Blarks
Mitglied
Hallo Zusammen,
hier kommt das nächste kapitel meiner Geschichte um Urians Zorn.
Ich habe mir überlegt, das eine geistergeschichte, auch wenn sie Lustig ist, vielleicht besser
in die Kategorie "Horror und Psycho" passt, deswegen werden alle folgenden Teile dort
erscheinen. Ich weiss nicht, ob man Artikel verschieben kann, aber sonst poste ich die
bisherigen 7 einfach noch einmal dort.
Und jetzt viel Spaß mit Urians Zorn - Der Wartesaal
„Wieso guckte der Jung so komisch?“, fragte Urian, mehr zu sich selbst.
„Der guckt uns an... na und? Moment, kann der uns etwa… sehen?“, antwortete Ernst,
erstarrt vor Erstaunen.
„Aber ich dachte, wir sind jetzt Gespenster oder Geister oder so was?“, dachte Ernst laut.
Sein Verstand begann wieder zu arbeiten. Er hatte sich gerade so halbwegs mit dem Geisterdasein
abgefunden, da kam wieder etwas Neues, Unerklärliches. Unsichtbar sein und durch Wände und
Türen gehen zu können, okay. Aber jetzt plötzlich wieder sichtbar zu sein, verwirrte ihn.
Marvins Gedanken rasten. Er war sich absolut sicher, dass er hier zwei Geister vor sich hatte.
Seine Oma hatte ihn schon als kleines Kind darauf vorbereitet, dass er vielleicht irgendwann
einmal Dinge sehen würde, die andere nicht wahrnehmen konnten und die er nicht verstand.
Bis Marvin dreizehn war, war er von dieser Erfahrung verschont geblieben. Aber nach seinem
dreizehnten Geburtstag hatte er hin und wieder diese „Eindrücke“. Bislang waren das jedoch
ausschließlich positive Erfahrungen. Er fand Dinge, die andere verloren hatten, spürte deutlich,
wenn Menschen ihm wohlgesonnen waren, und wann nicht. Aber bis heute hatte er noch nie
einen Geist gesehen.
Aber es beunruhigte ihn nicht. Für Marvin fühlte es sich eher an, als hätte er eine neue Funktion
an einem Gerät entdeckt. Es weckte seine Neugier, was man damit machen konnte. Er sah und
hörte Urian und Ernst, spürte ihre Präsenz. Seine Intuition verriet ihm, dass von dieser Situation
keine Gefahr ausging. Trotzdem wäre jeder andere vermutlich schreiend weggerannt.
Für Ernst und Urian dagegen begann die Situation langsam unheimlich zu werden.
„Wieso kann der uns sehen?“, fragte Ernst.
„Was fragst du mich? Du bist doch hier der Eierkopf von uns beiden“, antwortete Urian
in einem raueren Tonfall, als er es eigentlich beabsichtigt hatte.
Marvin sah ernst zu ihnen hinüber. Er lächelte nicht mehr, wie eben, als er noch ausgelassen
mit seinen Freunden ins Rollenspiel vertieft gewesen war. Trotz seiner inneren Ruhe wirkte
Marvins konzentrierte Miene auf Außenstehende... finster, sogar auf die zwei Gespenster.
„Ich finde, wir sollten vielleicht lieber…“, begann Ernst.
„… ja, wir verschwinden“, ergänzte Urian.
Beide verschwanden in Richtung Ausgang, glitten durch die geschlossene Kneipentür
hindurch und traten auf die Straße. Draußen war es still, nur ein verrückter Motorradfahrer
knatterte mit seinem viel zu lauten Auspuff irgendwo durch die Nacht. Der Mond war durch
die dichten Wolken verdeckt. Aber in einer Großstadt wie Hamburg wurde es sowieso niemals
richtig dunkel. Außer... auf einem Friedhof.
„Und jetzt?“, fragte Ernst, als Urian über den Gehweg schwebte und Ernst immer noch ganz
erdverbunden neben ihm ging.
„Keine Ahnung, ich müsste eigentlich zurück, weitermalen. Aber das hat sich ja wohl jetzt erledigt.
Google du das doch mal, ich hab keine Ahnung, was Geister so machen oder wie es weitergeht.
Obwohl, ich könnte mich schon daran gewöhnen, unsichtbar zu sein, durch Wände zu gehen und
Arschlöcher zu erschrecken. Eigentlich wird damit für mich ein Kindheitstraum wahr“, grinste Urian.
„Ich hatte kein Handy, hatte ich noch nie“, gab Ernst zurück.
„Außerdem bezweifle ich, dass es im Jenseits Empfang gibt. Aber ich hätte da noch eine andere Idee.“
Er erzählte von dem Moment in seinem Zuhause und wie er die Signale der Lebenden gespürt hatte.
Von seinem Erlebnis als menschliches Radar. Ernst konnte gut Dinge erklären.
Urian lauschte mit offenem Mund und legte den Kopf schräg zur Seite, wie immer, wenn er jemandem
intensiv zuhörte. Dadurch sah er immer leicht dümmlich aus, aber das hatte sich nur einmal jemand
getraut, ihm zu sagen. Der lebte allerdings noch.
„Okay, ich glaube, ich habe da was. Jemand mit Wissen und der Bereitschaft, es zu teilen. Komm mit,
wir machen das wie vorhin“, sagte Ernst.
„Hä? Ich denke, du kannst nur Menschen spüren, und jetzt hast du plötzlich Zugriff auf... ja, was?
Gibt es etwa ein Geister-Internet, ein Ghost-Net?“, fragte Urian verwirrt.
„Äh... vertrau mir einfach“, sagte Ernst und spürte einen ungewohnten Widerstand in sich.
Normalerweise folgten die Leute seinen logischen Erklärungen. Jetzt musste er auf dieses
seltsame Gefühl setzen.
Also blickte Urian ihm in die Augen, und so teleportierte Ernst sie beide ebenso lautlos wie plötzlich
quer durch die Stadt auf den jüdischen Friedhof in Altona.
„Ein Friedhof?!“, fragte Urian. „Cool!“
Auf der Straße, nahe dem Friedhof, war immer noch viel Verkehr. Selbst mitten in der Nacht.
Der Friedhof lag an der Königstraße, der Verlängerung der Reeperbahn. Von allen Straßen der
Stadt war dies ein Ort, an dem es niemals völlig still wurde. Aber den Lebenden war der Zutritt
durch einen Zaun verwehrt. Ohne Termin und einen Führer… ja, es gab in Deutschland trotz
allem immer noch einen Führer, auch wenn es in diesem Fall nur der Friedhofsführer der Jüdischen
Gemeinde war. Aber ohne diesen Führer kam niemand auf den Friedhof.
Und so standen Ernst und Urian mitten auf dem gepflegten, aber verlassenen Ort, zwischen
moosüberwachsenen Grabsteinen mit hebräischen Inschriften. Doch sie waren nicht allein. Ernst
zeigte auf einen Geist, der auf einem Grabstein saß. Seine Kleidung war alt, zerfranst, der Hut wie
aus einer anderen Zeit. Er hielt einen verwelkten Strauß Blumen in der Hand, der seltsam leuchtete,
und starrte traurig auf den Boden, da, wo vermutlich sein Grab war.
„Irgendwas ist komisch an dem“, bemerkte Ernst sofort. „Er wirkt nett von hier aus, aber irgendwas
sagt mir, dass wir ihm lieber nicht zu nahekommen sollten.“
Urian juckte das nicht. „Ach was, so’ne halbe Portion... der tut nix.“
Der Geist am Grabstein war recht klein und schmächtig, vielleicht nur einen Meter siebzig groß. Urian
dagegen, mit seinen 1,98 Metern, hätte ihn zu Lebzeiten sicher unangespitzt in den Boden gerammt.
Aber hier war irgendwie alles anders. Einen großen, starken Freund an der Seite zu haben, beruhigte
Ernst nur wenig. Trotzdem näherten sie sich ihm. Langsam jedenfalls Ernst. Urian marschierte vollkommen
selbstbewusst auf den Mann am Grabstein zu.
„Sie kommt gleich“, murmelte der mit den seltsamen Blumen. „Sie hat’s mir versprochen. Sie kommt
immer nach dem Schabbat. Wenn der neue Tag beginnt, bringt sie mir frische Lilien.“
Der Mann sprach mit einer sanften, weichen Stimme und einer leicht fremden Intonation.
Portugiesisch eingefärbt. Er sah auf. Seine Augen waren milchig, aber freundlich. Seine Bewegungen
langsam und müde.
„Ihr seid wohl erst kürzlich hier eingetroffen?“, stellte er fest.
Ernst nickte zögerlich. „Äh... ja. Gerade angekommen.“
„Dann herzlich willkommen... im Wartesaal.“
„Im was?“
„Im Wartesaal, meine Freunde. Manche nennen’s Jenseits, andere Übergang. Ich warte
nur auf meine Frau. Sie kommt gleich.“
Er lächelte, ein seltsam trauriges Lächeln. Einiges an ihm sah nach einem jungen Mann aus,
vielleicht wegen seiner Kleidung aus einem anderen Jahrhundert. Aber was man von seiner
Haut sehen konnte, wirkte trocken, faltig und eingefallen. So, wie man sich bei einem echten
Gespenst vorstellt.
„Seit wann wartest du denn?“, fragte Urian.
„Drei oder vier... ach, ich weiß es nicht mehr. Ich habe aufgehört zu zählen, seit der Rabbi nicht
mehr kommt. Die Zeit vergeht seltsam anders an diesem Ort. Viele Dinge haben sich geändert.
Ich habe lange damit aufgehört, mich über die seltsamen Gewänder der Menschen
zu wundern. Die Tracht wandelte sich auch zu meiner Zeit, doch so wie jetzt war’s noch nie.“
Ernst trat näher. „Und... sie bringt dir Blumen?“
„Immer dieselben. Weiße Lilien. Nur sie riechen hier noch nach Leben.“
Urian war still. Er wollte irgendetwas sagen, aber ihm fiel nichts ein. Der alte Geist summte leise
eine Melodie, vielleicht ein Lied, das er und seine Frau einmal zusammen gehört hatten. Dann
blickte er in die Dunkelheit, als sähe er dort etwas, das die anderen nicht sahen.
„Ihr könnt gerne bleiben, wenn ihr wollt. Ihr tragt keine Uniformen wie die Männer, die die Steine
damals kaputt gemacht haben. Wisst ihr noch, wann ihr gestorben seid?“, begann er ein Gespräch,
auf einmal wieder ganz im Hier und Jetzt.
„Ja, gestern, glaube ich“, antwortete Urian.
„Tja...“ Der Alte seufzte und strich sich über den Mantel, als wollte er Staub abwischen, der nicht mehr
da war. „Ihr habt sicher viele Fragen. Ich sollte mich vorstellen. Mein Name ist Isaak ben David Alvarenga.
Aber die meisten nennen mich einfach nur David.“
Er stand langsam auf, legte die verwelkten Blumen vorsichtig auf den Grabstein und nahm eine aufrechte
Haltung ein, wie ein Geschäftsmann.
„Geboren wurde ich im Jahr 1598, in Porto, im sonnigen Portugal.
Gestorben bin ich 1625 hier, im viel kälteren Altona.“
Ein schwaches Lächeln glitt über sein Gesicht. „Meine Frau Rebekka kommt gewöhnlich am Ende der
Woche und bringt mir frische Lilien. So war es jedenfalls... damals. Vielleicht ist sie heute nur verspätet.
Ich war Händler“, begann er, fast flüsternd. „Mit meinem Vater zog ich über das Meer. Nach Amsterdam,
nach Danzig, später nach Hamburg. Wir handelten mit Tüchern, Gewürzen, ein bisschen mit allem, was
nach Ferne roch. Ich war jung, stolz und dachte, die Welt wäre gerecht, wenn man nur anständig blieb.
Habt ihr meine Frau gesehen? Ihr Name ist Rebekka, sie wäre euch sicher aufgefallen. Ja…“
Er lachte kurz, ohne Freude. Dann sah er in die Dunkelheit, als lausche er auf Schritte, die nie kamen.
Mal wirkte er sehr vertrottelt, mal klar bei Verstand.
„Hallo David, ich bin Urian und das ist Ernst.“
Urian ging näher auf ihn zu und streckte seine Hand zum Gruß aus. Zögerlich erwiderte David die
ausgestreckte Hand, und Ernst bemerkte, dass Urian jetzt kleiner war. Er war
nicht mehr zwei Meter groß, sondern fast auf Augenhöhe mit David.
Wie war das möglich? Urian war immer noch groß und stark und strahlte trotz seiner geisterhaften
Blässe eine seltsame Vitalität aus. Vielleicht lag das daran, dass beide noch so frisch verstorben waren.
Ernst sah an sich herab und prüfte kurz die Proportionen. Nach einer innerlich durchgeführten
Triangulation unter Zuhilfenahme der örtlichen Grabsteine kam er zu dem Ergebnis, dass er selbst
weder gewachsen noch geschrumpft war. Was ihn einerseits beruhigte, andererseits aber auch keine
wirklich neuen Erkenntnisse brachte.
„Es ist schön, euch beide kennenzulernen. Nicht mehr viele finden den Weg hierher“,
sagte David. Seine Oberlippe, die Mundwinkel zuckten seltsam schwach. Was versuchte
er zu verbergen, seine Zähne? Das bekräftigte Ernst Einschätzung, der Mann war nicht ganz koscher.
Ernst stand jetzt direkt neben Urian, und als die beiden Männer die Hände schüttelten, sah er David
lächeln und seine Augen kurz seltsam weiß aufleuchten.
„Wie seid ihr gestorben, meine Freunde? Mich hat die Pest geholt, wie so viele in jener Zeit.
Meine Frau ist auch krank, trotzdem findet sie immer noch die Kraft, mir Blumen zu bringen.
Hier, seht!“
Er nahm die Blumen wieder vom Grabstein und schüttelte auch Ernst die Hand. Für einen Geist
fühlte sich die Hand bemerkenswert lebendig an und nicht so kalt, wie Ernst befürchtet hatte.
Wieder loderte ein eigenartiges weißes Feuer in seinen Augen, dieses Mal noch deutlicher.
Aber ebenso schnell verschwand es wieder. War das Freude?
„Ich hatte ein Haus nahe dem Hafen, zwei Zimmer, kaum größer als dieser Stein hier. Rebekka blieb
bei mir, obwohl sie hätte fliehen können. Ich schwitzte, redete im Fieber, nannte jeden Tag ihren
Namen. Und irgendwann war alles still. Nur der Regen blieb.“
Er sah auf seine Hände, durchscheinend und alt wie Papier.
„Sie hat mir Blumen gebracht, sagt man. Lilien. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Ich erinnere mich nur
an ihren Geruch. Vielleicht hat der Wind ihn gebracht. Vielleicht war’s ein Traum. Und irgendwann hab
ich angefangen zu warten. Die Pest hat so viele genommen. Sie bringen Rebekka sicher auch bald.“
Er setzte sich wieder auf den Grabstein, faltete die Hände und wirkte für einen Moment friedlich.
„1625?? Alter, das ist vierhundert Jahre her! Ich wär gestorben, wenn ich vierhundert Jahre hier... oh, äh...“,
platzte Urian heraus.
Wortlos zeigte David auf seinen Grabstein, dort stand auf Hebräisch und Deutsch:
Hier ruht Isaak ben David Alvarenga,
geboren in Porto, gestorben in Altona,
treu im Glauben, sanft im Herzen.
Er wartete auf das Licht und fand den Frieden.
5385 nach der Schöpfung.
Tehi nafsho tzerurah b’tzror ha-chayyim
(Möge seine Seele eingebunden sein im Bund des Lebens.)
Jetzt ergriff Ernst das Wort. „Bei mir war es ein Autounfall. Ich habe nichts davon gespürt,
aber es sah sehr blutig aus, als ich daran vorbeikam.“
David zeigte mit seiner dünnen, knochigen Hand in Richtung der Straße, wo gerade ein
Polizeiauto vorbeifuhr – eine moderne Mercedes E-Klasse. „So eines?“
„Nein“, antwortete Ernst. „Ein viel Größeres, ein Zementlaster.“
Er machte hilflose Gesten mit den Armen. Das hatte was von Scharade.
„Also, wenn du 1598 geboren und 1625 gestorben bist, dann warst du gerade mal 27. Eine Schande,
mitten im Leben!“ Ernst taute langsam auf, wurde gesprächig. Er hatte Freunde in dem Alter verloren.
„Aber bitte verzeih meine Offenheit, du siehst nicht aus wie 27. Altern wir nach dem Tod weiter?“
David lächelte matt. „Nein, mein Freund. Wir altern nicht, wir warten. Auf das Licht, auf den Ruf.“
Er deutete auf seinen Grabstein. „Darum bleiben unsere Gräber unberührt. Kein Stein darf weichen,
bis die Seelen zurückkehren. Jeder soll ruhen, wo er gefallen ist.“
Ein Windstoß fuhr durch die kahlen Äste, trug ein paar Blätter über den Pfad. David sah zu Ernst
hinüber, dann zu Urian.
„Vierhundert Jahre, sagst du?“ Er schmunzelte leise. „Nun... in vierhundert Jahren, so fürchte ich,
werdet ihr beide auch nicht besser aussehen.“
Er sah zu den beiden hinüber, der Mundwinkel hob sich zu einem schiefen Lächeln.
„Wieso kann ich schweben wie ein Djinn und fliegen wie eine Rakete, und Ernst geht immer noch
zu Fuß?“, fragte Urian.
David hob die Augenbrauen. „Du hast deine neue Gestalt schneller angenommen.
Dein Freund... hmm, Ernst. Er hadert noch mit seinem neuen Sein. Ihr beide seid nun
im Jenseits, meine Freunde. Behaltet dies immer in euren Herzen:
Nur eure Vorstellung kennt noch Mauern!“
„Und mein Notizblock? Wieso kann ich mir Notizen machen, aber Urian kann nicht mal ein
Glas Bier anheben?“, fragte Ernst.
„Weil du dein Schreibzeug bei dir hattest, als dich der Wagen überfuhr. Alles, was du im Augenblick
deines Todes bei dir hattest, bleibt auch bei dir. Diese Dinge sind ein Teil von dir geworden. Genauso
wie deine Hose. Stell dir mal vor, du müsstest tot ohne Hose rumlaufen!“
David lachte zum ersten Mal an diesem Abend. Oder vielleicht sogar zum ersten Mal in diesem Jahr,
diesem Jahrzehnt, diesem Jahrhundert!
Die drei Männer lachten schallend über den ganzen Friedhof. Aber kein anderer Geist stieg aus
seinem Grab und verlangte danach, in Frieden ruhen zu können.
„Ha, ha, ha... tot und ohne Hose, stell dir das mal vor!“, Urian schüttete sich aus vor Lachen und
klopfte Ernst freundschaftlich auf die Schulter.
Er dachte wieder an die gute Stimmung in der Kneipe. Ob David vielleicht gerne mitkommen würde?
„Hey, sag mal, meinst du, deine Frau kommt noch? Sonst komm doch mit, Ernst und ich waren gerade...“
Aber weiter kam er nicht. Die heitere Stimmung schlug abrupt um.
„Rebekka wird kommen. SIE WIRD KOMMEN!“, schrie David plötzlich.
„Ich habe 400 Jahre gewartet... und jetzt sagt mir ein Fremder, sie komme nicht?“
Der ruhige, sanfte, kleine Mann verwandelte sich langsam. Seine Arme hingen immer noch an ihm herab,
aber seine Hände ballten sich zu Fäusten, und er winkelte seine Arme an.
„LÜGEN! ALLES LÜGEN!“, brüllte er sich in Rage.
„REBEKKA IST KRANK! SIE WIRD BALD STERBEN UND DANN SIND WIR WIEDER ZUSAMMEN!“
Der sanfte Geist war nicht mehr wiederzuerkennen, und er wurde größer.
Ernst stand jetzt hinter Urian und sah das weiße Feuer in Davids Augen, nur jetzt viel stärker.
Auch Urian wurde langsam angespannt, blieb aber äußerlich ruhig. Nicht sein erster Kampf.
„Hey, alles gut, mein Großer, sie kommt sicher bald. Ich hab’s nicht so gemeint“,
versuchte er, ihn zu beruhigen. Aber vergeblich.
„KEIN ANDERER MANN WIRD JE SEINE HAND AN MEINE REBEKKA LEGEN!“
David war mittlerweile zu einem zwei Meter großen Monster geworden, mit feurig weiß leuchtenden Augen.
Sein Mund war unnatürlich groß, seine vier Eckzähne hatten sich zu Fangzähnen verlängert, die ihm aus dem
Maul klafften wie bei einem Löwen. Haut und Kleidung hatten ein tiefes Schwarz angenommen, und silberne
Risse überzogen seinen Körper, wie etwas, das jeden Moment zu platzen drohte. Er war außer sich vor Zorn!
„Jetzt mach mal halblang, Arschloch!“, fuhr Urian sich hoch.
Zu oft in seinem Leben hatte er mit Leuten zu tun, die sich mit ihm messen wollten. Der Fluch, wenn man groß
und stark ist. Alle wollen dich herausfordern. Gut, die anderen hatten zumindest keine Klauen, Hörner und
Fangzähne wie der hier. Aber Urian wusste längst, wie man mit der Sorte umgehen musste. Innerlich fuhr er
seine animalische Kampfbereitschaft hoch. Das zeigte sich äußerlich daran, das er tatsächlich größer wurde.
„Letzte Warnung, REISS DICH ZUSAMMEN!“, herrschte er das David-Monster an.
Jetzt war Urian ebenfalls zwei Meter Größe herangewachsen und wieder auf Augenhöhe mit David. Zwei Monster,
die einander gegenüberstanden, doch das beeindruckte David nicht im Geringsten.
Ernst war derweil in Deckung gegangen und beobachtete die Szene vom Haus der Friedhofsverwaltung aus, etwa
zwanzig Meter entfernt. Er stand hinter dem Müllcontainer und machte sich klein wie eine Maus. Tatsächlich war
seine Geistergestalt auf Mausgröße geschrumpft. Er war kaum noch zu sehen, wenn seine restliche Lebenskraft
nur nicht so hell geleuchtet hätte. Urian und David hatte er dabei fest im Blick.
Urian hob beschwichtigend die Hände. Er wusste, was jetzt kommen würde. Doch dann geschah das Unerwartete.
Das David-Monster ging an ihm vorbei, in Richtung Friedhofsverwaltung. Mit einem gutturalen, kehligen Brüllen
beugte es sich zu Ernst hinunter.
Ernst geisterhafter Körper zuckte in der überraschend warmen Hand Davids. Eine Flucht erschien ausgeschlossen.
Den Tod vor Augen, erneut, sah Ernst das Gesicht des Monsters immer näher auf sich zukommen. Zwei weiße Sonnen,
kalt wie der Mond, funkelten aus Davids Augen.
Der letzte Gedanke, der Ernst durch den Kopf ging, als David sein Maul öffnete, um ihn zu verschlingen, war:
Wenn ich jetzt sowieso schon tot bin – was kommt dann?
David biss zu, aber verfehlte sein Ziel. Kraftvoll krachend schlugen seine Zähne aufeinander.
Urian war jetzt drei Meter angewachsen und überragte David ein ganzes Stück. Urian hatte einen hochroten Kopf
mit wutverzerrter Fratze. Aber in seinen Augen spiegelte sich ein seltsamer Ausdruck von Zufriedenheit und Wahnsinn.
Unmittelbar bevor David noch einmal zuschnappen konnte, traf ihn ein gewaltiger Fausthieb von Urian, dessen Faust
jetzt tatsächlich wie ein riesiger Hammer aussah. Schnell wich die Wut aus Urians Gesicht und wurde nach dem Treffer
durch ein beglücktes Lächeln ersetzt.
PATSCH!
Urians flache Hand klatschte in Davids Gesicht. Dieser sah nun völlig entgeistert zu ihm auf, damit hatte er offensichtlich
nicht gerechnet. Davids Hand verlor ihre Kraft und gab Ernst frei. Wie ein kleiner Spatz flog dieser aus eigener Kraft fort
zur Friedhofsmauer.
Als Urian das sah, schlug er noch einmal mit aller Härte zu und traf David mitten auf die Brust. Das schleuderte ihn an
das andere Ende des Friedhofs, immerhin zweihundert Meter weit.
Na ja, ein Geist eben: kein Gewicht, keine Masse... der hätte auch bis nach Blankenese fliegen können.
Noch im Flug schrumpfte David und verwandelte sich zurück in den freundlichen David von vorhin.
Urian atmete tief durch und nahm wieder seine normale Größe an.
Ohne David weiter zu beachten, ging Urian zu Ernst.
„Entschuldigung“, flüsterte David, während er langsam in den Schatten der Grabsteine versank.
hier kommt das nächste kapitel meiner Geschichte um Urians Zorn.
Ich habe mir überlegt, das eine geistergeschichte, auch wenn sie Lustig ist, vielleicht besser
in die Kategorie "Horror und Psycho" passt, deswegen werden alle folgenden Teile dort
erscheinen. Ich weiss nicht, ob man Artikel verschieben kann, aber sonst poste ich die
bisherigen 7 einfach noch einmal dort.
Und jetzt viel Spaß mit Urians Zorn - Der Wartesaal
„Wieso guckte der Jung so komisch?“, fragte Urian, mehr zu sich selbst.
„Der guckt uns an... na und? Moment, kann der uns etwa… sehen?“, antwortete Ernst,
erstarrt vor Erstaunen.
„Aber ich dachte, wir sind jetzt Gespenster oder Geister oder so was?“, dachte Ernst laut.
Sein Verstand begann wieder zu arbeiten. Er hatte sich gerade so halbwegs mit dem Geisterdasein
abgefunden, da kam wieder etwas Neues, Unerklärliches. Unsichtbar sein und durch Wände und
Türen gehen zu können, okay. Aber jetzt plötzlich wieder sichtbar zu sein, verwirrte ihn.
Marvins Gedanken rasten. Er war sich absolut sicher, dass er hier zwei Geister vor sich hatte.
Seine Oma hatte ihn schon als kleines Kind darauf vorbereitet, dass er vielleicht irgendwann
einmal Dinge sehen würde, die andere nicht wahrnehmen konnten und die er nicht verstand.
Bis Marvin dreizehn war, war er von dieser Erfahrung verschont geblieben. Aber nach seinem
dreizehnten Geburtstag hatte er hin und wieder diese „Eindrücke“. Bislang waren das jedoch
ausschließlich positive Erfahrungen. Er fand Dinge, die andere verloren hatten, spürte deutlich,
wenn Menschen ihm wohlgesonnen waren, und wann nicht. Aber bis heute hatte er noch nie
einen Geist gesehen.
Aber es beunruhigte ihn nicht. Für Marvin fühlte es sich eher an, als hätte er eine neue Funktion
an einem Gerät entdeckt. Es weckte seine Neugier, was man damit machen konnte. Er sah und
hörte Urian und Ernst, spürte ihre Präsenz. Seine Intuition verriet ihm, dass von dieser Situation
keine Gefahr ausging. Trotzdem wäre jeder andere vermutlich schreiend weggerannt.
Für Ernst und Urian dagegen begann die Situation langsam unheimlich zu werden.
„Wieso kann der uns sehen?“, fragte Ernst.
„Was fragst du mich? Du bist doch hier der Eierkopf von uns beiden“, antwortete Urian
in einem raueren Tonfall, als er es eigentlich beabsichtigt hatte.
Marvin sah ernst zu ihnen hinüber. Er lächelte nicht mehr, wie eben, als er noch ausgelassen
mit seinen Freunden ins Rollenspiel vertieft gewesen war. Trotz seiner inneren Ruhe wirkte
Marvins konzentrierte Miene auf Außenstehende... finster, sogar auf die zwei Gespenster.
„Ich finde, wir sollten vielleicht lieber…“, begann Ernst.
„… ja, wir verschwinden“, ergänzte Urian.
Beide verschwanden in Richtung Ausgang, glitten durch die geschlossene Kneipentür
hindurch und traten auf die Straße. Draußen war es still, nur ein verrückter Motorradfahrer
knatterte mit seinem viel zu lauten Auspuff irgendwo durch die Nacht. Der Mond war durch
die dichten Wolken verdeckt. Aber in einer Großstadt wie Hamburg wurde es sowieso niemals
richtig dunkel. Außer... auf einem Friedhof.
„Und jetzt?“, fragte Ernst, als Urian über den Gehweg schwebte und Ernst immer noch ganz
erdverbunden neben ihm ging.
„Keine Ahnung, ich müsste eigentlich zurück, weitermalen. Aber das hat sich ja wohl jetzt erledigt.
Google du das doch mal, ich hab keine Ahnung, was Geister so machen oder wie es weitergeht.
Obwohl, ich könnte mich schon daran gewöhnen, unsichtbar zu sein, durch Wände zu gehen und
Arschlöcher zu erschrecken. Eigentlich wird damit für mich ein Kindheitstraum wahr“, grinste Urian.
„Ich hatte kein Handy, hatte ich noch nie“, gab Ernst zurück.
„Außerdem bezweifle ich, dass es im Jenseits Empfang gibt. Aber ich hätte da noch eine andere Idee.“
Er erzählte von dem Moment in seinem Zuhause und wie er die Signale der Lebenden gespürt hatte.
Von seinem Erlebnis als menschliches Radar. Ernst konnte gut Dinge erklären.
Urian lauschte mit offenem Mund und legte den Kopf schräg zur Seite, wie immer, wenn er jemandem
intensiv zuhörte. Dadurch sah er immer leicht dümmlich aus, aber das hatte sich nur einmal jemand
getraut, ihm zu sagen. Der lebte allerdings noch.
„Okay, ich glaube, ich habe da was. Jemand mit Wissen und der Bereitschaft, es zu teilen. Komm mit,
wir machen das wie vorhin“, sagte Ernst.
„Hä? Ich denke, du kannst nur Menschen spüren, und jetzt hast du plötzlich Zugriff auf... ja, was?
Gibt es etwa ein Geister-Internet, ein Ghost-Net?“, fragte Urian verwirrt.
„Äh... vertrau mir einfach“, sagte Ernst und spürte einen ungewohnten Widerstand in sich.
Normalerweise folgten die Leute seinen logischen Erklärungen. Jetzt musste er auf dieses
seltsame Gefühl setzen.
Also blickte Urian ihm in die Augen, und so teleportierte Ernst sie beide ebenso lautlos wie plötzlich
quer durch die Stadt auf den jüdischen Friedhof in Altona.
„Ein Friedhof?!“, fragte Urian. „Cool!“
Auf der Straße, nahe dem Friedhof, war immer noch viel Verkehr. Selbst mitten in der Nacht.
Der Friedhof lag an der Königstraße, der Verlängerung der Reeperbahn. Von allen Straßen der
Stadt war dies ein Ort, an dem es niemals völlig still wurde. Aber den Lebenden war der Zutritt
durch einen Zaun verwehrt. Ohne Termin und einen Führer… ja, es gab in Deutschland trotz
allem immer noch einen Führer, auch wenn es in diesem Fall nur der Friedhofsführer der Jüdischen
Gemeinde war. Aber ohne diesen Führer kam niemand auf den Friedhof.
Und so standen Ernst und Urian mitten auf dem gepflegten, aber verlassenen Ort, zwischen
moosüberwachsenen Grabsteinen mit hebräischen Inschriften. Doch sie waren nicht allein. Ernst
zeigte auf einen Geist, der auf einem Grabstein saß. Seine Kleidung war alt, zerfranst, der Hut wie
aus einer anderen Zeit. Er hielt einen verwelkten Strauß Blumen in der Hand, der seltsam leuchtete,
und starrte traurig auf den Boden, da, wo vermutlich sein Grab war.
„Irgendwas ist komisch an dem“, bemerkte Ernst sofort. „Er wirkt nett von hier aus, aber irgendwas
sagt mir, dass wir ihm lieber nicht zu nahekommen sollten.“
Urian juckte das nicht. „Ach was, so’ne halbe Portion... der tut nix.“
Der Geist am Grabstein war recht klein und schmächtig, vielleicht nur einen Meter siebzig groß. Urian
dagegen, mit seinen 1,98 Metern, hätte ihn zu Lebzeiten sicher unangespitzt in den Boden gerammt.
Aber hier war irgendwie alles anders. Einen großen, starken Freund an der Seite zu haben, beruhigte
Ernst nur wenig. Trotzdem näherten sie sich ihm. Langsam jedenfalls Ernst. Urian marschierte vollkommen
selbstbewusst auf den Mann am Grabstein zu.
„Sie kommt gleich“, murmelte der mit den seltsamen Blumen. „Sie hat’s mir versprochen. Sie kommt
immer nach dem Schabbat. Wenn der neue Tag beginnt, bringt sie mir frische Lilien.“
Der Mann sprach mit einer sanften, weichen Stimme und einer leicht fremden Intonation.
Portugiesisch eingefärbt. Er sah auf. Seine Augen waren milchig, aber freundlich. Seine Bewegungen
langsam und müde.
„Ihr seid wohl erst kürzlich hier eingetroffen?“, stellte er fest.
Ernst nickte zögerlich. „Äh... ja. Gerade angekommen.“
„Dann herzlich willkommen... im Wartesaal.“
„Im was?“
„Im Wartesaal, meine Freunde. Manche nennen’s Jenseits, andere Übergang. Ich warte
nur auf meine Frau. Sie kommt gleich.“
Er lächelte, ein seltsam trauriges Lächeln. Einiges an ihm sah nach einem jungen Mann aus,
vielleicht wegen seiner Kleidung aus einem anderen Jahrhundert. Aber was man von seiner
Haut sehen konnte, wirkte trocken, faltig und eingefallen. So, wie man sich bei einem echten
Gespenst vorstellt.
„Seit wann wartest du denn?“, fragte Urian.
„Drei oder vier... ach, ich weiß es nicht mehr. Ich habe aufgehört zu zählen, seit der Rabbi nicht
mehr kommt. Die Zeit vergeht seltsam anders an diesem Ort. Viele Dinge haben sich geändert.
Ich habe lange damit aufgehört, mich über die seltsamen Gewänder der Menschen
zu wundern. Die Tracht wandelte sich auch zu meiner Zeit, doch so wie jetzt war’s noch nie.“
Ernst trat näher. „Und... sie bringt dir Blumen?“
„Immer dieselben. Weiße Lilien. Nur sie riechen hier noch nach Leben.“
Urian war still. Er wollte irgendetwas sagen, aber ihm fiel nichts ein. Der alte Geist summte leise
eine Melodie, vielleicht ein Lied, das er und seine Frau einmal zusammen gehört hatten. Dann
blickte er in die Dunkelheit, als sähe er dort etwas, das die anderen nicht sahen.
„Ihr könnt gerne bleiben, wenn ihr wollt. Ihr tragt keine Uniformen wie die Männer, die die Steine
damals kaputt gemacht haben. Wisst ihr noch, wann ihr gestorben seid?“, begann er ein Gespräch,
auf einmal wieder ganz im Hier und Jetzt.
„Ja, gestern, glaube ich“, antwortete Urian.
„Tja...“ Der Alte seufzte und strich sich über den Mantel, als wollte er Staub abwischen, der nicht mehr
da war. „Ihr habt sicher viele Fragen. Ich sollte mich vorstellen. Mein Name ist Isaak ben David Alvarenga.
Aber die meisten nennen mich einfach nur David.“
Er stand langsam auf, legte die verwelkten Blumen vorsichtig auf den Grabstein und nahm eine aufrechte
Haltung ein, wie ein Geschäftsmann.
„Geboren wurde ich im Jahr 1598, in Porto, im sonnigen Portugal.
Gestorben bin ich 1625 hier, im viel kälteren Altona.“
Ein schwaches Lächeln glitt über sein Gesicht. „Meine Frau Rebekka kommt gewöhnlich am Ende der
Woche und bringt mir frische Lilien. So war es jedenfalls... damals. Vielleicht ist sie heute nur verspätet.
Ich war Händler“, begann er, fast flüsternd. „Mit meinem Vater zog ich über das Meer. Nach Amsterdam,
nach Danzig, später nach Hamburg. Wir handelten mit Tüchern, Gewürzen, ein bisschen mit allem, was
nach Ferne roch. Ich war jung, stolz und dachte, die Welt wäre gerecht, wenn man nur anständig blieb.
Habt ihr meine Frau gesehen? Ihr Name ist Rebekka, sie wäre euch sicher aufgefallen. Ja…“
Er lachte kurz, ohne Freude. Dann sah er in die Dunkelheit, als lausche er auf Schritte, die nie kamen.
Mal wirkte er sehr vertrottelt, mal klar bei Verstand.
„Hallo David, ich bin Urian und das ist Ernst.“
Urian ging näher auf ihn zu und streckte seine Hand zum Gruß aus. Zögerlich erwiderte David die
ausgestreckte Hand, und Ernst bemerkte, dass Urian jetzt kleiner war. Er war
nicht mehr zwei Meter groß, sondern fast auf Augenhöhe mit David.
Wie war das möglich? Urian war immer noch groß und stark und strahlte trotz seiner geisterhaften
Blässe eine seltsame Vitalität aus. Vielleicht lag das daran, dass beide noch so frisch verstorben waren.
Ernst sah an sich herab und prüfte kurz die Proportionen. Nach einer innerlich durchgeführten
Triangulation unter Zuhilfenahme der örtlichen Grabsteine kam er zu dem Ergebnis, dass er selbst
weder gewachsen noch geschrumpft war. Was ihn einerseits beruhigte, andererseits aber auch keine
wirklich neuen Erkenntnisse brachte.
„Es ist schön, euch beide kennenzulernen. Nicht mehr viele finden den Weg hierher“,
sagte David. Seine Oberlippe, die Mundwinkel zuckten seltsam schwach. Was versuchte
er zu verbergen, seine Zähne? Das bekräftigte Ernst Einschätzung, der Mann war nicht ganz koscher.
Ernst stand jetzt direkt neben Urian, und als die beiden Männer die Hände schüttelten, sah er David
lächeln und seine Augen kurz seltsam weiß aufleuchten.
„Wie seid ihr gestorben, meine Freunde? Mich hat die Pest geholt, wie so viele in jener Zeit.
Meine Frau ist auch krank, trotzdem findet sie immer noch die Kraft, mir Blumen zu bringen.
Hier, seht!“
Er nahm die Blumen wieder vom Grabstein und schüttelte auch Ernst die Hand. Für einen Geist
fühlte sich die Hand bemerkenswert lebendig an und nicht so kalt, wie Ernst befürchtet hatte.
Wieder loderte ein eigenartiges weißes Feuer in seinen Augen, dieses Mal noch deutlicher.
Aber ebenso schnell verschwand es wieder. War das Freude?
„Ich hatte ein Haus nahe dem Hafen, zwei Zimmer, kaum größer als dieser Stein hier. Rebekka blieb
bei mir, obwohl sie hätte fliehen können. Ich schwitzte, redete im Fieber, nannte jeden Tag ihren
Namen. Und irgendwann war alles still. Nur der Regen blieb.“
Er sah auf seine Hände, durchscheinend und alt wie Papier.
„Sie hat mir Blumen gebracht, sagt man. Lilien. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Ich erinnere mich nur
an ihren Geruch. Vielleicht hat der Wind ihn gebracht. Vielleicht war’s ein Traum. Und irgendwann hab
ich angefangen zu warten. Die Pest hat so viele genommen. Sie bringen Rebekka sicher auch bald.“
Er setzte sich wieder auf den Grabstein, faltete die Hände und wirkte für einen Moment friedlich.
„1625?? Alter, das ist vierhundert Jahre her! Ich wär gestorben, wenn ich vierhundert Jahre hier... oh, äh...“,
platzte Urian heraus.
Wortlos zeigte David auf seinen Grabstein, dort stand auf Hebräisch und Deutsch:
Hier ruht Isaak ben David Alvarenga,
geboren in Porto, gestorben in Altona,
treu im Glauben, sanft im Herzen.
Er wartete auf das Licht und fand den Frieden.
5385 nach der Schöpfung.
Tehi nafsho tzerurah b’tzror ha-chayyim
(Möge seine Seele eingebunden sein im Bund des Lebens.)
Jetzt ergriff Ernst das Wort. „Bei mir war es ein Autounfall. Ich habe nichts davon gespürt,
aber es sah sehr blutig aus, als ich daran vorbeikam.“
David zeigte mit seiner dünnen, knochigen Hand in Richtung der Straße, wo gerade ein
Polizeiauto vorbeifuhr – eine moderne Mercedes E-Klasse. „So eines?“
„Nein“, antwortete Ernst. „Ein viel Größeres, ein Zementlaster.“
Er machte hilflose Gesten mit den Armen. Das hatte was von Scharade.
„Also, wenn du 1598 geboren und 1625 gestorben bist, dann warst du gerade mal 27. Eine Schande,
mitten im Leben!“ Ernst taute langsam auf, wurde gesprächig. Er hatte Freunde in dem Alter verloren.
„Aber bitte verzeih meine Offenheit, du siehst nicht aus wie 27. Altern wir nach dem Tod weiter?“
David lächelte matt. „Nein, mein Freund. Wir altern nicht, wir warten. Auf das Licht, auf den Ruf.“
Er deutete auf seinen Grabstein. „Darum bleiben unsere Gräber unberührt. Kein Stein darf weichen,
bis die Seelen zurückkehren. Jeder soll ruhen, wo er gefallen ist.“
Ein Windstoß fuhr durch die kahlen Äste, trug ein paar Blätter über den Pfad. David sah zu Ernst
hinüber, dann zu Urian.
„Vierhundert Jahre, sagst du?“ Er schmunzelte leise. „Nun... in vierhundert Jahren, so fürchte ich,
werdet ihr beide auch nicht besser aussehen.“
Er sah zu den beiden hinüber, der Mundwinkel hob sich zu einem schiefen Lächeln.
„Wieso kann ich schweben wie ein Djinn und fliegen wie eine Rakete, und Ernst geht immer noch
zu Fuß?“, fragte Urian.
David hob die Augenbrauen. „Du hast deine neue Gestalt schneller angenommen.
Dein Freund... hmm, Ernst. Er hadert noch mit seinem neuen Sein. Ihr beide seid nun
im Jenseits, meine Freunde. Behaltet dies immer in euren Herzen:
Nur eure Vorstellung kennt noch Mauern!“
„Und mein Notizblock? Wieso kann ich mir Notizen machen, aber Urian kann nicht mal ein
Glas Bier anheben?“, fragte Ernst.
„Weil du dein Schreibzeug bei dir hattest, als dich der Wagen überfuhr. Alles, was du im Augenblick
deines Todes bei dir hattest, bleibt auch bei dir. Diese Dinge sind ein Teil von dir geworden. Genauso
wie deine Hose. Stell dir mal vor, du müsstest tot ohne Hose rumlaufen!“
David lachte zum ersten Mal an diesem Abend. Oder vielleicht sogar zum ersten Mal in diesem Jahr,
diesem Jahrzehnt, diesem Jahrhundert!
Die drei Männer lachten schallend über den ganzen Friedhof. Aber kein anderer Geist stieg aus
seinem Grab und verlangte danach, in Frieden ruhen zu können.
„Ha, ha, ha... tot und ohne Hose, stell dir das mal vor!“, Urian schüttete sich aus vor Lachen und
klopfte Ernst freundschaftlich auf die Schulter.
Er dachte wieder an die gute Stimmung in der Kneipe. Ob David vielleicht gerne mitkommen würde?
„Hey, sag mal, meinst du, deine Frau kommt noch? Sonst komm doch mit, Ernst und ich waren gerade...“
Aber weiter kam er nicht. Die heitere Stimmung schlug abrupt um.
„Rebekka wird kommen. SIE WIRD KOMMEN!“, schrie David plötzlich.
„Ich habe 400 Jahre gewartet... und jetzt sagt mir ein Fremder, sie komme nicht?“
Der ruhige, sanfte, kleine Mann verwandelte sich langsam. Seine Arme hingen immer noch an ihm herab,
aber seine Hände ballten sich zu Fäusten, und er winkelte seine Arme an.
„LÜGEN! ALLES LÜGEN!“, brüllte er sich in Rage.
„REBEKKA IST KRANK! SIE WIRD BALD STERBEN UND DANN SIND WIR WIEDER ZUSAMMEN!“
Der sanfte Geist war nicht mehr wiederzuerkennen, und er wurde größer.
Ernst stand jetzt hinter Urian und sah das weiße Feuer in Davids Augen, nur jetzt viel stärker.
Auch Urian wurde langsam angespannt, blieb aber äußerlich ruhig. Nicht sein erster Kampf.
„Hey, alles gut, mein Großer, sie kommt sicher bald. Ich hab’s nicht so gemeint“,
versuchte er, ihn zu beruhigen. Aber vergeblich.
„KEIN ANDERER MANN WIRD JE SEINE HAND AN MEINE REBEKKA LEGEN!“
David war mittlerweile zu einem zwei Meter großen Monster geworden, mit feurig weiß leuchtenden Augen.
Sein Mund war unnatürlich groß, seine vier Eckzähne hatten sich zu Fangzähnen verlängert, die ihm aus dem
Maul klafften wie bei einem Löwen. Haut und Kleidung hatten ein tiefes Schwarz angenommen, und silberne
Risse überzogen seinen Körper, wie etwas, das jeden Moment zu platzen drohte. Er war außer sich vor Zorn!
„Jetzt mach mal halblang, Arschloch!“, fuhr Urian sich hoch.
Zu oft in seinem Leben hatte er mit Leuten zu tun, die sich mit ihm messen wollten. Der Fluch, wenn man groß
und stark ist. Alle wollen dich herausfordern. Gut, die anderen hatten zumindest keine Klauen, Hörner und
Fangzähne wie der hier. Aber Urian wusste längst, wie man mit der Sorte umgehen musste. Innerlich fuhr er
seine animalische Kampfbereitschaft hoch. Das zeigte sich äußerlich daran, das er tatsächlich größer wurde.
„Letzte Warnung, REISS DICH ZUSAMMEN!“, herrschte er das David-Monster an.
Jetzt war Urian ebenfalls zwei Meter Größe herangewachsen und wieder auf Augenhöhe mit David. Zwei Monster,
die einander gegenüberstanden, doch das beeindruckte David nicht im Geringsten.
Ernst war derweil in Deckung gegangen und beobachtete die Szene vom Haus der Friedhofsverwaltung aus, etwa
zwanzig Meter entfernt. Er stand hinter dem Müllcontainer und machte sich klein wie eine Maus. Tatsächlich war
seine Geistergestalt auf Mausgröße geschrumpft. Er war kaum noch zu sehen, wenn seine restliche Lebenskraft
nur nicht so hell geleuchtet hätte. Urian und David hatte er dabei fest im Blick.
Urian hob beschwichtigend die Hände. Er wusste, was jetzt kommen würde. Doch dann geschah das Unerwartete.
Das David-Monster ging an ihm vorbei, in Richtung Friedhofsverwaltung. Mit einem gutturalen, kehligen Brüllen
beugte es sich zu Ernst hinunter.
Ernst geisterhafter Körper zuckte in der überraschend warmen Hand Davids. Eine Flucht erschien ausgeschlossen.
Den Tod vor Augen, erneut, sah Ernst das Gesicht des Monsters immer näher auf sich zukommen. Zwei weiße Sonnen,
kalt wie der Mond, funkelten aus Davids Augen.
Der letzte Gedanke, der Ernst durch den Kopf ging, als David sein Maul öffnete, um ihn zu verschlingen, war:
Wenn ich jetzt sowieso schon tot bin – was kommt dann?
David biss zu, aber verfehlte sein Ziel. Kraftvoll krachend schlugen seine Zähne aufeinander.
Urian war jetzt drei Meter angewachsen und überragte David ein ganzes Stück. Urian hatte einen hochroten Kopf
mit wutverzerrter Fratze. Aber in seinen Augen spiegelte sich ein seltsamer Ausdruck von Zufriedenheit und Wahnsinn.
Unmittelbar bevor David noch einmal zuschnappen konnte, traf ihn ein gewaltiger Fausthieb von Urian, dessen Faust
jetzt tatsächlich wie ein riesiger Hammer aussah. Schnell wich die Wut aus Urians Gesicht und wurde nach dem Treffer
durch ein beglücktes Lächeln ersetzt.
PATSCH!
Urians flache Hand klatschte in Davids Gesicht. Dieser sah nun völlig entgeistert zu ihm auf, damit hatte er offensichtlich
nicht gerechnet. Davids Hand verlor ihre Kraft und gab Ernst frei. Wie ein kleiner Spatz flog dieser aus eigener Kraft fort
zur Friedhofsmauer.
Als Urian das sah, schlug er noch einmal mit aller Härte zu und traf David mitten auf die Brust. Das schleuderte ihn an
das andere Ende des Friedhofs, immerhin zweihundert Meter weit.
Na ja, ein Geist eben: kein Gewicht, keine Masse... der hätte auch bis nach Blankenese fliegen können.
Noch im Flug schrumpfte David und verwandelte sich zurück in den freundlichen David von vorhin.
Urian atmete tief durch und nahm wieder seine normale Größe an.
Ohne David weiter zu beachten, ging Urian zu Ernst.
„Entschuldigung“, flüsterte David, während er langsam in den Schatten der Grabsteine versank.