachungszentrale saß. Zärtlich streichelte er über ihr Haar. Er küsste sie und versprach ihr, bald wieder zurück zu sein. Doch Annes Augen füllten sich mit Tränen. „Schatz, bitte nicht weinen. Freue dich lieber auf unsere Rückkehr. Wir werden den Kerlen ordentlich Feuer unterm Hintern machen. Lächle, mein Schatz, und mach es mir mit deinen Tränen nicht so schwer. Ich werde schon bald zurück sein. Dann habe ich nur noch Zeit für dich. Versprochen.“ Dann wandte er sich an seinen Freund Doktor Mechier und raunte ihm nur ganz leise zu: „Doc, passe gut auf mein Mädchen auf und tue alles für deine Landsleute und meine Freunde, sollte es sie erwischen. Der Deal gilt übrigens noch immer.“ Dann zog er seine Einsatz-Schutzweste über, überprüfte noch einmal seine Waffen, gab sich selbst noch eine Spritze und stellte sich neben seinen Freunden in einer Reihe auf. Sie salutierten kurz und machten zackig auf dem Absatz kehrt.
Gemeinsam verließen sie das Anwesen und stiegen in das bereitstehende Militärfahrzeug, das sie in die Kaserne brachte.
„Sebi, was hat es mit den Umschlägen auf sich, die du von jedem bekommen hast?“, wollte Doktor Mechier wissen, als die Männer unterwegs waren.
Sebastian erklärte dem Arzt leise, sodass es Anne nicht hören konnte, dass es ein Brauch ihrer Gruppe ist, vor gefährlichen Einsätzen einen Abschiedsbrief mit dem letzten Willen bei einem seiner Kampfgefährten zu hinterlassen. Und dass der Brief nur dann geöffnet und vor allen Freunden verlesen wird, wenn derjenige nicht aus dem Einsatz zurückkehrt.
„Ich hoffe, dass keiner dieser Briefe geöffnet und verlesen werden muss“, wünschte Abdul ernst.
„Ich auch, Doc. Das kannst du mir glauben“, gab Sebastian ebenso ernst zurück. Doch dann richtete er seinen Blick wieder konzentriert auf die Überwachungsmonitore und gab seine Beobachtungen per Funk an seine Freunde weiter, damit sie auf dem aktuellen Stand blieben.
Anne und Kim hatten sich neben ihn gesetzt und verfolgten den gesamten Verlauf mit.
Wenn Sebastian eine kurze Pause machte, übernahm Kim oder Anne den Job.
Rashid und Ahmed versorgten die Freunde mit Getränken.
Doktor Mechier fuhr zum Lazarett und koordinierte von da aus den Einsatz seiner Leute und legte die Stellplätze der Rettungsfahrzeuge in der unmittelbaren Umgebung des Hotels fest, um im Notfall schnellstmöglich vor Ort sein zu können.
Oberstleutnant Kebier informierte alle, dass er einen SA 342 M Gazelle Hubschrauber der ägyptischen Marine zur Unterstützung in die Luft beordert hatte. Mit seiner Bewaffnung und den vier gut ausgebildeten Marineoffizieren könnte der hilfreich sein.
Sebastian rief sich schnell die technischen Daten des Hubschraubers ins Gedächtnis. Er wusste, dass er einen Rotordurchmesser von 10,50 Metern und eine Wellenturbine hatte. Damit konnte er sowohl vom Meer als auch von der Stadt aus das Hotel anfliegen und sich direkt vor die Fenster des fünften Stocks stellen. Zur Not konnte er auch auf dem Flachdach landen, ohne mit den Wassertanks, die sich darauf befanden, zu kollidieren. Denn die Rotorblätter dieses Typs befinden sich in einer Höhe von 3,19 Meter, wobei die Wassertanks aber um einen halben Meter niedriger waren. Trotzdem müsste es für solch eine Aktion ein wirklich sehr guter Pilot sein. Doch es wäre auch eine große Hilfe, wenn sich die vier Mann der zusätzlichen Besatzung von oben abseilen und das Penthouse gleichzeitig über den Balkon stürmen könnten, während die anderen durch das Zimmer von unten kamen. Schnell nahm er das in die weitere Planung des Einsatzes mit auf.
„Mahmud, wenn kann die Gazelle in der Luft und vor Ort sein?“, fragte Sebastian vorsichtshalber nach.
„Er steht startbereit und lässt gleich zu Beginn des Einsatzes bereits die Turbinen laufen. Innerhalb von fünf Minuten kann er auf deinen Befehl hin über dem Hotel sein“, antwortete der Oberstleutnant.
Schon kurz darauf meldete sich der Pilot des Hubschraubers auf der Funkfrequenz bei Sebastian einsatzbereit.
„Ihr habt es gehört, Jungs. Wir haben auch Unterstützung aus der Luft“, meldete er sich dann bei seinen Freunden. „Also gebt Bescheid, wenn ihr ihn braucht.“
„Roger Wanderfalke, das werden wir tun“, antwortete Jens.
Während die Männer auf die Dunkelheit warteten, machten sich die fünf Freunde mit den Elitesoldaten ihrer einzelnen Gruppen bekannt. Sie erklärten ihnen die Situation und die genaue Vorgehensweise bei diesem Einsatz. Dann machten sie sich mit ihnen noch ein paar spezifische Handzeichen aus. Vorsichtshalber, um Missverständnissen vorzubeugen, übten sie auf dem Gelände noch einige Angriffssituationen.
Sie erklärten den Männern ehrlich, wie gefährlich dieser Einsatz sein würde. Und fragten jeden persönlich, ob er dafür wirklich bereit sei, dabei stellten sie es jedem frei, ohne nachfolgende disziplinarische Maßnahmen davon Abstand zu nehmen.
Doch alle Männer waren bereit und stolz darauf, mit den deutschen Offizieren diesen Angriff durchführen zu dürfen.
Denn um diese Männer rankte in ihrer Einheit der Mythos von Helden. Der wurde zusätzlich verstärkt, als sie die deutschen Offiziere so vor sich stehen sahen und mit ihnen sprachen.
Flottillenadmiral Jens Arend stand da mit rechts schwarz verbundener Hand und am Körper fixiertem Arm. Korvettenkapitän Thomas Strauß hatte einen verbundenen Oberarm. Und Korvettenkapitän Andreas Wildner, von dem sie schon so viel von ihren beiden Kameraden gehört hatten, stand zu dem Zeitpunkt noch gestützt auf seine Krücken da. Trotzdem strahlen diese Männer, wie auch Korvettenkapitän Pitt Dressler und Korvettenkapitän Uwe Lange, Stärke und ein hohes Maß an Selbstbewusstsein aus.
Da sie noch etwas Zeit hatten, zogen sich die Männer, gemeinsam mit den deutschen Offizieren, in den Speiseraum des Militärstützpunktes zurück, um dort einen kleinen Imbiss zu sich zu nehmen und etwas zu trinken. Sie packten dann alle noch zusätzlich eine Flasche Wasser in ihr Sturmgepäck. Kurz bevor sie starteten, beobachteten die ägyptischen Soldaten, wie sich die drei verletzten Offiziere selbst eine Injektion in den Oberschenkel verabreichten, aber dabei auch noch Witze darüber machten.
Als Korvettenkapitän Wildner dann aufstand, um seine Gruppe zusammenzurufen, verzichtete er auf die Krücke und lief zum bereitstehenden Jeep. Die ihn zugeteilten Männer folgten.
Auch die anderen fünf Gruppen bestiegen ihre Einsatzfahrzeuge.
70
Sechs Fahrzeuge verließen im Konvoi das Kasernengelände in Richtung Hurghada Sekalla. Dort trennten sie sich und fuhren von unterschiedlichen Seiten weiter auf ihr Ziel zu. Sie parkten die Wagen unweit des Hotels in engen Gassen.Pünktlich dreiundzwanzig-hundert begann sie die Operation.
Je zwei Gruppen liefen in die benachbarten Hotels links und rechts und kletterten, alle Deckung nutzend, über die Mauern, welche die Hotels voneinander trennten. Die anderen beiden Trupps schlichen sich an der Hauswand entlang bis zum Dienstboteneingang.
„Hier Bussard“, meldete sich Jens, „Sind vorm Eingang. Wanderfalke, haben uns die Kerle schon bemerkt?“
„Negativ. Da oben tut sich nichts. Ihr könnt nach Plan Alfa vorgehen.“
Vorsichtig versuchte Uwe, die Tür zu öffnen. Doch sie war verschlossen. „Waldkauz, dein Job“, flüsterte er leise. Sofort löste sich Pitt von seinem Trupp. Er sah sich die Tür genau an und prüfte vorsichtshalber mit einer Spezialkamera, die er durch den unteren Türspalt schob, ob da eine Sprengstofffalle angebracht war. Danach öffnete er die Tür mit seinem Spezialwerkzeug.
Flink huschten die Männer hinein und sicherten den Raum in allen Richtungen ab. Sie hatten Glück, die Wirtschaftsräume waren ebenso menschenleer wie der Innenhof mit dem Poolgelände.
Als sie zur Küche vordrangen, sah es leider nicht mehr so aus. Mehrere Hotelangestellte hatten dort selbst zu dieser späten Uhrzeit jede Menge zu tun.
Jens gab Oberstleutnant Kebier und seiner kleinen Einsatzgruppe das Zeichen, sich darum zu kümmern.
Leise rückte der Trupp von Mahmud Kebier vor und brachte alle Angestellten in der Küche gleichzeitig in ihr Gewahrsam, ohne dass ein Ton zu hören war.
Als sie sicher waren, dass es alles Einheimische waren und von ihnen keine Gefahr ausging, durften sie weiterarbeiten. Allerdings blieben einige der Soldaten vor Ort, um böse Überraschungen ausschließen zu können. Jeder dieser Soldaten war bereit, sofort einzugreifen, wenn es nötig sein würde. Sie sicherte das Erdgeschoss, außer dem Foyer, welches mit einer Überwachungskamera ausgerüstet war. Die anderen fünf Trupps durchquerten die Küche und begaben sich, immer den Schutz der Dunkelheit nutzend, zum Treppenhaus.
Im ersten Stock schwärmte die Gruppe von Uwe aus. „Hier Mauersegler“, meldete er sich, „Erste Etage gesichert.“ Erst danach steigen sie zum nächsten Stockwerk hoch.
Hier liefen die Männer von Pitt den Gang leise entlang und begaben sich in Stellung. „Hier Waldkauz. Zweite Etage gesichert“, teilte Pitt ihre Bereitschaft mit. Nach dieser Meldung stiegen die restlichen Männer die Treppen zur nächsten Etage hoch.
Andreas verteilte seinen Jungs an strategisch wichtige Punkte auf dem Flur und meldete ihn dann als gesichert.
Thomas übernahm mit seinen Leuten die vierte Etage. Leise schlich sich die letzte Gruppe unter der Führung von Jens den Gang dieses Stockwerkes entlang und postierten sich vor der Tür des blinden Hotelzimmers.
„Hier Bussard, Wanderfalke, schicke die Gazelle los. Sie sollen in Bereitschaft gehen und das Ziel auf mein Kommando vom Balkon aus stürmen“, meldete sich Jens bei Sebastian.
„Roger, Gazelle ist schon in der Luft.“
Jens und die vier Soldaten seiner Gruppe nahmen ihre Waffen in Anschlag und warteten teils aufgeregt, teils geduldig auf ihren Einsatz.
Als sie die Geräusche des Hubschraubers hörten, sagte er laut: „Hier Bussard, wir stürmen. Ich wiederhole, wir stürmen.“ Kurz darauf trat er mit voller Wucht die Tür auf und die Männer rannten die Wendeltreppe nach oben. Nur Sekunden später hörten sie das Splittern von Fensterscheiben.
Jens wusste, dass dies die vier Soldaten waren, die sich aus dem Hubschrauber an Seilen durch die Balkonfenster direkt in den großen Raum des Penthouse hineinkatapultiert hatten.
Doch durch das laute Hubschraubergeräusch und das splitternde Glas wurden die Terroristen auf den unterschiedlichen Etagen gewarnt. Sie stürmten aus ihren Zimmern und aus allen Stockwerken waren Schusswechsel und von den Terroristen gebrüllte Befehle zu hören.
Oberstleutnant Kebier sicherte sofort mit seinen Leuten auch das Foyer. Nach einem kurzen Schusswechsel mit einem der Angestellten, der sich als Anhänger der Terrorgruppe entpuppte, konnte dieser schnell festgenommen werden. „Kebier hier. Foyer sicher“, meldete er an die anderen Gruppen und Sebastian weiter.
Vor dem Hotel begannen Marines, das Gebiet weiträumig abzuriegeln. Dabei gerieten sie unter Beschuss von einzelnen Männern, die sich in der näheren Umgebung aufhielten und, wie es schien, ebenfalls zur Terrorgruppe gehörten. Damit hatten die Freunde bei der Planung der Operation schon gerechnet, denn eine zweite Reihe von Marines drang zum abgesperrten Gebiet vor, nahm die Männer in die Zange und überwältigten sie. Wenig später konnten sie den Vorplatz als clean melden.
Jens hatte mit seinem Trupp den größten Raum im Penthouse erreicht. Nach kurzer Warnung für seine Leute zündete er eine der Blendgranaten und warf sie in den großen Raum.
Mit einer Verzögerung von anderthalb Sekunden gab es eine ohrenbetäubende Explosion, gefolgt von einem grellen Lichtblitz. Seine Leute hatten sich zu der Zeit abgewandt, die Augen geschlossen, den Mund offen und die Ohren zugehalten. So konnten sie kurz danach die drei Leibwächter ausmachen, die unter dem Schock des lauten Knalls und vom Blitz geblendet, desorientiert da standen und weiter vorstürmen. Trotzdem schossen diese Kerle wild um sich.
„Wanderfalke, wo ist Steinberg?“, schrie Jens laut in sein Mikro, als er den Mann nirgends im Raum entdecken konnte.
„Im Zimmer von dir aus gesehen hinten links. Beeilt euch, er hat sich die Gasmaske übergestreift und öffnet gerade einen Schrank“, gab Sebastian zurück.
„Ich komm’ da nicht durch, die Idioten hier feuern aus allen Rohren“, schrie Jens.
„Ihr müsst aber, der holt eine Konsole vor“, beschrieb Sebastian kurz, was er auf seinem Monitor sah.
Als das die Freunde hörten, gaben sie ihren Truppen das Zeichen, sie mit Sperrfeuer zu decken. Als sich die Gegner in Sicherheit vor den heran peitschenden Kugeln brachten, liefen sie, so geschützt, zum Treppenabsatz und rannten so schnell sie konnten in den vierten Stock und von da aus durch das Zimmer die Wendeltreppe hoch zum Penthouse.
Thomas ging aus seiner Deckung heraus in Anschlag, atmete langsam ein und wieder aus, um seinen Pulsschlag zu beruhigen, legte an und zielte. Nacheinander setzte er die Leibwächter außer Gefecht, ohne sie zu töten.
Zügig stürmten die Freunde danach den hinteren Raum. Durch konzentrierten Beschuss drängten sie Steinberg von der Konsole ab, um zu verhindern, dass er darauf irgendeinen der Knöpfe drücken konnte.
Sie beobachteten, wie er die dünne Kette vom Hals riss und grinsend, in ein gläsernes Gefäß versenkte, aus dem sofort Qualm aufstieg und einen stechenden, die Augen und Schleimhäute reizenden Gestank freisetzte.
„Das Arschloch hat die Schlüssel in Säure geschmissen. Die müssen ihm mehr wert sein als sein Leben“, stellte Uwe etwas außer Atem fest.
Dann eröffnete der dicke Mann das Feuer aus einer Waffe, die er in atemraubender Geschwindigkeit, die ihm keiner zugetraut hatte, unter dem Tisch hervorgezogen hatte.
„Scheiße, der hat eine MP7“, meldete sich Pitt an der Schulter getroffen und hielt sich kurz darauf die andere Hand an seine linke Bauchseite.
Diese Waffe war bekannt dafür, dass sie eine solche Durchschlagskraft besaß, dass sie mit Leichtigkeit eine schusssichere Weste sogar noch aus hundert Metern Entfernung durchdringen konnte.
„Hey, du Fettsack“, schrie Jens laut und wütend. „Hast du schon mal auf deine Brust geschaut?“ Während er weiterhin wild und ohne Ziel um sich schoss, sah Manfred Steinberg an seinem Körper herunter und entdeckte fünf rote Lichtpunkte, die auf seiner Brust tanzten.
„Gib mir nur einen winzig kleinen Grund und wir machen ein Sieb aus dir“, sagte Thomas laut, aber vollkommen ruhig.
Der dicke Mann hatte ein hochrotes Gesicht und grinste die Männer teuflisch an. Wieder schoss er in kurzen Feuerstößen in Richtung der Männer und stürzte sich nach vorn.
Sofort eröffneten sie das Feuer auf ihn. Trotzdem erreichte er die Konsole noch und konnte mit letzter Kraft einen der Knöpfe drücken. „Achtung, Gas!“, schrie Andreas als erster die Warnung in sein Headset. Alle Soldaten, die es hörten, stülpten sofort ihre Masken über und drängten die Angreifer auf den einzelnen Etagen während heftiger Schusswechsel weiter zurück.
Einige von den Marines begannen, die anderen Zimmer, in denen sich unschuldige Touristen ängstlich zurückgezogen hatten, zu räumen. Sie schützten die Leute mit ihren eigenen Körpern. Einige der Soldaten wurden dabei verwundet. Trotzdem brachten sie die Frauen, Männer und Kinder in Sicherheit.
Von Sebastian in der Einsatzzentrale koordiniert fuhren die ersten Krankenwagen vor dem Hotel vor und nahmen die Menschen auf.
Die Soldaten rannten wieder ins Hotel zurück, um ihre Kameraden weiterhin zu unterstützen so gut sie konnten.
Zum Glück schien kein Gas aus den Versorgungsschächten zu strömen.
„Hier Wanderfalke an alle“, meldete sich Sebastian. „Ich glaube, er hat die Kellerräume mit den Waffen sprengen wollen. Doch solange wir nicht sicher sind, lasst die Masken auf.“
„Steinberg ist tot“, stellte Uwe trocken fest. Dann gab er den vier Elitesoldaten aus dem Hubschrauber das Zeichen, sich um die drei Gorillas zu kümmern, die sich vor Schmerzen krümmend auf dem Boden der großen Suite im Penthouse lagen. So schnell wie möglich liefen die fünf deutschen Offiziere nach unten in die einzelnen Etagen, in denen ihre Leute noch immer unter ständigem Beschuss standen, um sie zu unterstützen.
Oberstleutnant Kebier reagierte ebenfalls auf die unverhofft starke Gegenwehr auf den einzelnen Etagen und brachte auf seinen Befehl drei weitere Hubschrauber vom Typ Gazelle in die Luft. Die Besatzungen sollten sich abseilen und die von den Freunden genannten Hotelzimmer von der Luft aus über die Balkons stürmen und so die bewaffneten Gruppen von hinten angreifen.
Nach langen fünfundsechzig Minuten trat Ruhe auf den Gängen des Hotels ein. Nur vereinzelt war noch ein Schuss zu hören, bis es ganz still wurde.
Erschöpft ließen sich die Freunde und ihre Mannschaften zu Boden sinken.
„Hier Bussard“, erklang die schwache Stimme von Jens auf Arabisch, „Ich danke für den großartigen Einsatz jedes Einzelnen von euch. Ich bin sehr stolz, an eurer Seite diesen Kampf zu einem guten Ende gebracht zu haben.“ Dann erstarb seine Stimme. Selbst auf das Rufen seiner Freunde reagierte er nicht mehr.
„Doc!“, schrie Andreas in sein Mikrofon. „Komm schnell. Jens ist in der vierten Etage. Wenn der so quatsch, stimmt was nicht mit ihm. Nimm den Fahrstuhl. Wir halten ihn für dich frei. Beeile dich.“ Sofort machten sich die Männer über die Treppe, um den Fahrstuhl für den Arzt nicht zu blockieren, auf den Weg zu ihrem Vorgesetzten und Freund.
Andreas und Thomas erreichten zuerst den vierten Stock und sahen Jens schon von weitem, umringt von seiner Gruppe ägyptischer Marines, liegen. Sie hatten schon die Fixierung seines Arms von der Einsatzweste gelöst und ihm die Weste vorsichtig ausgezogen. Rasch machten sie dann für die deutschen Freunde Platz, die sich sofort neben Jens auf die Knie fallen ließen, ihn abtasteten, untersuchten und die ersten Hilfsmaßnahmen einleiteten. Sie zogen ihre Taschengurte ab und begannen, ohne ein Wort zu verlieren, ihrem Vorgesetzten und engen Freund professionell zu helfen.
„Ich bin schuld“, stammelte ein junger Soldat betroffen. „Er hat sich vor mich geworfen, weil ich meine Deckung vernachlässigt hatte. Er hat für mich den Schuss abgefangen.“
„Quatsch!“, reagierte Andreas schroff. Dann aber beherrschte er sich, denn dieser Soldat war blutjung, noch ein halbes Kind. Er schätzte ihn auf gerade mal Anfang achtzehn. Er wurde wieder ruhig, als er auf Arabisch weitersprach: „Das hättest du auch für ihn getan, wenn die Situation andersherum gewesen wäre. Werfe dir das nicht vor. Das nächste Mal machst du es besser. Aber geh Doktor Mechier entgegen und führe ihn hier her. Es zählt jede Minute.“
Als er sah, dass sich der junge Mann auf den Weg machte, nickte er zufrieden und kümmerte er sich weiter mit seinen Freunden um Jens.
Sie verpassten ihm die Injektionen aus ihren Notpacks. So verengten sie seine Blutgefäße um seine Wunde und verhinderten, dass er zu viel Blut verlor. Sie verpassten ihm einen Druckverband und übernahmen abwechselnd die Beatmung und Herzdruckmassage, bis endlich Doktor Mechier nach nur wenigen Minuten mit seinem Team eintraf und sie Jens übernahmen.
Als Pitt sah, dass Jens versorgt wurde, ging ihm seine letzte verbleibende Kraft aus und er sackte, ohnmächtig geworden, an der Flurwand zusammen. Sofort kümmerten sich Uwe und Thomas um ihn, bis Rettungssanitäter Pitt übernehmen konnten. Andreas selbst hatte sich während des Einsatzes schon zwei Injektionen gesetzt und die drei letzten an ägyptische Kameraden weitergegeben. Er hatte keine mehr übrig, also verbiss er sich den Schmerz im linken Oberschenkel und half dabei, die Verwundeten nach unten zu bringen.
Kaum einer vom Hoteleinsatzteam war unverletzt geblieben. Die Männer um Generalstabsarzt Professor Doktor Abdul Mechier hatten alle Hände voll zu tun. Dabei entzog sich Andreas wieder jeglicher Hilfe, bis er sicher war, dass alle anderen versorgt wurden. Er war sehr froh darüber zu erfahren, dass keiner der unschuldigen Gäste des Hotels verletzt wurde.
Er koordinierte noch mit, dass diese Menschen in anderen Hotels untergebracht wurden. Dann erkundigte er sich nach den Verletzungen der ägyptischen Soldaten und seiner Freunde. Er hinterfragte den Gesundheitszustand und die Behandlung jedes Einzelnen bei Abdul. Erst danach begab er sich selbst in die Hände eines der Ärzte und schlief vor Erschöpfung ein, noch bevor er in den Operationssaal geschoben wurde und da seine Narkose erhielt.
Als er wieder erwachte, schaute er in das besorgte Gesicht von Anne, als nächstes erkannte er die Gesichter von Sebastian und Kim.
„Wie geht es den anderen?“, war das Erste, was Andreas fragte.
„Wir brauchen keinen der Umschläge öffnen, wenn du das meinst“, sagte Sebastian lächelnd und drückte dabei fest die Hand seines Freundes.
„Das ist sehr gut. Und was ist mit unseren ägyptischen Jungs?“
„Die konnten alle bereits das Lazarett verlassen, nur du, Pitt und Jens drücken sich hier noch rum“, antwortete Sebastian ehrlich und grinste dabei. „Sogar Uwe und Thomas haben sich schon wieder aufgerappelt.“
„Ist das Hotel noch abgesperrt?“, wollte Andreas wissen.
„Das hat mich Jens auch schon gefragt, kaum dass er aus der Narkose aufgewacht war“, gab Sebastian zu. „Na klar. Schließlich wollen wir ja noch die Schlösser zu den beiden Schlüsseln finden. Der Inhalt schien dem fetten Kerl ja sehr wichtig zu sein, da er die Schlüssel vor euren Augen in Säure versenkt hatte, als ihr die Etage gestürmt habt. Nur gut, dass Mustafa uns davon Duplikate anfertigen konnte. Anne hat Uwe und Thomas in eurem Haus untergebracht, ich hoffe, du hast nichts dagegen.“
Andreas sah seine Freundin liebevoll an und sagte: „Nein, ganz im Gegenteil“, antwortete er, dabei zog er Annes Kopf sanft an sein Gesicht und küsste sie. „Wenn Abdul Pitt und Jens wieder rauslässt, werden sie auch bei uns willkommen sein. Platz haben wir ja mehr als genug.“
„Oh, die beiden sind schon am lauten Schreien, dass sie auch woanders rumsitzen könnten und das nicht unbedingt im Lazarett machen müssten. Der Doc ist kurz vorm Nervenzusammenbruch deshalb“, erklärte Sebastian und grinste Andreas an. „Er meint, sie seien fast noch schlimmer als du.“
„Wie geht es deinem Bein, Schatz?“, fragte Andreas leise, nicht auf das von Sebastian eben Gesagte eingehend.
„Gut“, antwortete Anne nur kurz, „Ich glaube sogar besser als deinem Bein.“ Und wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen. Andreas gab seinem Freund und Kim ein unauffälliges Zeichen, woraufhin sie den Raum schweigend verließen.
Als sich die Tür hinter Sebastian und Kim geschlossen hatte, richtete sich Andreas auf, half Anne aus dem Rollstuhl und zog sie zu sich aufs Bett. Er nahm sie fest in seine Arme und küsste ihr die Tränen von den Wangen. „Schatz, nicht weinen. Du bist eine tapfere Frau und ich bin sehr stolz auf dich. Ich bin doch wieder da, so wie ich es dir versprochen habe“, versuchte er sie zu beruhigen. „Ich möchte, dass du deine Eltern zu uns einlädst und wir unsere Hochzeit gemeinsam mit ihnen und unseren Freunden feiern können. So richtig nach ägyptischem Brauch. Ich habe schon den Doc gefragt, wie das geht. Er wird uns dabei gern behilflich sein. Was meinst du dazu?“, flüsterte er ihr leise ins Ohr. Anne erhob sich leicht, um ihren Freund in die blauen Augen sehen zu können. Dabei füllten sich ihre Augen mit weiten Tränen. Doch dieses Mal waren es Tränen der Freude, und sie nickte ihm zu.
„Aber erst, wenn wir wieder auf eigenen Beinen stehen können und unsere Freunde alle wieder auf dem Damm sind“, sagte sie. „Ich möchte sie alle gern als Trauzeugen.“ Nun war Andreas gerührt.
„Ja Spatz, so lange kann ich gerade noch warten, aber keine Sekunde länger. Gib deinen Eltern trotzdem schon Bescheid. Sie können ja erst mal auf Urlaub zu uns kommen und hier bleiben, solange sie möchten. Ich freue mich sehr darauf, sie endlich kennenzulernen. Ich hoffe nur, dass sie mich nicht als Schwiegersohn ablehnen“, flüsterte er etwas unsicher.
Dafür bekam er von Anne einen leichten Klaps. „Nein, sie werden dich lieben, weil ich dich liebe, Andy. Ich habe ihnen schon so viel von dir geschrieben, dass sie bereits ganz gespannt auf dich sind. Zumal du ja Vati so viel Arbeit verschafft hast.“
„Oh, oh. Ich hoffe nur, er ist nicht sauer deshalb.“
„Nein, im Gegenteil. Sie möchten endlich den Mann kennenlernen, der ihrer Tochter das Leben gerettet hat“, erklärte Anne.
„Sind das nicht etwas zu viele Lorbeeren, die ich so nicht verdiene, Schatz?“
„Doch, du verdienst jedes einzelne Blatt von dem ganzen großen Kranz“, gab sie zu, „Aber einige davon habe ich auch Sebi, Kim und deinen Freunden abgegeben.“ Damit war er einverstanden und zufrieden. Er entschuldigte sich bei ihr für seine Schwäche, legte sich wenig später erschöpft in die Kissen seines Krankenbettes zurück und schlief erneut ein. Als Doktor Mechier nach seinem unbequemen Patienten schaute, sah er, dass Anne neben Andreas im Bett lag und beide schliefen. Sofort veranlasste er, dass ein zweites Bett ins Zimmer geschoben wurde. Sacht bettete er Anne mithilfe von zwei Sanitätern darauf um, ohne dass sie dabei wach wurde. Leise verließen sie dann das Zimmer wieder. Es war für alle eine lange Nacht gewesen und sie schliefen den halben Tag durch.
71
Wieder erholt, nach ein paar Stunden Schlaf, hielt es die Männer nicht mehr in den Betten. Es gab noch einiges zu tun. Selbst Jens mit seiner Verletzung, Pitt und Andreas bestanden darauf, zurück ins Hotel ins Penthouse des Hotels gebracht zu werden. Sie wollte die Räume durchsuchen, um die Schlösser zu finden, die zu den Schlüsseln passten, die Steinberg so wichtig waren. In der Zwischenzeit sollten sich die Marines den unteren Keller vornehmen, den die Freunde schon im Vorfeld so gesichert hatten, dass die Männer nicht versehentlich in versteckte Sprengfallen laufen konnten.Doktor Abdul Mechier hatte streng darauf bestanden, dass Jens, Uwe und Andreas nur im Rollstuhl aus dem Lazarett durften.
Begleitet von Marines fuhren die sechs mit dem Fahrstuhl in den fünften Stock, wo es noch immer nach dem beißenden Rauch der Blendgranaten und Kordit vom Abfeuern der Waffen während der Schusswechsel roch.
Überall waren die Spuren des Kampfes deutlich zu sehen.
Die Soldaten räumten, umgekippte Möbelstücke aus dem Weg, damit die Männer in den Rollstühlen freie Bahn hatten.
Zentimeter für Zentimeter suchten sie akribisch jede Wand des Penthouse ab.
„Jungs, ich glaube, hier ist was“, meldete sich Thomas, während er eine mit Holz verkleidete Wand im Schlafzimmer mit den Fingerspitzen abtastete.
„Na wo denn?“, drängelte Jens, als er mit den anderen in den Raum kam.
Thomas drückte mit dem Daumen einen vermeintlichen Nagelkopf, der etwas aus der Holzwand ragte, und sagte dabei: „Sesam, öffne dich.“
Holzplatten glitten wie durch Geisterhand zur Seite und legten den Zugang zu einem großen Tresor mit zwei unterschiedlichen Schlössern frei.
„Ich hoffe, es ist nicht die Büchse der Pandora“, meinte Sebastian ehrfürchtig und reichte Uwe die, vom Goldschmied Mustafa nachgefertigten, Schlüssel.
Thomas und Uwe steckten die Schlüssel zeitgleich in die Schlösser und drehten sie. Das Klicken der Verriegelungen war zu hören. Nur langsam und vorsichtig öffneten sie die dicke Stahltür.
„Scheiße!“, brüllte Pitt sofort auf. „Los, alle raus, die hier nichts zu suchen haben! Der Tresor ist zusätzlich mit Zeitzünder und Zahlencode gesichert! In fünf Minuten fliegt uns hier alles um die Ohren! Evakuiert alle und sichert sofort die Umgebung weiträumig!“
Die ägyptischen Marinesoldaten reagierten sekundenschnell. Sie liefen nach unten und halfen mit, die Menschen aus der Gefahrenzone zu bringen.
Pitt rollte in seinem Stuhl direkt vor den Tresor und versuchte aufzustehen. Als seine Freunde bemerkten, dass er es aufgrund seiner Verletzungen nicht allein schaffte, stützten sie ihn. „Danke, Jungs“, sagte er. „Aber jetzt verschwindet hier. Das ist mein Job.“
„Das kannst du vergessen. Wir bleiben. Kannst ja kaum gerade stehen und das musst du hier aber wohl“, gab Andreas zurück, der auf einem Bein stehend seine linke Seite stützte.
„Sehe ich genau so“, kam von Thomas, der ihn rechts hielt.
Sebastian grinste ihn von der Seite an. „Außerdem hast du, dank der Verbandstechnik vom Doc, nur eine Hand zur Verfügung und brauchst hier doch mindestens drei. Und du bist ein schwerer Klotz, sodass Andy und Tommy auch mal abgelöst werden müssen, dich zu halten.“ Auch Uwe meldete sich zu bleiben, und Jens rollte mit seinem Stuhl von hinten heran und zwang Pitt, erhöht durch mehrere dicke Kissen, sich auf seine Beine zu setzen.
„Wir waren und sind ein Team, und das werden wir auch immer bleiben“, sagte Jens, als Pitt sich vorsichtig auf seinem Schoß niederließ.
Ohne weitere Worte zu verlieren, zog Pitt sein Werkzeug aus der Gürteltasche und gab die ersten Anweisungen.
Seine Freunde schraubten vorsichtig die Schalttafel ab und stützten ihn dann wieder, damit er sicher davor stehen konnte, um sich ein Bild vom Zündmechanismus machen zu können. Dabei begann er leise vor sich hin zu pfeifen und betrachtete die Schaltkreise in aller Ruhe, ohne auf die rückwärts laufende Digitalanzeige zu achten, die aber die anderen sehr wohl im Blick behielten.
Er ließ sich von Thomas nacheinander einige Werkzeuge reichen, der dann mit Andreas den Platz tauschen musste, damit Andreas ihm helfen konnte. Gemeinsam mit ihm überbrückte er Stromkreise und schaltete andere kurz. Dann musste er sich aber weiß wie eine Wand geworden hinsetzen und bekam ohne Vorwarnung von Andreas eine Ballonspritze in den Oberschenkel gejagt, die er eigentlich vorsichtshalber für sich eingepackt hatte.
„Blödmann, hättest mich wirklich warnen können“, maulte Pitt.
„Am Ergebnis hätte das auch nichts geändert. Oder? Nun hab dich nicht so mädchenhaft, sondern mach weiter. Ich habe vor zu heiraten und werde es mir nicht von dir vermasseln lassen“, gab Andreas zurück. „Nur wenn wir alle dazu eingeladen sind“, konterte Pitt, unterbrach einfach seine Arbeit und alle grinsten Andreas herausfordernd an. „Glaubt ihr wirklich, dass ich solche voll idiotische Chaoten wie euch bei meiner Hochzeit dabeihaben will? Ich müsse doch bescheuert und mit nem Klammersack gepudert sein, um auch nur daran zu denken“, gab Andreas trocken zurück.
Woran die Freunde nicht gedacht hatten: Ihre Headsets waren offen geschaltet und alle noch im Einsatz befindlichen Soldaten vor dem Hotel hörten das Gespräch der Männer mit, weil sie ihre Geräte bei den Evakuierungs- und Absperrarbeiten nutzten. Diejenigen von ihnen, die Deutsch verstanden, übersetzten es schnell ins Ägyptische, damit alle wussten, worüber die Männer sprachen.
Die Sekunden verstrichen, ohne dass etwas geschah. Dann hörten sie die Freunde kurz auflachen.
„Jungs, ihr habt mir gerade einen mörderischen Schrecken eingejagt. Macht so etwas nie wieder mit einem alten Mann wie mir. Ich dachte schon, ihr verkracht euch gerade wegen der Hochzeit“, meldete sich Doktor Mechier. Das brachte die Sechs noch mehr zum Lachen.
Doch dann wurden sie wieder ernst und konzentrierten sich auf ihre Arbeit an der Zündvorrichtung.
Wieder begann Pitt vor sich hin zu pfeifen. Während ihn seine Freunde hielten, überbrückte er mit ruhiger Hand und Andreas Hilfe weitere Kontakte. Doch die digitale Anzeige zählte weiter rückwärts.
„Du hast jetzt nur noch sechzig Sekunden“, informierte Jens leise um Ruhe bemüht.
Pitt nickte wie geistesabwesend und pfiff weiter die Melodie von den Puhdys >Alt wie ein Baum möchte ich werden<. Immer wieder unterbrach er die Melodie und ließ sich von Andreas anderes Werkzeug reichen, um dann die Melodie genau da weiter zu pfeifen, wo er sie kurz unterbrochen hatte.
„Noch sechzehn Sekunden, Pitt“, sagte Jens, der die digitale Uhr im Auge behielt.
Wieder nickte Pitt kurz. „Das ist noch viel Zeit bis zur Ewigkeit, Jens“, murmelte er leise, voll konzentriert.
Seine Freunde begannen jetzt alle die roten Ziffern der Uhr gespannt zu beobachten, wo die Zeile mit lauter Nullen immer näher rückte.
Als die digitale Uhr nur noch Nullen anzeigte, kniffen sie, auf den großen Knall gefasst, die Augen zusammen. Doch es war nur das leise Klicken eines Relais zu hören. Kurz darauf war in der gespannten Stille das laute Lachen von Pitt zu hören, der die verkniffenen Gesichter seiner Freunde betrachtete. „Glaubt ihr wirklich, ich will mit euch Vollpfosten zum Mond fliegen oder auf ner Wolke Harfe spielen? Da könnte ich mir aber wirklich romantischere Gesellschaft vorstellen. Außerdem will ich auf einer Hochzeit tanzen, zu der ich, so wie ich das vorhin verstanden habe, eingeladen wurde. Kommt wieder zu euch, wir haben den Tresor geknackt“, sagte er noch immer lachend.
„Blöder Hund“, schimpfte Jens grimmig, als sich Pitt erschöpft auf seinen Schoß zurücksetzte. „Hättest wirklich was sagen können. Ich habe mir hier gerade fast in die Hose gemacht und noch mal meine Jugendsünden durch den Kopf gehen lassen. Und ich kann dir sagen, die waren nicht von Pappe.“
„Gut, dann hatte die ganze Sache gerade auch was Erzieherisches für dich“, gab Pitt grinsend zurück. „Jungs, nun öffnet aber endlich die Tür, ich will wissen, wofür wir hier so geschwitzt haben.“
Vorsichtig, auf weitere Fallen gefasst, öffneten Uwe und Thomas die zweite Tür des Tresors.
Sie fanden darin mehrere tausend US-Dollar und eine dicke, prall gefüllte schwarze Mappe, die sie wesentlich mehr interessierte. „Nehmt mir den Kerl endlich vom Schoß, ehe noch einer denkt, wir hätten was zusammen“, meinte Jens und verzog dabei sein Gesicht vor Schmerzen.
„Wieso? Ihr gebt doch ein reizendes Paar ab“, scherzte Sebastian. Dann halfen er und Uwe, Pitt zurück in seinen Rollstuhl.
„Hier, Bussard“, meldete sich Jens per Funk. „Ich gebe Entwarnung für das Penthouse. Ich wiederhole, ich gebe Entwarnung, die Sicherheitssperren können aufgehoben werden.“
Sebastian wiederholte es noch einmal auf Arabisch, da Jens es gewohnheitsmäßig nur auf Deutsch durchgegeben hatte.
Sie hörten das Jubeln der anderen in ihren Kopfhörern und lächelten sich zufrieden an. Dann setzten sie sich zusammen in die Sitzecke und öffneten gespannt die dicke, schwarze Mappe, die sie aus dem Tresor entnommen hatten.
Schon nach wenigen Sekunden wussten sie, was sie da in den Händen hielten. Das mussten sie erst einmal sacken lassen. Doch dann schrien sie vor Begeisterung lauthals los und lachten. Wieder hörten es alle mit und Abdul fragte, ob etwas passiert sei.
„Nein, Doc“, beruhigte ihn Andreas. „Vielleicht halten wir hier aber gerade den Kopf der Hydra in der Hand.“
Diese Mappe enthielt, säuberlich aufgelistet, alphabetisch geordnet, die Namen, Adressen, Telefonnummern und Kontaktcodes von einigen kriminellen Vereinigungen, Terrorgruppen und Einzelpersonen.
Sogar Fotos von Kontaktleuten und Kurieren waren dabei.
Der Inhalt dieser Mappe würde die Arbeit der Ermittler und Eingreiftruppen um vieles erleichtern. Auch Pläne für geplante Angriffsziele einzelner Terrorgruppierungen befanden sich in dieser Mappe. Ihr Einsatz hatte sich damit wirklich gelohnt.
Die Freunde lagen sich noch immer in den Armen, als Hasan, Kasim und andere Marinesoldaten zu ihnen ins Penthouse kamen.
Für sie waren diese sechs Männer, wegen ihrer ganzen Art und wie sie sich gegenüber Rangniederen verhielten, zum Vorbild geworden.
Als sie sie so ausgelassen lachend sahen, freuten sie sich mit ihnen. Und um vieles mehr, als sie begriffen, warum die sechs Deutschen so euphorisch waren.
Auch die Marinesoldaten, die die Gegend gesichert hatten, wurden über den Fund informiert und klatschten Beifall, als die sechs Männer das Foyer des Hotels verließen.
Schnell wurden sie in die bereitstehenden Krankenwagen verladen und zum Palast gebracht, wo Abdul sich weiterhin persönlich um sie kümmern wollte.
Oberstleutnant Kebier räumte mit seiner Einsatzgruppe noch das Waffenlager aus dem zweiten Kellergeschoss aus und stellte alles sicher.
Als er sich am Abend mit seinen Freunden bei Anne und Andreas traf, berichtete er davon, was er dort alles vorgefunden hatte. Nach einer Weile zog Doktor Mechier Andreas mit seinem Rollstuhl aus der Gesprächsrunde heraus und schob ihn, seine Proteste und Fragen nicht beachtend, auf die Terrasse. Dort ließ er ihn einfach stehen. Er schloss die große Glastür hinter sich, zog den Vorhang zu und ging zurück zu den anderen.
Verwirrt sah sich Andreas auf der Terrasse um.
Ein Spalier aus Kerzen und Fackeln führte von ihm aus, am großen Pool vorbei bis ganz nach vorn zur Steinpalisade, wo er einen mit weißem Stoff bespannten Pavillon entdeckte, der vorher nicht dort gestanden hatte. Er löste die Bremse seines Rollstuhls, die Abdul zuvor angezogen hatte, und rollte neugierig geworden das Spalier aus vielen hundert kleinen, flackernden Flammen entlang. Dabei entdeckte er auf den Weg gestreute Blütenblätter und lächelte versonnen. Als er den Pavillon erreichte, bemerkte er, dass er nur zur Meerseite offen war.
Neugierig geworden rollte er zu dieser Seite und lunchte erst einmal nur vorsichtig um die Ecke. Ihm blieb vor Staunen der Mund offen stehen.
Der Innenraum war mit Fellen ausgelegt. Kissen waren zu einer großen gemütlichen Sitzecke zusammengestellt, ein niedriger Tisch, mit leckeren Speisen und Getränken darauf, stand davor und eine schon angezündete Shisha, die ihren Duft nach Vanille im Zelt verströmte, war zu sehen. Überall lagen Blüten auf dem Boden und auf dem Tisch. Die Kerzenflammen von zwei silbern glitzernden Kandelabern spendeten angenehm weiches und warmes Licht.
Auf einem der Kissen entdeckte Andreas einen kleinen Zettel.
Er musste aus dem Rollstuhl steigen, um in das Zelt und an den Zettel zu gelangen. Er nahm seine Krücke, die an der Seite des Rollstuhls steckte, stützte sich auf und erhob sich. Dann hinkte er auf die Gehhilfe gestützt in den Pavillon. Mit etwas Mühe ließ er sich auf einem der weichen Kissen nieder, nahm den Zettel in die Hand und las:
„Das ist ein Geschenk von mir. Mache es dir bequem. Lasse dich überraschen und genieße den Abend und die Nacht.
Abdul“
Noch ein paar Mal las Andreas die Zeilen und fragte sich, was das sollte und was sein Freund damit bezweckte. „Lieb gemeint, Doc. Aber was soll ich hier allein“, sagte er und wollte sich gerade wieder an seinem Stock hochziehen, als er ein noch etwas entferntes Geräusch hörte, leise Schritte, die langsam näher kam.
Angespannt lauschte er. Dann tauchte Anne auf Krücken gestützt in einem wunderschönen, langen Abendkleid vor dem offenen Teil des Pavillons auf. Seine Augen begannen zu leuchten, als er seine Freundin so stehen sah.
In ihrem offenen, blonden Haar steckte eine große, rote Hibiskusblüte. Der leichte Wind spielte mit ihrem langen Haar, und die vielen Kerzen ließen es golden glänzen. Rasch zog er sich hoch und ging auf sie zu. Er nahm sie sacht in seine Arme, strich ihr liebevoll eine Haarsträhne aus dem Gesicht und küsste sie heiß.
„Abdul hat das Kleid besorgt und wollte, dass ich es gleich anprobiere, dann steckte er mir die Blume ins Haar, führte mich auf die Terrasse und ließ mich da einfach stehen“, erzählte sie leise.
„So ähnlich hat er es mit mir auch gemacht. Nur dass ich nicht ein solch schickes Kleid bekommen habe“, erklärte Andreas und sah sie dabei immer wieder begeistert an. „Du bist wunderschön. Siehst aus wie eine Prinzessin.“ Er führte sie ins Zelt und half ihr beim Hinsetzen. Sofort sorgte er dafür, dass ihr verletztes Bein weich und bequem lag. Er zeigte ihr den Zettel von Abdul. Dann küsste er sie erneut. „Eine schönere Überraschung konnte er mir wirklich nicht bereiten“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Du bist das schönste Geschenk.“ Er reichte ihr ein Glas mit Rotwein. Gerade als sie miteinander anstießen, gab es einen lauten Knall, der beide erschrecken ließ.
Raketen schossen vor ihren Augen in die Höhe, und es regnete tausend bunte Lichtpunkte vom Himmel aufs Meer, wo sie sich zusätzlich auf der Wasseroberfläche spiegelten. Goldene und silberne Funken sprühende Fontänen aus Licht schossen zu den Sternen empor.
Voller Staunen betrachtete sie das Feuerwerk, welches bestimmt weit hinzusehen war. Sie lehnte sich an seine Schulter, und er legte sanft seinen Arm um sie. Wieder im Pavillon ließen sie sich in die weichen Kissen der Lehne zurückfallen. Sie genossen das Spiel aus Licht und tranken dazu den Wein. Nachdem die letzte Rakete zum Himmel geschossen war und mit lautem Knall seine roten Lichtpunkte verstreut hatte, zog wieder Ruhe ein. Nur noch das Rauschen des Meeres war zu hören.
Anne schaute ihm tief in die leuchtenden, blauen Augen und strich über sein schwarzes, zum kurzen Zopf gebundenes Haar. „Ich liebe dich, Andreas Wildner“, flüsterte sie leise. „Ich fühle mich bei dir sicher und geborgen. Ich möchte nie mehr ohne dich sein.“ Dabei füllten sich ihre Augen mit Tränen.
Ganz fest nahm er sie, überglücklich ihn seine Arme und drückte sie an sich. „Ich lasse dich nie wieder los, Kleines“, sagte er ebenso leise. „Du bist mein Leben. Ich möchte dich nie mehr missen.“
Lange saßen sie so und genossen die Nähe zueinander. Der Tabak der Shisha war längst verglimmt, doch der Duft des Rauches lag noch in der Luft und vermischte sich mit dem betörenden Geruch der vielen Blüten, als sie begannen, von den Speisen und dem Obst zu kosten. Anne schob Andreas eine große Scheibe der aufgeschnittenen Wassermelone auf den Teller und reichte sie ihm lächelnd. Er ließ sie zuerst davon abbeißen. Die Melone war so reif und saftig, dass ihr etwas von dem süßen Saft aus den Mundwinkeln tropfte. Beide mussten darüber lachen. Doch noch ehe sie mit einer Serviette ihren Mund abtupfen konnte, küsste er sie wieder heiß, dass ihr die Sinne schwanden, dabei spürte sie seine sanften Berührungen am ganzen Körper. Sacht bettete er sie auf die Kissen und achtete darauf, dass ihr verletztes Bein bequem lag. Er deckte sie mit der Decke, die sie von den Beduinen geschenkt bekommen hatten, zu und legte sich neben sie. Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter und genoss es, in seinen Armen zu liegen. Als die Kerzen heruntergebrannt waren, schliefen beiden bereits eng umschlungen.
72
Sie wurden von den ersten Strahlen der Sonne geweckt, die aus dem Meer aufstieg.Blinzelnd schauten sie aufs Meer hinaus und entdeckten in der Bucht spielende Delfine. Anne und Andreas halfen einander auf die Beine. Gestützt auf ihre Gehhilfen gingen sie zur Treppe, die nach unten zum Steg führte. Andreas ging voran. Er half und stützte sie bei jeder Stufe. So erreichten sie langsam den Steg und gingen vorbei am festgezurrten Boot bis an sein Ende.
Die Delfine kamen dicht heran und reckten ihre Köpfe aus dem Wasser. Sie erkannten die Tümmlerfamilie sofort wieder und lachten laut auf, als der kleine Delfin übermütig aus dem Wasser sprang und sich dabei sogar in der Luft überschlug.
Am liebsten wären sie zu ihnen ins Wasser gesprungen, um mit ihnen zu schwimmen und zu tauchen. Doch sie wussten, dass dies noch nicht wieder möglich war. Ihre Wunden mussten erst heilen.
So beschränkten sie sich darauf, diese schönen und gewandten Tiere zu beobachten und ihrem Gesang zu lauschen. Dabei bemerkten sie am Verhalten der Delfine, dass sich die anderen ebenfalls auf dem Steg einfanden. Sie drehten sich lächelnd zu ihnen um und wünschten einander einen guten Morgen.
Zusammen standen sie am Ende des hölzernen Stegs und sahen auf das fröhliche Treiben der Delfinschule, die sich immer wieder dem Steg näherten und ihre Köpfe aus dem Wasser reckten, um die Fremden genau zu betrachten.
„Ich glaube, sie überbringen uns gerade eine Einladung“, stellte Andreas fest.
„Wie meinst du das?“, wollte Jens, gestützt von Abdul und Uwe, wissen.
„Sie wollen mit uns allen schwimmen, wenn wir wieder fit sind“, antwortete Anne für Andreas, der sich gerade unter Schmerzen niedergekauert hatte und seine offene Hand über die Wasseroberfläche ausstreckte.
Die Freunde glaubten nicht, was sie da sahen. Einer der Tümmler, der eine große Narbe auf beiden Seiten unweit der Schwanzflosse hatte, löste sich aus der Gruppe, kam auf Andreas zu geschwommen und drückte sanft mit seiner Schnauze gegen die dargebotene Handfläche. „Das ist meine Freundin“, stellte Andreas den Delfin seinen Freunden vor.
Und Anne erklärte, wie es zu dieser Freundschaft gekommen war.
Sie, Abdul, Kim und Sebastian berichteten dann, wie die Delfingruppe Andreas geholfen und welche Ängste sie aber dabei ausgestanden hatten.
Sebastian erzählte, wie die Delfine auch in den Unterwasserkampf eingegriffen und zwei der Taucher mit sich weggezogen hatten, um sie dann aber den Marinetauchern vom Küstenschutzboot zu übergeben. Jens berichtete ihnen, wie die Delfine alle im Hafenbecken waren, als Andreas so schwer verwundet dort im Rumpf des Bootes lag. Uwe, Pitt und Thomas hatten schon davon gehört. Andreas selbst hatte es ihnen auch schon erzählt, nur glaubten sie ihm das nicht so richtig. Doch nun sahen sie es unter einem ganz anderen Licht. Sie schauten voller Bewunderung auf die in der aufgehenden Sonne glänzenden Körper der Tiere, die sich immer wieder aus dem Wasser hoben.
„Du hast gute, starke und verdammt mutige Freunde hier, Andy“, stellte Jens fest. „Ich könnte dich darum beneiden.“
„Das brauchst du nicht“, meinte Andreas, „denn es sind auch eure Freunde, sonst wären sie weggeschwommen, als ihr auf den Steg gekommen seid. Sie merken ganz genau, dass ihr meine Freunde seid.“
Sebastian half Andreas, sich wieder aufzurichten und reichte ihm seine Krücke, als die Delfinlady zu ihrer Gruppe zurückschwamm.
„Kommt, lasst uns frühstücken gehen“, schlug Doktor Mechier vor, „Ich denke, der Tisch wird schon gedeckt sein.“, dann wandte er sich Anne zu. „Oh, deine Eltern haben gestern noch auf deinem Handy angerufen, Anne. Ich habe den Anruf entgegengenommen, aber wollte euch nicht mehr stören.“ Dabei lächelte er verschmitzt. Als die junge Frau ihn fragend ansah, sprach er weiter, „Sie haben sich Sorgen um dich gemacht, weil du dich wohl eine Weile nicht gemeldet hast. Aber ich konnte diese Sorge schnell zerstreuen. Trotzdem wollen sie dich endlich wiedersehen und werden in sechs Tagen hier ankommen. Ich lasse schon die Zimmer für sie herrichten, wenn es euch Recht ist.“
Anne schrie auf vor Freude auf und umarmte den Arzt für diese freudige Botschaft.
„Ja, es ist uns recht, Abdul“, sagte Andreas und nickte ihm dankbar zu. „Ich hoffe nur, sie werfen mich nicht achtkantig raus, weil sie sich einen anderen, besseren Schwiegersohn und Mann für ihre Tochter wünschen“, gab er zu bedenken.
„Das kann ich mir nicht vorstellen, denn sie fragten auch sehr besorgt nach dir“, antwortete Mechier lächelnd, noch immer Anne im Arm haltend. Sich gegenseitig stützend und helfend gingen die Freunde langsam die Treppe wieder nach oben, wo schon die Rollstühle für Anne, Pitt, Jens und Andreas bereitstanden. Andreas verzichtete auf seinen Stuhl und stützte sich lieber auf den von Anne und schob sie über das noch immer da liegende Blütenmeer, entlang des großen Pools bis zum gedeckten Frühstückstisch am anderen Ende der riesigen Terrasse.
Während sie gemeinsam aßen, berichtete Jens, dass sie noch den ganzen Abend und in der halben Nacht die ganze Mappe aus dem Tresor eingescannt und per Mails an alle wichtigen Stellen und Sonderabteilungen der betroffenen Länder und Interpol verschickt hatten.
Nach dem gemeinsamen Frühstück bestand Doktor Mechier darauf, dass seine Freunde mit ihm ins Lazarett kamen, damit er sich mit seinen Kollegen weiter medizinisch um sie kümmern konnte.
Dabei versprach er gleich mit, weil sie ihm ohnehin keine andere Wahl ließen, dass sie nach ihrer Behandlung wieder in den Palast zurückkonnten. Kim und Sebastian verabschiedeten sich von ihnen, weil sie auf ihre Tauchbasis mussten. Wenig später fuhren die Krankenwagen vor, um die Männer, den Arzt und Anne, abzuholen.
Als sie im Lazarett ankamen, bat Andreas seinen Freund Doktor Mechier bei der OP von Anne mit dabei sein zu dürfen. Anne sollten an diesem Tag während eines kleinen Eingriffs die nicht mehr notwendigen Verdrahtungen, die sie nun schon so lang trug, aus ihrem Arm entfernt bekommen. Wobei laut Doktor Mechier die Platten und kleinen Schrauben nicht entfernt werden müssten, solange sie keine Beschwerden machen würden.
„Andy, das ist nicht üblich. Du kannst uns vertrauen, wir achten auf Anne.“
„Ich weiß, Doc. Trotzdem bitte. Ihr werdet sie nicht wieder in Narkose versetzen können, wenn es dem Kind nicht schaden soll. Also lass mich einfach nahe bei ihr sein, das wird sie beruhigen, wenn ich bei ihr bin“, rechtfertigte er seine Bitte.
Kurz überlegte Abdul, dann nickte er ihm zu. „Ihr zwei scheint nicht mehr zu trennen zu sein“, stellte der Arzt gerührt fest. „Gut, dann zieh dich um. Meine Männer helfen dir dabei.“
Ganz in Grün gekleidet und gründlich desinfiziert rollte Andreas in seinem Rollstuhl ans Kopfende des OP-Tisches, auf dem Anne schon lag. Er lächelte ihr zu, strich mit der Hand über ihre Stirn und nickte dann dem Arzt zu, der daraufhin, mit seinen Kollegen, seine Arbeit begann.
Wenn immer es ihm möglich war, schaute Abdul auf und sah in die Gesichter der beiden, die sich die ganze Zeit über anlächelten und er sie liebevoll streichelte. Dabei wurde ihm warm ums Herz. Er war sich sicher, dass er sich richtig entschieden hatte, ihnen sein Anwesen zu überlassen. Er erfreute sich an ihrer Liebe.
Andreas war ihm wie ein Sohn geworden. Der OP-Assistent musste nicht nur den Schweiß von der Stirn des Arztes, sondern auch eine kleine Träne der Freude aus dem Gesicht tupfen, bevor sie den Mundschutz erreichte.
Nach einer halben Stunde konnte die OP-Wunde geschlossen und verbunden werden und wurde vorsichtig umgebettet.
Als Andreas ihr im Rollstuhl folgen wollte, hielt Abdul ihn zurück. „Wie wäre es, wenn ich mir nun auch kurz deinen Oberschenkel ansehen könnte?“, sagte der Arzt fest, keine Widerrede duldend. „Anne läuft dir nicht weg.“
Sehnsüchtig schaute Andreas ihr nach, die im Bett aus dem OP-Saal geschoben wurde. Doch dann setzte er sich mithilfe des Arztes auf die mit einem frischen Laken bedeckte Liege. Er ließ sich den Verband abnehmen und die Wunde versorgen. „Doc, kommt bei Anne wirklich alles wieder in Ordnung?“, fragte er besorgt, als dieser seinen Oberschenkel wieder verband.
„Ja, Andy. Schon bald könnt ihr zwei Verrückte wieder gemeinsam tauchen gehen. Wobei sich Anne dann in ihrem Zustand eher erst einmal zurückhalten sollte. Da muss Schnorcheln reichen“, meinte der Arzt und lächelte dabei den großen Mann an. „Die Delfine werden es spüren, verstehen und danach handeln. Da bin ich mir ganz sicher.“
„Was meinst du? Wann können wir wieder ins Meer?“, wollte Andreas vom Arzt wissen. „Gebt euren Körpern und der Wundheilung wenigstens noch drei Wochen Zeit. In sechs Tagen können wir die Fäden ziehen“, antwortete Abdul.
„Und wie sieht es damit bei meinen Freunden aus? Vor allem bei Jens und Pitt?“, fragte Andreas weiter.
„Ich denke auch, die beiden bekommen wir bis dahin wieder auf die Beine. Warum fragst du?“
„Gut Doc, dann werden wir noch so lange warten und vorsichtshalber noch drei Wochen draufpacken. Wir heiraten also in sechs Wochen, denn ich möchte auch mit den Delfinen unsere Hochzeit feiern“, sagte Andreas.
Skeptisch sah der Arzt seinen Freund an.
„Wie meinst du das?“, wollte er dann wissen. Und Andreas erzählte ihm, wie er sich seine Hochzeit vorstellte.
„Ich wusste, dass du verrückt bist. Aber das wird da wohl die verrückteste Hochzeit, die ich je erlebt habe“, meinte Doktor Mechier und lächelte ihm zu, als er weiter sprach. „Gut, ich bin dabei und werde dir bei den Vorbereitungen dafür helfen. Die nötigen Papiere habe ich schon fast alle zusammen. Doch nun rolle zu Anne, sie liegt auf Zimmer vierundzwanzig. Aber überschreite die Geschwindigkeitsbegrenzung auf dem Flur nicht, die ich extra euretwegen aufstellen lassen musste“, mahnte der Arzt lachend, als Andreas schon mit seinem Rollstuhl losfuhr und kraftvoll mit den Armen Schwung auf die Räder gab, sodass die Arzthelfer gerade schnell genug die Schwingtüren für ihn aufhalten konnten. Kopfschüttelnd, aber lachend sahen sie dem sympathischen Mann nach.
Im Zimmer angekommen, rollte er direkt zu ihr. „Wie fühlst du dich, Kleines?“, fragte Andreas. Als sie ihm lächelnd zunickte, küsste er sie. „Gut, dann werden wir in sechs Wochen heiraten, wenn du nichts dagegen hast“, sagte er euphorisch.
„Nein, habe ich nicht. Ich hoffe nur, meine Eltern können auch so lange bleiben.“
„Das können sie, Spatz. Ich weiß es vom Doc. Sie wollen dich eigentlich damit überraschen, weil sie sich eine Auszeit von acht Wochen genommen haben.“ Und wieder küsste er sie, dabei streichelte er sanft über ihren verbundenen Arm. „Hast du auch wirklich keine Schmerzen?“, fragte er besorgt.
Anne schüttelte den Kopf und lächelte ihn an, als er ihr ein Glas Wasser reichte.
„Wir werden eine tolle Hochzeit haben, das verspreche ich dir.“ Als Anne ihn fragend ansah, lächelte er nur. „Lasse dich überraschen. All unsere Freunde werden dabei sein. Wirklich alle, so sie wollen“, sagte er noch, geheimnisvoll lächelnd.
73
Sechs Tage später standen Anne im Rollstuhl und Andreas hinter ihr, auf den Rollstuhl gestützt, am Flughafen, direkt neben den Grenzsoldaten und Zollangestellten, und warteten geduldig auf ihre Eltern. Die Zollbeamten verbeugten sich ehrfurchtsvoll vor dem Ehepaar, als sie die Namen in ihren Reisepässen lasen. Die Soldaten und Zöllner übernahmen ihr Gepäck und trugen es, die anderen Reisenden einfach warten lassend, zum Wagen, während einer der Zöllner die beiden zu ihrer Tochter und Andreas brachte. Andreas half Anne aus dem Rollstuhl, damit sie ihre Eltern stehend empfangen und in die Arme schließen konnte. Er selbst hielt sich dabei im Hintergrund und genoss den Anblick, wie sie und ihre Eltern sich in den Armen lagen.
Oft genug hatte er sich so etwas auch für sich gewünscht.
Als die Eltern den Mann etwas Abseits bemerkten, sahen sie ihre Tochter nur fragend an. Kurz darauf zog Annes Vater Andreas einfach mit heran und sie begrüßten ihn ebenso herzlich wie ihre Tochter zuvor.
Davon war er vollkommen überrascht und überwältigt. Er hatte nicht mit solcher Warmherzigkeit gerechnet. Er wurde von den beiden aufgenommen wie ein Sohn, und er fühlte sich dabei sofort wohl, obwohl er Annes Eltern das erste Mal begegnete.
Vorsichtig halfen er und Annes Vater ihr in den Rollstuhl zurück. Als die Eltern bemerkten, dass sich Andreas selbst nur unsicher auf den Beinen hielt, überließen sie es ihm, den Rollstuhl ihrer Tochter zu schieben, obwohl sie ihn liebend gern für ihre Tochter geschoben hätten.
Direkt vor dem Ausgang erwartete sie ein Militärfahrzeug der ägyptischen Marine. Die Soldaten, darunter auch Hasan und Kasim halfen Anne und Andreas so wie auch Annes Eltern in das Fahrzeug. Anne stellte ihren Eltern die beiden Freunde vor und erzählte ihnen auf der Fahrt zum Palast, wie sie Andreas und ihr geholfen hatten.
„Mutti, Vati, schließt bitte die Augen“, sagte Anne dann. „Wir möchten euch mit unserem neuen Zuhause etwas überraschen.“ Dabei kontrollierte sie sehr genau, ob sich ihre Eltern auch an ihren Wunsch hielten und lächelte dann Andreas zu.
Auf dem Parkplatz angekommen, standen da schon die anderen bereit und übernahmen den Mann und die Frau, die ihre Augen weiterhin geschlossen hatten.
Abdul half Anne aus dem Wagen und setzte sie in den Rollstuhl. Gemeinsam betraten sie dann den tropischen Garten des Palastes.
„Ihr könnt die Augen wieder aufmachen“, sagte Anne dann fröhlich und hielt dabei die Hand ihrer Mutter, die etwas unsicher wirkte.
Als die Eltern ihre Augen öffneten, befanden sie sich in einem Paradiesgarten und konnten es kaum fassen. Anne und Andreas stellten ihre Freunde vor, die sie umringten.
Noch immer sprachlos führten die Freunde, ihre Tochter und Andreas, die Eltern durch den Garten zum Haupthaus.
Andreas schob Anne über eine kleine Rampe die Treppe nach oben, gefolgt von Uwe, der Jens schob und Thomas mit Pitt. Die Marines brachten das Gepäck von Annes Eltern auf die für sie vorgesehenen Zimmer, während sich die Gruppe von Freunden mit ihnen durch die große Empfangshalle auf die Terrasse begaben.
Annes Eltern waren überwältigt von dem, was sie sahen. Sehr genau betrachteten sie Annes neue Freunde und lauschten beim Essen den Geschichten, die sie zu erzählen hatten. Immer wieder sahen sie dabei ihre Tochter an und stellten fest, dass sie in dieser Runde von Männern sehr glücklich war. Sie hörten von ihr, wie diese Männer sich alle im Krankenhaus um Kim und sie bemüht und sich als lebende Schutzschilde über sie gebeugt hatten. Und sie erfuhren, warum Pitt, Jens und eigentlich auch Andreas noch im Rollstuhl saßen.
„Oh Mann, da werde ich viel Arbeit haben, wenn ich wieder nach Hause komme“, sagte Vater Kamp und kratzte sich am Kopf. „Aber es ist gut so. Annes Mutter und ich, wir möchten uns recht herzlich dafür bedanken, was ihr hier für unsere Tochter getan habt und wohl noch immer tut. Danke.“
Die Männer am Tisch zuckten verlegen mit den Schultern und wechselten schnell das Thema.
Walter und Erika sahen dabei immer wieder zu ihrer Tochter, wie sie herzlich mitlachte. Sie bemerkten auch, wie Andreas sie umsorgte und ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen schien. Er schnitt ihr das Fleisch, da sie es mit dem verbundenen und leicht geschienten Arm noch nicht wieder selbst konnte. Er reichte ihr die Speisen, die sie gern wollte, und achtete darauf, dass ihr Glas immer mit Orangensaft gefüllt war. Er begleitete sie, wie sie feststellten, sogar auf die Toilette, um ihr auch dort behilflich zu sein.
Am späten Nachmittag kamen auch Kim, Sebastian, Ahmed, Rashid. Oberstleutnant Mahmud Kebier und Doktor Abdul Mechier dazu. Sie wurden von Anne ihren Eltern vorgestellt.
Die ägyptischen Männer verneigten sich kurz vor Annes Eltern, während Kim und Sebastian die Hand zum Gruß reichten und sich dann umarmten, denn sie kannten sich schon.
Annes Eltern erhoben sich, um den Männern freundschaftlich die Hand zu reichen.
„Wir haben schon sehr viel von euch lesen dürfen. Anne hat von euch berichtet“, sagte Annes Vater, als er ihnen Hand reichte. „Ihr alle habt ihr und Andreas, unseren Kindern, sehr geholfen. Dafür sind wir euch ewig dankbar. Sagt einfach Walter und meine Frau heißt Erika. Wir sind sehr erfreut, euch kennenzulernen. Es ist uns eine große Ehre.“ Sebastian übersetzte das alles auf Arabisch, damit auch Ahmed und Rashid es verstanden.
Sehr genau hatte Andreas zugehört und ihm ging die Passage von Annes Vater „Unseren Kindern“ runter wie Öl. Immer hatte er sich Eltern gewünscht und nun mit einem Mal hatte er Walter und Erika an der Seite von seiner über alles geliebten Anne. Neue Welten taten sich vor ihm auf.
Walter Kamp erzählte vom Prozess gegen die Waffenschieber. Anne, Andreas, Kim und Sebastian übersetzten es abwechselnd für Ahmed und Rashid, die gespannt lauschten.
Dann berichtete Jens dem Richter von den neuesten Ereignissen und den bisherigen Festnahmen und Verhörergebnissen. Als Annes Mutter bemerkte, dass es zu einer beruflichen Diskussion hinauslief, schnappte sie sich den Rollstuhl von Anne und schob ihre Tochter weg vom Geschähen, weiter raus auf die Terrasse.
Andreas hatte es sofort bemerkt und verfolgte die beiden Frauen heimlich mit seinen Blicken.
„Anne, Schätzchen, es ist wunderschön hier. Dieser Doktor ist ein sehr großherziger Mensch. Und all deine Freunde sind wundervoll. Doch was ich von dir ganz genau wissen möchte: Bist du wirklich glücklich mit Andreas?“, fragte die Mutter.
„Ja, Mom, es gibt keinen besseren Mann als Andy für mich“, antwortete Anne sich ganz sicher. „Warum fragst du das?“
„Ist er auch bereit, für dich seinen gefährlichen Job aufzugeben?“, wollte Erika besorgt von ihrer Tochter wissen.
„Ja, Mom. Er hat uns sogar schon eine Tauchbasis für eine gute Zukunft gekauft. Er gibt seinen Job auf und Jens, der sein Vorgesetzter ist, akzeptiert das auch. ... Mom, ich glaube, du wirst bald Oma“, sagte Anne leise zu ihrer Mutter.
Erika stoppte sofort den Rollstuhl, trat vor ihre Tochter und hockte sich vor sie hin. „Bist du dir sicher, Schatz?“, fragte sie und lächelte Anne an.
„Na ja, noch nicht so richtig, Mom. Aber mir ist es früh immer übel und ich habe plötzlich seltsamen Appetit auf Speisen, die ich früher nie gemocht habe, und überfällig bin ich auch schon eine Weile“, erklärte sie.
„Weiß Andreas schon davon?“, wollte die Mutter von ihrer Tochter wissen.
„Ich habe ihm noch nichts davon gesagt. Aber ich glaube, er weiß oder spürt es.“
„Wie kommst du darauf, mein Schatz?“, fragte Erika nach.
„Na ja, es ist einfach nur so ein Gefühl“, erklärte sie ihrer Mutter, „Er ist immer sehr besorgt um mich. Das siehst du ja selbst. Er streichelt oft meinen Bauch und war bei meiner letzten OP dabei. Er hat Abdul so lange genervt, bis er es zuließ, dass er dabei an meinem Kopfende sitzen durfte. Er hat auch darauf bestanden, dass ich keine Vollnarkose, sondern nur eine örtliche Betäubung bekam, als die Drähte aus meinem Arm entfernt wurden. Er schiebt mir Orangensaft unter und begründet es damit, dass ich ja noch Medikamente nehme, während er mit seinen Freunden mit Bier anstößt, obwohl sie selbst noch Medikamente nimmt“, erzählte sie ihrer Mutter. Erika lächelte ihre Tochter an und nickte ihr zufrieden zu. „Liebling, du hast einen wirklich guten Mann für dich gewählt. Auch wenn er es schon wissen sollte. Er wartet darauf, es von dir zu hören. Das ist mehr als nur lieb und rücksichtsvoll von ihm. Er hat ein gutes Herz. Also sage es ihm. Dein Vater und ich, wir freuen uns sehr für euch. Ihr macht uns sehr glücklich.“ Erika umarmte ihre Tochter. Kurze Zeit später kehrten sie zu den anderen zurück. Kaum wieder angekommen, half Andreas ihr aus dem Rollstuhl auf die wesentlich bequemere, gepolsterte Bank und lagerte ihr Bein vorsichtig auf weiche Kissen.
Walter und Erika blieb diese Fürsorge von Andreas für ihre Tochter, obwohl er selbst, wie sie sahen, noch große Schmerzen hatte, nicht verborgen.
Nacheinander verabschiedeten sich die Freunde voneinander. Kim und Sebastian fuhren heim. Sie nahmen Ahmed und Rashid mit und setzten sie an der >Amun Re< ab.
Die anderen verzogen sich in ihre Zimmer.
Andreas hielt sich auf seine Krücken gestützt und zeigte Annes Eltern die Räume, die sie für sie vorbereitet hatten, und zeigte ihnen alles, dann führte er sie in das große Schlafzimmer, in dem bereits ihr Gepäck stand. „Möchten Sie, dass Ihnen jemand beim Auspacken hilft?“, fragte er höflich, etwas verlegen und wies auf die Koffer. Er kam sich etwas komisch vor, nun mit Annes Eltern ganz allein zu sein.
„Nein, danke, mein Junge, das werden wir morgen in Ruhe machen. Das wichtige Zeug für die Nacht haben wir hier in der Tasche“, sagte Walter, dann stutzte er kurz, sah Andreas an und fragte: „Habe ich das gerade richtig gehört, du hast uns mit Sie angesprochen?“ Andreas nickte. „Schau sich einer das an, Mutter“, lachte Walter auf. „Da ist der Junge schon weit über ein halbes Jahr mit unserer Tochter zusammen und nun hat er Angst vor uns. Sag mal schön artig du zu uns. Wir tun das ja zu dir auch.“
„Danke. Na ja, es ist auch nicht wirklich Angst, aber sehr viel Respekt“, gab Andreas zu.
Walter schaute dem Mann forschend in die Augen. „Wieso? Hast du was ausgefressen oder uns irgendetwas zu sagen?“
Andreas schien ein Kloß im Hals zu stecken, als er weiter sprechen wollte. „Ja, also wir … ich …“, begann er zu stammeln und wusste nicht mehr, wie er es sagen sollte. Er hatte es sich nicht so schwer vorgestellt. Seine Knie wurden weich und er konnte sich kaum noch auf seinen Stützen halten.
Als das Ehepaar das bemerkte, schob Walter ihm einen Sessel hin und Erika reichte ihm schnell ein Glas Wasser. „Ist das noch von dem Kampf mit dem Hai?“, lenkte Walter gekonnt ab und zeigte auf die noch immer verbundenen Unterarme und die Hand.
„Ja, das auch. Aber das ist nicht so schlimm. Der Doc meint, die Verbände können schon in zwei Tagen ab. Der Oberschenkel braucht vielleicht ein paar Tage länger.“ Dabei lächelte Andreas verlegen und trank einen Schluck von dem Wasser. Dann zog er sich wieder an den Krücken hoch.
„Bleib doch sitzen, Junge“, protestierte Erika und sah den Mann besorgt an.
„Nein danke“, meinte Andreas, „Was ich jetzt sagen … nein, fragen möchte, das tue ich lieber im Stehen.“ Und wieder musste er mächtig schlucken, um den neuen Kloß im Hals loszuwerden, dann sprach er mit fester Stimme weiter: „Erika, Walter, ich möchte hiermit um die Hand eurer Tochter anhalten. Ich weiß, das kommt etwas spät, denn schon in fünf Wochen soll die Hochzeit hier in Ägypten sein. Doch ich wollte euch persönlich fragen und es nicht über eine Mail oder das Telefon tun. Anne und ich leben hier, also wollen wir auch hier heiraten. Ich hoffe, ihr seid damit einverstanden und werft mich nun nicht raus. Ich liebe eure Tochter über alles und kann nicht mehr ohne sie sein.“ Endlich war es raus und Andreas atmete etwas auf. Dabei sah er Annes Eltern aber sehr gespannt an und wartete auf ihre Reaktion.
Erikas Augen füllten sich mit Tränen und Walter lächelte erst seine Frau und dann Andreas an und nickte leicht. „Anne hat sehr viel von dir geschrieben. Du hast unserer geliebten, einzigen Tochter mehrfach das Leben gerettet, dafür sind wir dir sehr dankbar. Wir haben heute gesehen, wie fürsorglich du mit ihr umgehst und wie glücklich du unser Mädchen machst. Ja, wir geben Anne sehr gern in deine Hände. Ich bin sehr beeindruckt, dass du uns überhaupt gefragt hast, denn eigentlich ist es schon gar nicht mehr so üblich. Die jungen Leute heiraten heutzutage einfach und setzen die Alten vor vollendete Tatsachen. Wir wissen, dass du Anne sehr glücklich machen wirst. Anne hat eine gute Wahl getroffen. Ich werde sie dir gern vor den Altar führen, wenn es hier überhaupt so üblich ist. Aber wehe, du brichst ihr das Herz. Da lernst du mich von einer Seite kennen, die du lieber nicht sehen willst“, drohte er streng, mit tiefer Stimme. Dann ging er einen Schritt auf ihn zu. „Ach, komm schon her, mein Sohn. Willkommen in der Familie“, sagte er, dabei schloss er Andreas fest in seine Arme und auch Mutter Kamp umarmte und küsste ihn.
Davon war Andreas einfach nur überwältigt und musste sich wieder setzen. Die Eltern setzten sich zu ihm und Andreas erklärte ihnen, so wie er es von Abdul erfahren hatte, wie hier eine einheimische Hochzeit abläuft. Als er sich dann zur Nacht verabschiedete, sagte er noch. „Ihr seid hier immer willkommen. Es ist auch euer Haus und wir würden uns sehr freuen, wenn ihr hier bei uns leben würdet.“
Walter und Erika sahen sich gerührt an. „Wir kommen bestimmt darauf zurück und nehmen dich gern beim Wort, wenn ich in Pension gehe“, antwortete Walter und lächelte.
„Das würde Anne und mich sehr glücklich machen“, sagte Andreas es ehrlich meinend und wünschte den beiden eine gute erste Nacht und verließ leise den Raum.
Als Walter und Erika allein waren, erzählte Erika ihrem Mann von dem Gespräch mit ihrer Tochter und ihrer Vermutung, dass sie schwanger sei.
„Ich glaube Omi, dann werde ich mich wohl recht bald um meine Pensionierung kümmern müssen, damit wir unser Enkelkind heranwachsen und nicht nur ein paar Tage im Jahr sehen können.“ Walter umarmte seine Frau und küsste sie. „Weiß es Andy schon?“, fragte er dann.
„Nein, Anne hat es ihm noch nicht gesagt. Sie will selbst erst richtig sicher sein.“
„War der Junge nicht gerade richtig niedlich? So viel Takt, Anstand und Gefühl traut man so einem groben Kerl doch eigentlich gar nicht zu. Was mein Schatz“, sagte er und Erika gab ihm recht, während sie sich für die Nacht fertig machten.
Nachdem Andreas den Eltern eine gute Nacht gewünscht hatte, ging er zurück zu Anne. Sie hatten sich ihre Zimmer, aufgrund der Rollstühle, im Erdgeschoss ausgesucht. Er half ihr beim Umziehen und Waschen. Danach schob er sie im Rollstuhl vors Bett. Sanft umfasste er ihre Taille und sie legte ihren Arm um seinen starken Nacken. Er hob sie, als wäre sie leicht wie eine Feder, aus dem Stuhl und setzte sie auf der Bettkante ab. Nachdem sie sich hingelegt hatte, schob er ihr noch ein Kissen unter den Arm und fragte wieder besorgt nach, ob sie Schmerzen hatte. Anne schüttelte zur Antwort nur mit dem Kopf und zog ihn näher an sich heran, um ihn zu küssen.
Er legte sich links neben sie, um im Schlaf nicht versehentlich an ihren Arm oder das Bein zu stoßen.
Sie kuschelte sich wie immer eng an ihn und legte ihren Kopf auf seine Brust. Er liebte es, mit ihr so eng zusammenzuliegen und Zärtlichkeiten auszutauschen.
„Andy, ich möchte heute gern mehr von dir“, flüsterte Anne verlegen.
„Ich auch Liebste. Aber ich möchte es nicht riskieren, dir wehzutun. Das würde ich mir nie verzeihen können. Also lass uns lieber noch ein paar Tage ganz vernünftig sein“, antwortete Andreas und strich ihr zärtlich mit seiner warmen Hand über den Hals und streifte dabei sanft den Träger ihres Nachthemdes über ihre Schulter. Er gab ihr einen Kuss auf ihren Hals, während seine Hand über den dünnen Seidenstoff weiter über ihre Brust zum Bauch und wieder zurückwanderte. Er drückte sie fest an sich und genoss ihren gleichmäßigen Atem auf seiner Haut.
„Deine Eltern sind einfach super, Schatz. Ich habe sie vorhin um deine Hand angehalten“, sagte er nach einer ganzen Weile leise und küsste sie sanft auf die Stirn. Dabei merkte er, dass sie, bestimmt wegen ihrer starken Medikamente und der Aufregung bei der Ankunft ihrer Eltern, dann doch schnell eingeschlafen war. Er selbst lag aber noch lange wach.
74
Anne, Andreas und ihre vier Freunde waren bereits zeitig munter und saßen auf der Terrasse am Frühstückstisch, als Walter und Erika noch etwas verschlafen nach unten kamen. Alle wünschten ihnen einen guten Morgen. Nachdem sie am Tisch Platz genommen hatten, fragte Erika ihre Tochter leise. „Sag mal, Kind, wer hält das hier denn alles sauber? Es ist doch ein riesiges Haus und Grundstück.“ Anne erzählte ihr und ihrem Vater, dass es die Hausangestellten von Abdul sind, die in dem Haus von Doktor Mechier gegenüber wohnen. Sie erklärte ihnen, dass diese Familien auf diese Art eine gute Unterkunft und ein sicheres Einkommen haben, was hier nicht so selbstverständlich wäre.
„Deshalb behandeln wir sie aber nicht wie Dienstboten“, übernahm Andreas. „Es sind auch gute Freunde für uns.“
Zufrieden nickte Annes Vater. „Etwas anderes hätte ich von euch auch nicht erwartet“, sagte er.
Noch während sie bei Tisch saßen, kam Abdul auf die Terrasse und begrüßte alle herzlich. „Entschuldigt bitte, ich habe nicht viel Zeit. Ich muss gleich wieder zurück ins Lazarett“, sagte er und winkte mit zwei Schlüsseln, „Andy, ich habe euch nur schnell euere Autos vorbeigebracht. Der Händler hat sie versehentlich bei mir im Lazarett abgeliefert.“ Er warf seinem Freund, dann Anne, die jeweiligen Wagenschlüssel zu. „Andy, dein Ford fährt sich übrigens super. Den Toyota hat Kasim hergefahren.“
„Danke Abdul. Aber wie kommen du und Kasim wieder zurück in die Klinik?“, fragte Andreas.
„Hasan ist mit dem Jeep hinter uns her gekommen und nimmt uns wieder mit zurück“, erklärte der Arzt schnell und wünschte noch einen schönen Tag. Im Gehen drehte er sich noch einmal um. „Ach übrigens, bald hätte ich es vergessen, das mit dem kleinen Haus geht klar. Auch der Schulplatz ist geklärt und steht zur sofortigen Verfügung. Du kannst also mit dem Umsiedlungsprojekt beginnen. Viel Erfolg.“ Dabei lächelte Doktor Mechier und verschwand auch schon wieder.
Alle am Tisch sahen daraufhin Andreas fragend an. Er aber lehnte sich zurück und grinste nur zufrieden in die Runde. „Ihr könnt euch ja schon mal die neuen Autos ansehen“, sagte er. Dann entschuldigte er sich, dass er dringend ein paar Telefonate führen müsse und hinkte ins Haus.
Nun richteten sich alle Blicke auf Anne, doch sie zuckte nur unwissend mit den Schultern. „Nun seht mich doch nicht so an. Ich weiß wirklich nicht, was er schon wieder vorhat.“
Nach einer Weile erhoben sich die Freunde und gingen durch den Garten zum Parkplatz. Anne staunte nicht schlecht, als sie die beiden neuen Wagen dort stehen sah. Sie schaute auf den Schlüssel in ihrer Hand. Er gehörte zu dem silbernen Toyota.
„Wow, ein großer Land Cruiser Allradgeländewagen“, stellte Jens fest.
„Ja, der ist für Anne“, hörten sie Andreas. Während er langsam auf sie zukam, sprach er weiter: „Ich möchte nämlich, dass sie immer heil durch die Wüste und wieder zurückkommt. Mit dem Roller war das ja lebensgefährlich. Außerdem bekommt sie so mehr transportiert“, erklärte er, dabei stupste er ihr auf die Nasenspitze.
„Du bist doch verrückt“, sagte sie lachend.
„Nein, verliebt, mein Schatz. Nur einfach wahnsinnig verliebt und um dich besorgt“, antwortete er und verschloss ihr den Mund mit einem Kuss, als sie etwas erwidern wollte. Dann schauten sie sich auch noch gemeinsam den Ford Maverick an.
Als die Gruppe auf dem Weg zurück zum Haus war, blieb Andreas abrupt stehen. „Jungs, ich bräuchte dringend eure Hilfe“, sagte er. Alle blieben stehen, drehten sich zu ihm um und sahen ihn fragend an. „Ich muss morgen nach Kairo fliegen und brauche kräftige Männer für eine streng geheime Operation.“
Annes Eltern bekamen einen großen Schreck.
„Aber du hast mir doch versprochen …“, begann Anne. Andreas ging auf sie zu, reichte Uwe seine Krücken und stützte sich auf ihren Rollstuhl. Während er sie weiter schob, beruhigte er sie wieder. „Nur keine Angst, Liebling, es ist kein gefährlicher Einsatz.“
„Das hast du jedes Mal gesagt“, gab sie zurück.
„Dieses Mal ist es etwas ganz anderes. Ich muss da zwar noch etwas Überzeugungsarbeit leisten, aber ich glaube nicht, dass es gefährlich werden könnte“, sagte er leise und erklärte ihr und den anderen, dass er vorhatte, Ahmeds Familie aus Kairo herzuholen, damit sie mit ihrem Sohn und Bruder in dem Haus, welches er mit Abdul für ihn gekauft hatte, leben können. Walter und Erika erzählte er, dass Ahmed zurzeit in der engen Kajüte auf dem Boot lebte. Und er von Anne erfahren hatte, dass er alles Geld, das er verdiente, seinen Eltern und der Schulausbildung seiner Schwester zukommen ließ, die zu dritt in nur einem kleinen Zimmer in Kairo lebten.
Anne erinnerte sich wieder an das Gespräch, das er damals mit Abdul geführt hatte, als es darum ging, dass sie im Palast einziehen sollten. Sie war sofort begeistert von dieser Idee. Es hielt sie nicht mehr in ihrem Rollstuhl. Kurz vor der Rampe hüpfte sie auf einem Bein auf, umarmte und küsste Andreas wild. „Du bist der beste Mann der Welt. Da wird sich Ahmed aber freuen, wenn er das hört.“
„Nicht so schnell, junge Dame. Das soll eine Überraschung werden. Dazu gehört auch, dass Rashid und er alleinige Eigner der >Amun Re< werden.“ Anne strahlte übers ganze Gesicht, als Andreas sie wieder vorsichtig in ihren Stuhl setzte. Walter und Erika nahmen sich bei der Hand und nickten sich lächelnd zu. Wieder auf der Terrasse erklärte Andreas, dass er vorhin per Telefon den Flug nach Kairo gebucht und seinen Besuch, so wie den Grund dafür, bei der Familie angekündigt hatte. Vor Ort würde sich dann entscheiden, ob sie für die Möbel der Familie ein Transportunternehmen bräuchten oder ob sie ihre Habseligkeiten mit in den Flieger bekommen, denn eigentlich war das Haus komplett möbliert.
Sofort erklärten sich Uwe und Thomas bereit, mit ihm nach Kairo zu fliegen, um tatkräftig beim Umzug zu helfen.
Dann machten sie es sich auf Liegen unter Sonnenschirmen am Pool bequem.
Als die Männer ihre Shirts auszogen, registrierte Andreas, der es seinen Freunden soeben gleichtun wollte, wie sehr Annes Eltern erschraken, als sie die Narben, die frischen Wunden und die Verbände sahen. Sofort entschied er sich, sein T-Shirt doch lieber anzubehalten, um sie nicht noch mehr zu schockieren.
„Anne hat uns zwar davon per Mail berichtet und ihr habt uns gestern auch davon erzählt, aber es ist doch etwas ganz anderes, es nun so zu sehen“, gestand Walter, sich für seine Reaktion entschuldigend bei den vier Männern.
Sie lächelten, das verstehend und schauten dann zu Andreas. Der schüttelte nur leicht den Kopf und seine Freunde verstanden.
„Es sieht schlimmer aus, als es ist, Walter. Nichts, was nicht wieder heilen würde“, beruhigte ihn Jens, dessen Oberkörper ebenso wie der von Pitt noch verbunden war.
Anne bemerkte sofort, dass sich Andreas scheute, sein Shirt auszuziehen. Sie konnte sein Zögern verstehen, nachdem sie die erschrockenen Blicke ihrer Eltern ebenfalls gesehen hatte. Trotzdem ärgerte sie sich auch darüber, dass sich Andreas deswegen wieder zurückzog. Sie gab ihm ein Zeichen, wenigstens die lange Hose auszuziehen.
Er nickte ihr zu und entledigte sich der Hose, sodass er in Shirt und Badehose bekleidet am Poolrand sitzen und wenigstens die Füße ins Wasser stecken und die Sonne an die Beine lassen konnte. Seine Verbände am Oberschenkel und an den Unterarmen leuchteten dabei hell in der Sonne.
Anne hatte es sich im Bikini auf der Liege bequem gemacht. Als er sah, dass der Wind ihr Haar immer wieder ins Gesicht wehte, was sie zu stören schien, stand er mühevoll vom Beckenrand auf, ging zu ihr und flocht ihr das Haar zu einem dicken Zopf zusammen. Dann legte er sich auf die benachbarte Liege.
„Du kannst deinen Oberkörper nicht ewig vor ihnen verstecken“, flüsterte Anne, ihm zu, während sie ihren Eltern lächelnd beim Schwimmen zusah.
„Ich weiß. Aber hast du gesehen, wie sie schon bei unseren Freunden erschrocken sind, obwohl sie doch von ihren Verletzungen wussten. Ich wollte ihnen einen weiteren Schreck ersparen.“
„Das wirst du aber nicht ewig verhindern können.“
„Nein, das nicht. Aber wenigstens noch ein paar Tage. Bitte“, bat er sie leise und winkte Walter und Erika zu.
Anne nickte verstehend und sagte: „Gut, ich werde sie, während du in Kairo bist, darauf vorbereiten. Aber danach versteckst du dich bitte nicht mehr. Das hast du nicht nötig. Du musst dich weder dafür schämen noch entschuldigen. Diese Narben gehören zu dir und zeigen, wer du bist.“
„Und wer soll das sein?“
„Ein Mann, der sich von nichts und niemandem kleinkriegen lässt.“