Urians Zorn: Teil 4 - Geister Ernst

4,00 Stern(e) 1 Stimme

Blarks

Mitglied
Ernst wird sich allmählich dem Ernst seiner Lage bewusst. Spätestens seitdem Auftritt der Polizisten
ist ihm klar, dass hier alles echt ist! Schon die Sache mit der Tür war seltsam. Sie war wirklich im
wahrsten Sinne des Wortes „nicht greifbar“. Seitdem hat er ebenso erfolglos versucht andere Dinge
anzufassen. Als die Polizisten seine Apotheke verließen ist er noch zur Seite gegangen.
Wie man das halt so macht, wenn man im Weg steht.

Dann stand er vor dem Regal mit dem wirkungslosen Zeug für die Hypochonder. Den
Nahrungsergänzungsmitteln die sich so hervorragend gut verkauften. Als Kind liebte er die Rollen mit
den Brausetabletten. Jetzt hätte er sich gerne eine genommen, aber… seine Hand glitt durch das Regal
hindurch. So, als ob es nicht da war. Er spürte überhaupt keinen Widerstand, er konnte das Regal nicht
einmal berühren. Es kamen nur noch zwei Kunden. Dann traten die Nachbarn aus den umliegenden
Geschäften ein.

Aber Ernst Graumann nahm sie nur am Rande wahr. Zeit, das begriff er als erstes, war jetzt etwas
anderes. Er versuchte sich an dem Betonpfeiler im Raum und spürte die Kälte des Materials, als seine
Hand in den Stein eindrang.

„Na schön. Dann bin ich jetzt eben ein Gespenst“, dachte er bei sich selbst.

Er denkt an die Vampirfilme, von denen die Susi immer so geschwärmt hat, aber seine Eckzähne
fühlen sich genau so an wie vorher. Na gut, er wurde vom Laster überfahren, nicht gebissen.
Er sucht seinen Puls, aber am Handgelenk ist nichts. Er tastet nach der Halsschlagader, aber auch da
pocht nichts. Seine Haut ist weder warm noch kalt. Sie fühlt sich an wie immer. Er denkt daran mit
einem Stethoskop auf seinem Bauch nach Verdauungsgeräuschen zu lauschen, aber das im Schrank
kann er nicht greifen. Er notiert seine Beobachtungen und überlegt, was er als nächstes tun kann.

Geister-Ernst geht zum Apothekenausgang. Die Tür ist verschlossen, Susi hat lange Feierabend
gemacht und ein weisser DIN-A4 Zettel klebt an der Glasscheibe neben der Tür. Er greift nach
dem Türgriff, wieder nichts. Na gut. Dann eben anders. Und er geht durch die Tür, einfach so.

Theorie bestätigt, die Tür, nein.. er streicht das. Ich bin es der keine Materie hat.

Als Geister-Ernst spukt die Strasse entlang. Der Bücherladen, der vor einem halben Jahr dichtgemacht
hat, der Radio-Fernsehfritze, der Schreibwarenladen. Überall tritt er durch die Tür und sieht sich im
Inneren um. Keine Alarmanlage schlägt an. Die Kassen sind überall offen und leer, damit Einbrecher
gar nicht erst auf dumme Gedanken kommen. Bei der Hamburger Sparkasse am Ende der Straße
macht sein totes Herz noch einmal einen Sprung, als er wortlos durch das Glas der Eingangstür gleitet
und an den Geldautomaten vorbei in die Kassenhalle geht. Die Treppe runter in den Tresorraum, und
dann DURCH die massive beinahe einen halben Meter dicke Tresortür. Geld hat ihm vorher schon
wenig bedeutet, jetzt ist es vollkommen belanglos. Aber seinen immateriellen Geisterkopf durch die
stählernen Reihen der Bankschliessfächer zu stecken und zu gucken was da drin ist, ist trotzdem zu
verführerisch!

Er sieht den Inhalt, obwohl da überhaupt kein Licht in den Boxen ist. Bargeld, Schmuck, Festplatten
und USB-Sticks, Fotos. Oh ein Beutelchen mit Pillen und einer mit einem weißen Pulver. Daneben
liegt: eine Pistole, natürlich. Fast wie im Krimi. Ein paar Goldbarren und Krügerrand-Münzen.
Geheime Unterlagen, Verträge, Testamente? Oder einfach nur Quittungen? Seltsame Porno-Magazine.
So vielfältig wie die Menschen selbst, so ist auch diese Sammlung. Oh, ein ganzer Stapel Reisepässe
und ein ganzer Beutel voller Diamanten. Ein paar Smartphones, Fotoapparate, Handy-SIM-Karten,
gut verpackte Micro-SD Karten. Langweilig ist es hier nicht.

Als er sich satt gesehen hat, geht er die Treppe hoch und raus auf die Strasse. Er ist nicht müde,
obwohl er schon einen ganzen Tag hinter sich hat. Aber er denkt an Zu Hause und seinen gemütlichen
Fernsehsessel und er wünscht sich…

Einen Augenblick, ja nur ein Blinzeln später, ist Ernst Zu Hause.

„Oh, Aha.. So geht das also“, denkt er sich. Und als ob es die natürlichste Sache der Welt wäre, setzt er
sich in den Sessel und greift wie immer zur Fernbedienung. Oh, das geht ja nicht mehr! Stimmt ja.
Und anstatt dessen schreibt er in sein Notizbuch:

Notiz für die Reise zum Mond:
Wenn E = mc² war, dann ist Geist = m⁰c∞.
Keine Masse, keine Grenze, nur Geschwindigkeit.
Ich denke – und ich bin dort.

Und er wünscht sich auf den Mond. Aber das klappt nicht. Ein wenig frustriert steckt er das Notizbuch
wieder ein und lehnt sich zurück. Den Kopf am Sessel entspannt er sich und fühlt zum ersten Mal seit
seinem Tod wieder etwas. Er spürt die lebenden Menschen in seiner unmittelbaren Nachbarschaft.

„Faszinierend“ würde Mr. Spock vom Raumschiff Enterprise jetzt sagen.

Die meisten von ihnen schlafen tief und fest, es ist 02:42 Uhr, also mitten in der Nacht.
Aber einige sind noch wach. Eine alte Frau sitzt traurig vor dem Fernseher, ein Pärchen hat gerade
leidenschaftlichen Sex, ein Kind hat Schmerzen und weint. Alles das fühlt Ernst Graumann. Und
irgendwie weiss er sofort, das ist hier im Haus. Wie eine Richtantenne tastet er die Welt ab. Erst in
einem engen Winkel, dann weiter und weiter. Jede starke Emotion ein Impuls, jede Regung ein Echo.
Und er weiss, mit irritierender Präzision: Da drüben, dritte Etage, Nordwestflügel, Trauer. Küche.
Kaffee. Leeres Bett.


Seine Wahrnehmung hat plötzlich Richtung: kein Spüren mehr, sondern Peilen. Geisterpeilen.
Er begreift: Ich bin kein Beobachter mehr. Ich bin ein Empfänger. Eine menschliche Yagi-Antenne.
Aus Fleisch war ich und aus Wellen bin ich jetzt.


Am stärksten leuchten diejenigen, die gerade sehr emotional sind. Emotionen sind sein Sendepegel.
Je stärker der Schmerz, desto schärfer der Fokus. Freude glitzert – Wut brennt – Angst sirrt.
Ernst notiert sich diese Beobachtung nur im Geiste. Aufschreiben braucht er das nicht.

Die Sonne geht auf, und ein neuer Tag bricht an. Plötzlich spürt Geister-Ernst eine neue Präsenz.
Eine neue, die ganz anders ist. Irgendetwas unterscheidet sie deutlich von all den anderen die er
bisher abgetastet hat. Vertraut und doch bedrohlich, sanft und gut aber gleichzeitig böse und brutal.

Er konzentriert sich auf diese Entität und einen Augenblick später..

… steht er in einem Fitness-Studio. Die Uhr zeigt, dass es fast halb zwölf ist, bald Mittag, aber hier ist
sonst niemand. Alle Geräte sind mit Plastikfolie abgedeckt und die Luft riecht nach frischer Farbe.

Nur zwei Handwerker sind noch da, Maler offenbar. Einer liegt tot am Boden, ein Mann wie ein Bär.
Der andere kniet neben ihm, das Gesicht vor Schreck zu Stein erstarrt.

... Forsetzung folgt
 



 
Oben Unten