Urians Zorn: Teil 1 - Urian Kauffmann

Blarks

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Urian Kauffmann ist Maler und Anstreicher in fünfter Generation. Sein Ururgroßvater Nathaniel
gründete 1882 im zarten Alter von nur 21 Jahren die „Dekorationsmalerei Kauffmann & Söhne“.
Ein stolzer Betrieb seither mit goldenem Firmenschild und bleihaltigen Farben. Seitdem ging das
Geschäft immer vom Vater auf den Sohn über.
Aber mit ihm kam auch ein uralter Fluch: schier unbändiger Zorn.

Alle Kauffmanns galten als jähzornige Gesellen. Zumindest so lange, bis sie selbst Vater wurden.
Und so den Fluch an ihre erstgeborenen Söhne weitergaben. Dann wurde es besser.

Ein bisschen.
Urians Vater hieß Uriel und wurde in seiner Jugend oft „der Engel“ genannt.
Als ironische Antwort darauf nannte er seinen Sohn Urian, nach dem Teufel aus Goethes „Faust“.

Sein Leitspruch:
„Ich bin der Engel, du bist der Bengel.“

Urian selbst ist ein Mann wie ein Vorschlaghammer. Mit seinen 1,98 Meter, 132 Kilo geballter Masse
und breiten Schultern wirkte er wie jemand, der Wände nicht streicht, sondern rausreißt. Wut war
für ihn nie ein Fehler, sondern ein Grundzustand. Er war nie wirklich böse, aber immer kurz vorm
Explodieren. Schon als Kind war er aggressiv, laut, unberechenbar. Er tat anderen weh, ohne daß er
es beabsichtigte, aber es passierte trotzdem. Aber auch stets ohne jede Reue.

Eine japanische Freundin brachte ihm einmal Tai-Chi und Atemtechniken bei. Das brachte ihn für
kurze Zeit ins Gleichgewicht. Doch das Glück zerbrach und mit ihm sein Gleichgewicht.

Urian wurde nie zum Wehrdienst eingezogen. Man munkelt, die Armee hatte Angst vor ihm. Schon
ohne Waffe war er gefährlich genug. Welcher Ausbilder hätte mit so einem klar kommen sollen, erst
recht in einem Land wie Deutschland, das seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges mehr Angst als
Vaterlandsliebe kannte? In den USA, so heißt es, wäre er direkt zu den Marines geschickt worden.
Oder in eine Spezialeinheit für Menschen, die Türen nicht öffnen, sondern durch sie hindurchgehen.

Urian ist 45 und führt das Familienunternehmen mit harter aber gerechter Hand. Bei einem Auftrag
in einem Fitnessstudio lässt er sich von einem schnippischen Spruch provozieren:

„Mach mal locker, Chef, die Maschine is‘ nix für Anfänger.“

Seine Antwort:
„Ich stopf dir gleich zwei Zehn-Kilo-Hanteln rein! Eine in dein freches Maul und eine in
dein kleines Arschloch!“
Dann stemmt er.
Über seine Grenzen.
Zum allerersten Mal.
Der Mann, der Sport nur aus dem Fernsehen kennt, stirbt.

Aus dem Arztbericht:
Der Verstorbene wurde leblos neben einer 70-Kilo-Langhantel aufgefunden, in einem Zustand
fortgeschrittener Anstrengung, begleitet von signifikanter Hypertonie, zyanotischem Hautkolorit
und ausgeprägter Gesichtsgrimasse. Anwesende berichteten von einem finalen Laut („Hrrngh!“),
gefolgt von einem unmittelbaren Kollaps.

Mutmaßliche Todesursache:
Akute kardiovaskuläre Dekompensation infolge hypertropher Hybris bei simultaner Gewichtsapplikation.
Laienhaft ausgedrückt:
Er hat’s übertrieben. Die Pumpe hat gestreikt, weil das Ego schwerer wog als die Hantel.

Anmerkung:
Trifft Testosteron auf Gravitation, kapituliert am Ende das Myokard.
Train hard, die young. Case closed.

gezeichnet
Dr. med. Philipp Pillermann
Facharzt für Pathologie & stoische Gelassenheit

Aber mit dem Tod kommt nicht etwa Erlösung, sondern Macht. Wie alle fühlenden Wesen sieht
auch Urian das strahlende, verheißungsvolle Licht am Ende des Tunnels. Doch mit dem Licht,
der Liebe, dem Willkommen der anderen Seite kommt auch die Erkenntnis.

Das, was war, was ist, was kommen wird.
Aber vor allem: Warum?

Warum und woher kommt all die Wut?
Woher der unbändige Hass auf alles und nichts?
Was war die Quelle des Zorns all der vergangenen Jahre?
Und Urian schwenkt ab von dem Licht. Jetzt hat seine Wut einen Fokus. Eine Richtung.
Eine Zielerfassung. Urian Kauffmann ist jetzt eine Cruise Missile aus purem Zorn.

Fortsetzung folgt...
 



 
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