Unterdorf

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Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Wir waren die Bande vom Unterdorf, mein bester Freund, seine beiden Brüder und ich. Mädchen war nicht dabei.
„Die fallen beim Rennen immer hin“, pflegte mein Freund mit einem abschätzigen Grinsen zu sagen, wenn die Rede darauf kam.

Die Grenze war klar definiert. Alle Bereiche ab der Bushaltestelle Richtung Kirche waren das Oberdorf. Dort gab es natürlich auch eine Bande, die zahlenmäßig unserer Stärke entsprach.

Unser Lager hatten wir in einem kleinen Steinbruch, ungefähr zwei Kilometer vom Dorf entfernt. Dieser war nur durch einen schmalen Hohlweg von hinten erreichbar und vorne stellte der Fluss eine natürliche Barriere dar. Ansonsten herrschte freie Sicht bis zum Dorf. Es war praktisch eine uneinnehmbare Festung und herannahende Feinde konnten rasch ausgemacht werden. Die Büsche hatten wir ausgehöhlt, um uns vor der Sonne zu schützen und erstmal unerkennbar zu sein. Die Zeit wurde mit dem Schnitzen von Speeren und der Herstellung von Pfeil und Bogen verbracht und die Waffen haben wir dann stolz in den Büschen deponiert. Die Waffen wurden nicht gegen die andere Bande verwendet, sondern zu sportlichen Wettkämpfen herangezogen. So versuchten wir immer vom Rand des Steinbruchs den Speer bis zum Fluss zu werfen, was aber nie jemand geschafft hat. Ansonsten sprachen wir über die Welt im Allgemeinen, die Schule im Besonderen oder lagen einfach nur im Gras und sahen den Wolken zu. Immer willkommen waren „Gastkrieger“ aus anderen Häusern des Unterdorfs, vorausgesetzt sie hatten als Eintritt Süßigkeiten oder Limonade dabei.

Die andere Bande hatte ihr Lager im Wald auf der anderen Seite des Dorfes. Sie hatten ein beeindruckendes Loch im Waldboden gegraben und dieses mit Brettern und Laub abgedeckt. Ein Kind konnte darin aufrecht stehen.

Es gab ein ungeschriebenes Gesetz, dass das andere Lager nicht zerstört werden darf. Spionage war aber erlaubt, man durfte sich nur nicht dabei erwischen lassen. Die Kämpfe fanden innerhalb des Dorfes statt und es war nicht ganz ungefährlich, sich auf das Gebiet der Anderen zu begeben. Meistens wurde ich dazu bestimmt, Streife im Feindesland zu fahren. Ich war der Einzige mit Dreigangrad und konnte dann bei Entdeckung am Kirchberg einen entsprechenden Vorsprung herausfahren, um wieder auf sicheres Gebiet zu gelangen. Die Feindseligkeiten beschränkten sich meistens auf das Deponieren von Schmähbriefchen an der Bushaltestelle. Nur einmal konnten wir den Chef der anderen Bande bei uns gefangen nehmen und haben ihn zwei Stunden lang zusammen mit einigen Stinkbomben in einem Hühnerstall eingesperrt. Danach hatten wir wochenlang Ruhe und so ging so mancher Kindersommer ins Land.

Mit dreizehn Jahren trafen wir uns dann alle im Konfirmatenunterricht und dieser war zu unserem Entsetzen nicht in Oberdorf und Unterdorf geteilt. Plötzlich bemerkten wir aber, dass die vom Oberdorf doch nicht so furchtbar waren und neue Freundschaften wurden schnell geschlossen. Auch dass die Mädchen nicht ganz so dämlich sind wie vermutet, haben wir schnell festgestellt. So haben wir unser Lager und die Kämpfe an die nächste Generation übergeben.

Dreissig Jahre später bin ich mit meinem Freund noch einmal zum Steinbruch gelaufen. Wir lagen wie damals im Gras und unterhielten uns über die Welt im Allgemeinen und die Frauen im Besonderen. Dann holten wir unsere Taschenmesser heraus und jeder hat sich andächtig einen Speer geschnitzt.

Sie flogen wieder nicht bis zum Fluss.
 

Ji Rina

Mitglied
Ein schönes Bild deiner Jugend im Dorf, dass ich aus der Nähe betrachtet habe. Konnte auch mitfühlen, denn auch wir hatten zwei Banden, die immer auf Kriegsfuss standen (Wir waren aber Mädchen und Jungen gemischt).
Sehr nostalgisch, das ende.
Gruss, Ji
 

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Danke Ji Rina,

ich bin gerade auf dem nostalgischen Trip und da spuken mir so manche Geschichten im Kopf herum.

Liebe Grüße
Manfred
 

molly

Mitglied
Hallo Franke,

bei uns im Dorf war das die Bande aus dem Oberdorf gegen die im Neubauviertel. Das spielte sich alles auf der Straße und in den verschiedenen Höfen ab.
Meine Kinder denken noch sehr gerne an diese Zeit zurück.

Ich habe Deine "nostalgische" Geschichte gern gelesen und bin gespannt auf weitere.

Liebe Grüße

molly
 

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Molly,

vielen Dank für deinen Kommentar.

Ja, ich habe da noch viele Geschichten im Kopf.
Wenn die Zeit, die noch bleibt, kürzer ist als die Zeit, die noch kommt, geht man in den Jahren zurück.
Das ist für mich keine schlimme Erfahrung. Manchmal sitze ich einfach nur da und weine vor Glück.

Liebe Grüße
Manfred
 

Maribu

Mitglied
Eine schöne Erinnerung an die Jugendzeit!
Besonders, da die "Banden" nicht brutal gegeneinander waren und Abmachungen eingehalten wurden.
Guter Schluss ohne Sentimentalität!
Kollegialen Gruß Maribu
 

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Maribu!

Vielen Dank für deinen Kommentar.
Ich bewege mich nicht oft im Bereich der Prosa und dann freut es mich besonders, wenn ein Text anscheinend gelungen ist.

Liebe Grüße
Manfred
 

Else Marie

Mitglied
Hallo Franke,

deine Geschichte hat mir sehr gut gefallen. Sie beschreibt die einzigartige Regeln der Kinderwelt, die auch ohne oder vor allem ohne das Eingreifen Erwachsener so wunderbar funktioniert. Die Kinder machen sich ihre Welt, leben darin und wissen genau, was von Bedeutung ist und was nicht. Es sind viele kleine lustige Ideen dabei, die die Geschichte auflockern und amüsant machen. Deine Worte haben in mir Bilder aufploppen lassen und ein schönes Gefühl hinterlassen. Und dann kommt, was kommen muss: Die Kinder sind erwachsen geworden, die Themen haben sich geändert, doch manches macht eben immer noch Spaß... Beim letzten Satz musste ich dann nochmal lachen.
Sehr gelungen, unterhaltsam, kurzweilig und mit einer Portion kindlichem Abenteuergefühl.

Grüße, Else Marie
 

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Else Marie,

ich stöbere gerade in meiner Kindheit und hoffe, dass ich mir manches bewahrt habe.
Danke für deinen Kommentar.

Liebe Grüße
Manfred
 



 
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