Unter dem Birnbaum

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rubber sole

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Mitten in der Nacht steht sie auf und betritt durch die hintere Tür im Erdgeschoss den Garten. Auf dem halb verwilderten Grundstück am Rande der Stadt liegt alles fast vollständig im Dunkeln unter einem wolkenverhangenen Nachthimmel. Die unregelmäßig gepflanzten Bäume und Sträucher sind im schwachen Schimmer des Lichts, das durch ein kleines Seitenfenster fällt, nur schemenhaft zu erkennen. Die kühle Luft der herbstlichen Nacht schlägt ihr frisch und klar entgegen. Stille um sie herum. Nur gelegentliche, weit entfernte Autogeräusche sind zu vernehmen; selbst von den sonst oft störenden Lauten der Hunde in der Nachbarschaft ist nichts zu hören. Als die Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben, führt ihr Weg sie direkt in den hinteren Teil des Gartens, wo sie gezielt auf einen dort stehenden Birnenbaum zugeht; mit schweren Schritten über die jetzt schon leicht feuchte Grasfläche. Unter dem Baum angekommen, muss sie nur wenige Sekunden herumtasten, um den dort abgestellten Spaten zu finden, da, wo sie diesen am Nachmittag zurückgelassen hat.

Dann die ersten Spatenstiche, unregelmäßig geformte Grassoden sticht sie dabei aus. Die ausgegrabene Erde schüttet sie um das entstehende Loch – größer und tiefer als benötigt, bis sich als sichtbares Ergebnis Haufen schwerer, feuchter Erde um das Loch angehäuft haben. Aus dem dunklen, frisch aufgebrochenen Boden strömt ihr schwerer Erdgeruch entgegen, vermischt sich mit den Gerüchen der Herbstnacht. Während dieser mühseligen Tätigkeit ist ihr klar, was sie als nächstes tun wird, atmet dabei tief durch, wischt sich den Schweiß von der Stirn. Sie ist fokussiert auf das, was nun folgt, hält aber noch einmal für einige Momente inne, starrt in die dunkle Ausgrabung vor sich. Ihre Gedanken schweifen ab, gehen jetzt noch einmal retrospektiv zu Szenen aus ihrem früheren Leben zurück, in die Zeit als sie jung und sorglos gemeinsam mit ihrem Ehemann ihre Zweisamkeit hier in diesem Haus und Garten gelebt hat. Aber da sind auch Gedanken an Traurigkeit, an Streitigkeiten, an verletzende Auseinandersetzungen, mit denen beide irgendwann immer schwerer umgehen konnten – bis auch dieses endet. Bitterkeit steigt in ihr hoch. Unvergessen das vernichtende Gefühl des Verlassenseins, die Nichtverfügbarkeit des Partners nach vielen gemeinsamen Jahren. Unter dieser Last stürzte ihr Leben krachend ein, es war das endgültiges Aus, nicht von ihr vorhergesehen, oder gar eingeleitet. So findet sie sich in einer Rolle wieder, in der sie lediglich zur Adressatin einer knappen Abschiedsformel geworden ist, ein verletzendes Gefühl, das sie jetzt in dieser Nacht auch zu begraben vorhat. Ihren Platz an der Seite ihres Mannes hat eine andere eingenommen. Erniedrigend. Dieses verstörende Gefühl durchdringt sie über einen langen Zeitraum immer wieder. Es gelingt ihr jedoch, aus einem winzigen Splitter Restwürde, einen neuen Lebensentwurf aufzubauen, gleichzeitig eine widerstandsfähige mentale Schutzschicht um den Kern ihrer Empfindungen zu legen. Und heute das Finale: physisch und symbolisch. Wie anlässlich einer andächtigen Zeremonie geht sie langsam auf die Knie, den Blick in das dunkle, offene Stück Erde unter sich gerichtet - von außen betrachtet mag dies wie ein feierliches Ritual wirken.

Und dann vollendet sie es, füllt das schwarze Erdloch mit dem, was geblieben ist – zusätzlich zu dem lange Zeit belastenden Gefühl der Leere nach den vielen gemeinsamen Jahren. Sie schaufelt die herumliegende lose Erde darüber und klopft diese anschließend fest. Einige wenige Tränen rollen ihre Wangen hinunter, vermischen sich mit den feinen Schweißperlen der Anstrengung. Kein Wort des Abschieds von ihr an dieser Stelle; die letzte Handlung ist unwiderruflich und stumm vollzogen. Als sie den Spaten beiseite legt, verspürt sie einen Schmerz an ihrem Finger, genau an der Stelle, von der sie mit aller Kraft den Ehering abziehen musste, um ihn dann in ein kleines Kästchen zu legen.
 
Zuletzt bearbeitet:

Anders Tell

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Ich war überzeugt, sie wird etwas pflanzen wollen. Bis das Grab alles besiegelt. Den allerletzten Satz würde ich weglassen. Auf diese Deutung kommt man ohne Benennung.
 

rubber sole

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Hallo Anders,

ja, du hast recht. Den letzten Satz habe ich gekürzt - es wäre ein Schritt in Richtung "Over-Telling" gewesen. Danke für dein Interesse.

Gruß von rubber sole
 

Shallow

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So finster die Nacht, zumindest in deiner story, lieber @rubber sole, in der begraben wird, was keine Zukunft mehr hat. Ein paar Dinge sind mir aufgefallen:

Unter dem Baum angekommen, muss sie nur wenige Sekunden herumtasten, um den dort abgestellten Spaten zu finden, da, wo sie diesen am Nachmittag zurückgelassen hat.

Wirkt auf mich etwas sperrig: der dort abgestellte Spaten, den sie am Nachmittag zurückgelassen hat. Könnte kürzer evtl. eleganter wirken, denn es ist relativ klar, dass sie das Gerät wohl dort hinterlassen hat, wenn sie nur kurz braucht, um ihn zu ertasten. Außerdem ist dieses Ausbreiten nicht wichtig für die Geschichte, aber vielleicht Geschmackssache.

Sie ist fokussiert auf das, was nun folgt, hält aber noch einmal für einige Momente inne, starrt in die dunkle Ausgrabung vor sich. Ihre Gedanken schweifen ab, gehen jetzt noch einmal retrospektiv zu Szenen aus ihrem früheren Leben zurück, in die Zeit als sie jung und sorglos gemeinsam mit ihrem Ehemann ihre Zweisamkeit hier in diesem Haus und Garten gelebt hat. Aber da sind auch Gedanken an Traurigkeit, an Streitigkeiten, an verletzende Auseinandersetzungen, mit denen beide irgendwann immer schwerer umgehen konnten – bis auch dieses endet.

Natürlich ist sie "fokussiert", aber das muss man nicht schreiben. Auch als sie ihre Gedanken schweifen lässt, schreibst du "retrospektiv" aus ihrem früheren Leben, das Wort würde ich weglassen. Dann kommen Allgemeinplätze (Traurigkeit, Streit, Verletzungen), aber der Leser kann das nicht empfinden, weil du es nicht erzählst, sondern ihm erklärst.

Es gelingt ihr jedoch, aus einem winzigen Splitter Restwürde, einen neuen Lebensentwurf aufzubauen

Das behauptest du einfach so. Aber wieder erzählst du es nicht. So schwimme ich etwas an der Oberfläche, würde aber gern tiefer eintauchen, mehr emotional mitgenommen werden, die Motive verstehen. Vielleicht kannst du mit dem einen oder anderen Punkt meiner Kritik etwas anfangen, dir jedenfalls einen schönen Abend wünscht


Shallow
 

Aniella

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Hallo @rubber sole,

die Idee finde ich gut, manchmal benötigt man einen symbolischen Schlusspunkt, sei es auch die Beerdigung des Eheringes.
Für einen geplanten Neuanfang ist es mir tatsächlich zu dunkel für die Aktion. Ich hätte es vermutlich in die frühen Morgenstunden gelegt. Erstens kann man dann ein wenig besser sehen, was man da tut und zweitens entspricht es der Situation besser, denn man beginnt ja etwas Neues, so wie der neue Tag anbricht. Aber es ist Deine Geschichte und nur meine Gedanken dazu.
Ich verstehe die angedeutetn, quälenden Gedanken, hätte aber – wie @Shallow – gern ein wenig tiefer geblickt. Der letzte Streit, die letzten bösen Worte, die gefallen sind, oder auch der geplante Neuanfang, der sich an irgendwas ja festhalten muss (Umzug? Neuer Job?). Da liegt ja nach dem Schlusspunkt die Zukunft.

Ansonsten aber gern gelesen.

LG Aniella
 

Anders Tell

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Es geht ja noch nicht um einen Neuanfang. Wer etwas symbolisch beerdigt, wendet sich nicht unmittelbar der Zukunft zu. Die Trauer ist wahrscheinlich noch eine Weile der Begleiter. Da ich aber auch erst glaubte, es würde etwas gepflanzt, habe ich mich gefragt, welche Pflanzen man für einen Neuanfang wählen würde.
 

Aniella

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Es gelingt ihr jedoch, aus einem winzigen Splitter Restwürde, einen neuen Lebensentwurf aufzubauen, gleichzeitig eine widerstandsfähige mentale Schutzschicht um den Kern ihrer Empfindungen zu legen. Und heute das Finale: physisch und symbolisch. Wie anlässlich einer andächtigen Zeremonie geht sie langsam auf die Knie, den Blick in das dunkle, offene Stück Erde unter sich gerichtet - von außen betrachtet mag dies wie ein feierliches Ritual wirken.
Also das sieht mir sehr nach einem Neuanfang aus. Unter einem Birnbaum etwas pflanzen zu wollen, wäre auch kontraproduktiv. Einmal stört/verletzt man die Wurzeln des Birnbaums und dann kann sich eine neue Pflanze dort inmitten anderer Wurzeln kaum gut ansiedeln. Nach dem Finale kommt dann nach meiner Logik etwas Neues?
 

rubber sole

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Hallo Shallow,

ich stimme dir zu: 'retrospektiv' klingt in diesem Zusammenhang zu distanziert. Und da sind wir auch schon bei den Besonderheiten meines Erzählstils. Ja, ich neige mitunter dazu, bei Beschreibungen von Emotionen eher zu reportieren als vom Inneren der Gefühlslage zu erzählen - in diesem Fall ist mir eine empathische Schilderungen aus weiblicher Sichtweise wohl nicht sehr gelungen. Danke für deine Hinweise; ich weiß diese zu schätzen und werde daran arbeiten.

Gruß von rubber sole
 

rubber sole

Mitglied
Hallo Aniella,

danke für deinen Beitrag und die Sternenwertung. Mir geht es in der Geschichte nicht um einen Neufang durch Einsetzen einer weiteren Pflanze. Obwohl nach dem Bild, das ich vor Augen habe, wäre an dieser Stelle ausreichend Platz. In der Geschichte steht für mich eindeutig der Schlusspunkt im Zentrum des Geschehens. Aufgrund des vorhergegangenen Lebensabschnitts liegt der Neufang schon einige Zeit zurück. Hier wird das Finale als Ritual beschrieben, verarbeitet wurden die Probleme bereits vorher.

Gruß von rubber sole
 



 
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