Unter der Schneekuppel (alte Normalität) - 02. 12. 2023

Schon völlig vergessen, wie das ist, wenn man durch frischgefallenen Neuschnee stapft.
Vergessen: Das knirschende Geräusch unter den Stiefeln. Auf einmal ist es wieder da.
Ist schon Jahre, wenn nicht Jahrzehnte her, dass es die Stadt so weiß eingestaubt hat. Vor ewig langer Zeit, als ich routiniert einen Kinderwagen schob, hat es das noch regelmäßig so gegeben, bis in die Niederungen herab. Ich weiß noch, dass es oft mühsam war, diesen Kinderwagen durch die verschneiten Straßen zu schieben, damals.
Auch heute ist das Gehen mühsamer, anders.
Rutschiger Untergrund, nicht hinfallen. Jeder Tritt erfordert ein gewisses Maß an Konzentration. Kleine Schritte.
Auf der Fahrbahn liegen Matschberge zwischen den Fahrrillen der Autos, über die man als Fußgänger, der eine Kreuzung queren möchte, drübersteigen muss.
Alles geht plötzlich langsamer, ruhiger, auch die Fahrzeuge.
Der Schnee schluckt und dämpft sämtliche Geräusche, die anfallen.
Die Hausdächer tragen allesamt eine dicke weiße Haube. Grünflächen haben sich in eine einzige gefederte Matratze verwandelt. Schwerer, nasser Schnee hängt sich an die Äste der Bäume, Sträucher.
Einige halten das nicht aus. Quer über den Spazierweg liegen immer wieder abgebrochene Zweige; auch erheblich große, die den Weg mitunter unpassierbar machen, sodass man Umwege über den Tiefschnee in der Wiese stapfen muss. Ist der Tiefschnee tiefer als die Stiefel hoch sind, wird es kalt an den Socken.
Man ist froh, wenn man Wege findet, die zuvor schon von anderen beschritten wurden. Dort ist der Schneeboden schon einigermaßen zusammengedrückt und trittfest, man sinkt dort nicht mehr ein.
Mir scheint, die Situation überrascht und überfordert uns alle ein bisschen.
Schneepflüge fahren hektisch auf und ab und scheinen nicht zu wissen, wo sie anfangen sollen mit ihrer Arbeit. Auf den Gehwegen ist teilweise noch gar kein Rollsplitt ausgebracht, bloß die Fahrbahnen sind ordentlich eingesalzen.
Mal wieder wird offenbar, wie sehr man davon abhängt, dass andere sich kümmern und dass eins ins andere greift. Unsichtbare Hände.

Professionelle Kümmerer haben denn auch keine Pause, im Gegenteil.
Gerade zischt wieder so einer an mir vorbei auf seinem Fahrrad. Schlechtbezahlter Liefersklave in seiner Montur in Grellorange, Grün oder Pink; auf dem Rücken den übergroßen, eckigen, isolierten Rucksack mit einer Essensfracht drin. Nicht nur fixfertige Speisen aus dem Restaurant, auch allerlei Supermarktartikel kann man sich nun solcherart liefern lassen. Muss man selber gar nicht mehr raus ins Kalte, wenn man einen Liter Milch braucht.
Die Liefersklaven werden immer mehr. Gehören fast schon zum Stadtbild dazu, in fast schon jeder Stadt.
Jetzt mühen sich die Lieferanten eben durch Eis und Schnee. Nicht einfach mit dem Rad, aber immer zu Diensten. „Klimaneutral“, wie die Werbung so schön sagt.

Das Gute ist, dass das Schneethema heute alle eint.
Man kann nicht anders, man muss über das schneeige Jetzt, über das viele Weiß reden – und man redet nicht schlecht.
Es ist wie ein Ausflug in eine alte Normalität, die man schon verloren glaubte. Ein altbekanntes, tröstliches Normal irgendwie.
Selbst jene, die ihre Hauseingänge eigenhändig freischaufeln müssen, tun das nicht griesgrämig. Als verrichteten sie eine außergewöhnlich schöne Pflicht, so werkeln sie vor sich hin. Manch einer summt dabei sogar ein Lied.
Krisen und Kriege sind fürs erste thematisch begraben unter tonnenweise Schnee.
Die Schlagzeilen erzählen von akuten Verkehrsproblemen wegen der winterlichen Wetterlage oder sie zählen auf, wie oft die Feuerwehr ausrücken musste, um umgestürzte Bäume zu bergen.

Gedankenverloren schlendere ich einen Zaun entlang und schnippe so zum Spaß die kleinen Schneehäufchen von den Latten weg. Der mir Entgegenkommende hat meine spielerische Anwandlung bemerkt und grinst mich an. Ich knete ein bisschen von dem kalten Zeug in meiner Handschuhhand, bis sich die Wolle mit Nässe tränkt.
Der Schnee ist griffig und eignet sich gut für den Schneemannbau – und so wird auch getan.
Auf meinem Weg begegnen mir mehrere Exemplare der Spezies kalter weißer Mann. Sogar einer mit Punkfrisur kommt mir unter.
Wo es einen Abhang gibt, wird gerodelt. Schneebälle fliegen. Da, ein Iglu, eilfertig aufgezogen. Der Sound ausgelassener Winterkinder.
Und es schneit, schneit, immer weiter.
Frau Holle arbeitet wie eine Wahnsinnige im Akkord. Hat sich wohl vom Burnout erholt, jedenfalls vorübergehend.
Zugegeben, ihr Timing ist einfach perfekt.
So pünktlich zu Anfang Dezember, zu Beginn der Winter-Adventszeit war sie kaum je gewesen.
Ob sie wohl bis zum großen Fest durchhält?
Morgen brennen an den Adventskränzen die ersten Kerzen. Man wird sie feierlich anzünden können mit massenhaft Schnee vor den Augen, wenn man den Blick zum Fenster hebt wie in einem kitschigen Film.
Die weihnachtlichen Verzierungen überall wirken zur Abwechslung nicht so, als hätten sie sich in der Zeit vertan.

Am Nachmittag stehe ich lang am Küchenfenster und schaue dem Nachbarn zu, wie er den Schnee von seiner Hecke räumen will.
Ein gut vermummter Mensch, der Nachbar, rückt an mit einem Kehrbesen und versucht, die Schneekuppen damit straßenseitig nach unten zu ziehen. Allerdings: Der Schnee sitzt fest. Ist wie angeklebt.
Immer nur wenig erwischt der Besen von dem hartnäckigen Weiß. Die Hecke ist hoch.
Der Mensch rüttelt und schiebt und angelt nach dem Schnee und wird seinerseits ganz schön eingeschneit von allen Seiten - aber er lacht und plaudert gutgelaunt mit vorbeikommenden Passanten. Ein Mann, lässig mit Zigarette im Mundwinkel, will gar helfend eingreifen und rüttelt kräftig von unten – in Folge fällt ihm ein beträchtlicher Brocken Gefrorenes auf den Kopf. Instinktiv will er zur Seite springen, natürlich zu spät, dabei verliert er auch noch einen seiner Halbschuhe und steht plötzlich in Socken auf der Straße im Schnee. Alle schmunzeln, ich ebenso, an meinem Fenster stehend, beobachtend.
Wo sich große Schneeteile von der Hecke lösen, ist es ein seltsam befriedigendes Gefühl auch für mich. Es ist wie jemandem beim Tapeten-Ablösen zuzuschauen.
Bis die gesamte Hecke schneefrei ist, schaue ich zu.
Und ich denke mir, Sisyphos lässt grüßen. Von oben herab schwebt schon wieder neues, fettes Weiß.
 
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petrasmiles

Mitglied
Lieber Dichter Erdling,

was für nette Impressionen. So friedvoll und wie Du schon sagst: 'normal'.

Manchmal denke ich, wir sind für diese Informationsflut nicht geschaffen, physisch und moralisch schon gar nicht.
Wir haben die eine Realität, wo der Schnee die (Um-)Welt verzaubert, wir auf unsere Tritte achtgeben müssen und was nicht allles.
Und da gibt es die weiter entfernte Realität mit Mord und Totschlag und Krieg und Verelendung. 1 a Voraussetzungen für Schizophrenie. Ich bekomme ja schon nicht mit, wenn in meiner Stadt armen Menschen der Strom abgestellt wird, die Dramen um die Ecke, wo den säumigen Zahlern die Zwangsräumung und ein Leben auf der Straße droht. Ich gehe nicht in marode Schulen und bin keine Angestellte, der demnächst die Kündigung droht...

Aber der Schnee wenigstens, der eint.

Liebe Grüße
Petra
 

John Wein

Mitglied
Ein bisschen Schnee muss sein, sagte in fröstelndem Zungenschlag der Winter und überzog da Grau des Novembers mit seinem weißen Tuch. Bei Deinen Impressionen denke ich gern zurück an Oberammergau und dem verzauberten Graswangtal, als ich in nicht mehr ganz so jungen Jahren meine Bahnen zog und am Abend im Geknirsch unter den Sohlen zum warmen Wirtshaus stapfte zu Einkehr und Gaudi.
Ja! Mit sowas kann man hier im Rheinland nicht aufwarten, da schaut man eher in die graue Tristesse der Jahreszeit!
Mir fiel die etwas gehäufte Metapher "Liefersklave" auf. Ich denke einmal im Gebrauch wäre völlig ausreichend, sonst nutzt es ab.
LG; JW
 
Lieber JW!

Herzliches Dankeschön für deine Replik und die aufmerksamen Gedanken.
Hast recht, das mit dem „Liefersklaven“ dreimal hintereinander staut sich.
Ist geändert.

Es grüßt dich sehr herzlich


Erdling
 



 
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