Wolf Wiechert
Mitglied
Veit heiße ich nicht, aber ich bins. Und das ist so:
Am 23. August 1977, einem Dienstag, einer dieser Tage, die flach und fahl sich anschicken zu kommen und zu gehen, als ob sie nie gewesen wären, an diesem Tag las ich wie üblich nach der Arbeit in der FAZ. Bundeskanzler Schmidt habe einige Minister zu seinem Ferienort an den schleswig-hosteinischen Brahmsee gebeten, um mit ihnen über neue Sanierungsmaßnahmen in der Rentenversicherung zu reden.
Englands Flugaufsicht stünde vor einem Streik, Präsident Carter plane einen „Abstecher” nach Berlin, Miniserpräsident Karamanlis übermittele eine Botschaft an Schmidt, und Dajan mache einen unerwarteten Kurzbesuch in London.
Der Leitartikel schließlich befasste sich mit der amerikanischen Unzuverlässigkeit in dem Sinne, dass den amerikanischen Steuerzahlern die Verteidigung der Grashalme Mitteleuropas zu teuer sei.
Ich wollte eigentlich die Zeitung nicht weiter lesen, lieber die dreizehn Stockwerke herunter fahren zur Tiefgarage und dem öden Tag wenigstens am Nachmittag noch ein paar Kilometer über Land abgewinnen. Aber da sah ich an der großen Fensterscheibe vor meinem Schreibtisch den Pulk der Regentropfen unglaublich zäh herunter rinnen. Wie ich das hasste, diese Regentropfen am Fenster und vor allem die, die vorbei nach unten rasten, ohne dass ich ihren Aufprall sehen, ihren Aufprall spüren konnte. Wie sehnte ich mich nach Erde, nach Bodenhaftung, nach einem Fundament.
Wir hatten uns auch schon oft umgesehen nach einer ebenerdigen Bleibe, nach alten Häusern, die nicht zu teuer waren, irgendwie was Handfestes. Aber da gabs nichts. Ich blieb weiter auf halber Höhe zwischen Himmel und Erde, nirgendwo zu Hause, fahrstuhlversklavt. Und unten würde es auch nicht besser werden, im Auto den Regentropfen im Rhythmus des Scheibenwischers zusehen, das wärs gewesen.
Also blätterte ich weiter in der Zeitung.
Auf der dritten Seite fragte ich mich auch, wie der Verfasser des Artikels, ob die Briten in Australien tatsächlich so arbeitsscheu seien, und auf der fünften, ob besseres Wetter aus dem Westen zu erwarten sei, nachdem auf der Zugspitze ein heftiger Schneesturm getobt hatte.
Interessierte mich nicht.
Im Wirtschaftsteil ging es um neue Rekorde im Auslandstourismus, während ich hier im dreizehnten Stock herumhing, und Minister Gscheidle plane einen weiteren massiven Ausbau der Autobahnen angesichts der letzten heißen Wochenenden im diesjährigen Urlaubsverkehr.
Urlaub? Wie lange war das schon her, ein Monat, ein Jahr, eine Ewigkeit? Griechenland hatten wir gewählt, von Quelle zu Quelle waren wir gefahren, von Nymphe zu Nymphe, zwischen Tempeln und Göttern, Theatern und Schlachtfeldern hatten wir unser Zelt aufgeschlagen. Vergangenes war gegenwärtig geworden, wir mittendrin.
Das weiße Stück Marmor aus dem Athener Dionysostheater, das ich mitgenommen hatte, lag nun vor mir auf dem Schreibtisch, es sollte strahlen, aufladen mit gleißendem mediterranen Licht. Aber ich sah nur die Regentropfen am Fenster rinnen, den diesigen Himmel, das glatt geschliffene, an den Bruchstellen leicht maserierte Stück Marmor. Da tat sich nichts.
Ich blätterte weiter, kam zum Feuilleton, schon Literatur aus diesem Herbst wurde besprochen, auch eine Passage aus Gerhard Meiers zweitem Roman Der schnurgerade Kanal. Ich fing an zu lesen:
Das Land gibt sich heute, wie Leute sich geben können: schwerfällig, zu keiner Tiefe sich hochraffend, zu keiner Weite sich hinreißen lassend.
Es ging um Meiers Schweizer Heimat, und bei uns…? ich las weiter, bis zum letzten langen Satz, leicht nach unten blickend, daß man verhältnismäßig schnell das Feld räumt, um dann irgendwo auf einem Grundstück, einem kleinen Feld zu landen oder eingegraben zu werden... da sah ich plötzlich meinen Namen, es war wie eine Erscheinung. Ich sah wieder und wieder hin. Und da stand es, da stand es tatsächlich abgedruckt am Ende der Spalte, die Gerhard Meiers Text nicht ganz ausgefüllt hatte, da stand mein Gedicht:
Olymp
Die Fähigkeit der alten Völker
die Dinge gültig ins Wort zu fassen
lässt uns Späteren wenig Chancen.
Sie sind die Quellen wir die Zisternen.
Sie haben Ödipus wir den Komplex.
Sie das Atom wir den Reaktor.
Unsere Stories sind ihre Mythen.
Unsere Antworten ihre Orakel.
Ratlos bleiben wir zurück
eine äußerste Nuance.
Dieses Gedicht in der FAZ – ein Wunder. Ich konnte es kaum glauben.
Und Griechenland stieg wundervoll heraus aus dem bedeckten Himmel. Es klarte auf.
Der Tag war gewonnen.
Ich musste mich losreißen, aufstehen, sofort. Das musste gefeiert werden.
Ich nahm natürlich nicht den Fahrstuhl, sondern lief die Treppen runter, brauchte keinen Schirm, ging einfach zu Fuß in die Stadt, sehr offen allem gegenüber und doch ganz für mich. Ging zu Helen und erzählte ihr, was ich eben gelesen hatte. Sie fand das ganz toll und meinte natürlich auch, dass wir das feiern müssten.
Ich hatte von einem Kollegen gehört, dass es in einem der Dörfer auf der Höhe am Rand der Gemarkung Helbingens eine Wirtschaft gäbe. die guten Wein habe, für wenig Geld.
Wir kannten uns hier oben nicht wirklich aus, waren allenfalls mal durchgefahren und hatten ein, zwei alte Häuser gesehen, ohne Gardinen in den Fenstern, also solche, die vielleicht leer standen und verkauft werden sollten. Aber wir fanden den Adler dann sehr schnell, in einem Ortsteil vonMergatshausen.
Und der Wein war tatsächlich gut, unsere Stimmung nicht minder. Und ich fragte den Gastwirt in einem Anflug von Übermut und eher beiläuwirfig, ob er nicht hier in der Gegend ein altes Haus wüßte, das leer stünde, das man kaufen könnte.
Der Wirt winkte ab, als wir auf die gardinenlosen Häuser verwiesen. Das eine würde demnächst abgerissen, das andere sollte zu einer Garage umgebaut werden. Das sei alles nichts. Aber hinter der ersten Häuserzeile, nicht weit von hier, rechts den landwirtschaftlichen Weg runter, da wäre eins zu verkaufen. Zuletzt hätten Türken drin gewohnt, in Veitl Hanses Haus. Er schien kurz nachzudenken, dann sagte er: Oh lieber Gott! das alte Gelump müsst man sowieso gleich abreißen und eben einen schönen Bungalow drauf bauen.
Veitl Hanses Haus?
Ja, sagte der Wirt, so wird das Haus hier im Dorf genannt. Alte Häuser hätten noch immer ihre Hausnamen. Der Besitzer halte sich übrigens oft sonntags in dem Haus auf und schaffe was drin, aber was – da lohne sich eigentlich nichts mehr.
Wir zahlten gleich und gingen wie elektrisiert los. Den spärlich beleuchteten Weg rechts runter fanden wir gleich und auch das Haus, das schemenhaft vor uns auftauchte. Wir gingen, soweit das überhaupt möglich war, um das Haus herum. Als wir an dem kleinen Garten vorbeikamen, der offensichtlich zu dem Anwesen gehörte, nahmen wir uns einen schon leicht geschossenen Salatkopf mit. Der Kontakt war hergestellt, sehr konkret, als wir am nächsten Tag den freilich schon leicht bitteren Salat aßen.
Vielleicht war es ja d a s Haus?
Mir war es schon oft passiert, dass Literatur ganz konkret ins Leben eingreift.
Sollte dieses Gedicht uns wirklich das lang ersehnte Haus verschaffen?
Am nächsten Sonntag fuhren wir heraus und trafen den Besitzer des Hauses auch an. Er sei Maurer, habe schon viel an der alten Burg gerichtet, aber jetzt habe er genug, sei in die Stadt gezogen und wolle das Altertum loswerden. Und während er uns die Zimmer zeigte, die Kammern, den Speicher, alles in einem katastrophalen Zustand, den völlig verwilderten Garten, den er großenteils mit Dachpappe zugedeckt hatte, um, wie er sagte, die Nesseln zu bekämpfen, sah die mit Tapeten überklebten Balken, die er übrigens unsinnigerweise wieder mit Holzdekor überklebt hatte, stellte mir die lange Reihe der Generationen vor, die hier schon gelebt hatten, schätzte die Stabilität ab und die Räumlichkeiten, die Südlage auf der Breitseite, den alten Rosenstock neben der Haustür, die jungen Katzen auf dem leicht vermoderten Heuhaufen unter den Wohnzimmerfenstern. Und es durchfuhr mich: Das ist unser Haus! Das ist die Göttergabe Griechenlands. Das ist der Lohn der Poesie. Das ist die Münze des Dichters. Das ist Poesie! Der kleine Marmorbrocken aus dem Dionysostheater schien doch abgestrahlt zu haben, bis hierher, in dieses alte Gemäuer.
Ich kaufte das Haus, nachdem ich den Preis noch etwas heruntergehandelt hatte.
Zuerst zogen wir mit den Büchern um. An jedem Wochenende, und wir verbrachten nun beinahe jedes freie Wochenende hier, nahmen wir einen Kofferraum voll mit und deponierten sie nach und nach in der so genannten Nebestub, der Kammer, in der die jeweiligen Großeltern, Herrle und Fraale, ihren Lebensabend verbracht hatten.
Nachts, wenn wir auf Matratzen am Boden in der Wohnstube übernachtet hatten, fanden wir morgens die Zeitung neben uns einmal ganz von Mäusen zerfressen. Erst später konnten wir in einem Zimmer im ersten Stock wohnen, in dem wir alle Mäuselöcher mit Glassplittern zugestopft hatten. Gekocht wurde auf der Stahlplatte eines kleineren Ofens, dem einzigen im Haus, mit Bauholzresten.
Und bald brachte uns auch ein Nachbar eichene Weidenpfähle, die er aus einer Wiese entfernt hatte. Der nächste Winter komme bestimmt, Holz macht paarmal warm, sagte der Nachbar.
Nachdem wir die Phähle mit einer Bügelsäge auf Ofenlänge zugesägt hatten, draußen auf einer Betonterrasse, verheizten wir sie dann im neu gesetzten Kachelofen, als es immer kälter wurde.
Die schiefen Wände haben wir nicht begradigt, im Gegenteil, wir haben die Balken sogar freigelegt, um die alte Struktur des Hauses wahrzunehmen. Wir bauten nicht gegen das Haus. Wir übernahmen vielmehr, was sich bewährt hat. Das schafft Vertrauen, Geborgenheit. Beton und Kunststoff ersetzten wir mit dem traditionellen Baustoff Lehm, mit dem hier überall die Fachungen der alten Häuser ausgefüllt sind. Und wir rissen nach und nach die Tapeten von den Wänden, die wahrscheinlich aus den letzten hundert Jahren stammten, es waren vier Lagen, wahrscheinlich, weil man sich dann überhaupt erst Tapeten leisten konnte. Unter den Tapeten kamen ältere, meist farbig gemusterte Wandbeschichtungen heraus, die vermutlich mit Rollen auf die Wände aufgetragen wurden, grelle blaue oder grünstichige Blumenornamente, nicht gerade nach unserem Geschmack. Die lösten wir mit der Spachtel Schicht für Schicht ab und ließen ein paar Stellen des ersten Anstrichs frei: ein historisches Fenster mit vielen kleinen weißen Blüten, Margariten vielleicht, auf grünem Hintergrund.
So sahen uns wohl die zehn Generationen vor uns an, die hier in diesen Haus geboren wurden, gelebt haben und gestorben sind.
Eine dentrochronologische Untersuchung von zwei Eichenbalken aus dem Haus ergab, dass die Eichen für die beiden Balken laut Jahrringanalyse 1587 bzw. 1617 gepflanzt und 1701 bzw. 1703 gefällt wurden. Da aber in dieser Zeit Bauholz sofort saftfrisch verbaut wurde, weil es so leichter zu bearbeiten war, gerade auch Eiche, dürfte unser Haus tatsächlich 300 Jahre alt sein. Also hat wahrscheinlich ein Johann Veit dieses Haus ungefähr 1710 gebaut.
Hier lebten damals die Bauern mit ihren Haustieren zusammen unter einem Dach. Es roch sicher nach den Tieren, man hörte sie wiederkäuen in der Küche nebenan aus dem Stall. Der war mit Pflastersteinen ausgelegt und von einem Eichenbalken in der Mitte abgefangen , an dem noch heute die Ränder zu sehen sind, bis wohin der Mist, die Miste, wie man hier sagt, reichte. Ausblühungen vom Salpeter in den Mauern müssen wir bis heute immer wieder entfernen. Aber der Stall wärmte das Haus in den langen Wintern und ersparte lange Wege zum Füttern der Tire, , wenn der Schnee hoch lag. schaffte Geborgenheit. Die Frucht, das Getreide, wurde nach oben in den Speicher getragen und dort gelagert, eine verdammt schwere Arbeit. Mäuse gehörten dazu. Zum Keller, mit gestampftem Erdboden und einer Decke aus mächtigen Tragbalken und Stickscheiten, alles aus Eiche, mit Lehm ausgefüllt, gab es vor der Küchentür eine Luke, die mit einer Klapptür verschlossen wurde und über die man wohl u. a. Kartoffeln und Rüben in den Keller befördern konnte.
Die Wochenenden wurden immer länger, in denen wir aus der Stadt hierher kamen, arbeiteten in jeder freien Stunde im Haus. Und nach und nach wurde es tatsächlich bewohnbar, machte einfach Freude, stiftete auch sowas wie die ursprüngliche Geborgenheit, auch ohne Haustiere nebenan, zumal unsere Kinder bald das Haus in ihrer ganz eigenen Weise belebten.
Und zu diesem Haus hat uns nicht nur ein Gedicht geführt - es ist ein Gedicht.
Kühl im Sommer, warm im Winter, geheizt wird mit selbstgemachtem Brennholz aus dem heimischen, mittlerweile eigenen Wald.
Vielleicht schaut ja Johann Veit mal herein, um zu sehen, was aus seinem Haus in den 300 Jahren geworden ist. Aber ich glaube, er fände es ganz o.k.
I
Zu Hause war seine Terrasse die Loge, von der aus er sämtliche Königreiche der Erde überblicken konnte.
Colm Tóibín über Henry James
26.August 2017
Es ist Samstag, Hauptarbeitstag im Dorf. An diesem Tag der Woche kommt das Dorf regelmäig wieder zu sich selbst. Viele müssen nicht zur Arbeit fahren, können sich endlich um das kümmern, was sie wirklich beschäftigt. Bulldogs sind häufig unterwegs, oft mit Hängern, in denen Holz transportiert wird, Rasenschnitt, Äste. Und die Straße wird gekehrt, die Wäsche gelegentlich auch noch aufgehängt, obwohl viele auch einen Trockner benutzen. Man trifft Nachbarn und plaudert miteinander. Ich gehe auch raus, will nach dem Wald sehen, ob Bäume trocken gefallen sind, will Kühle spüren in diesen heißen Tagen, Abstand haben.
Als der Bussard mich begrüßt, mit seinen viermal schärferen Augen meine Entfernungen aufheben und meine Verhältnisse auf seine Spannweite abschätzen lehren will, muss ich ihn unbedingt sehen. Solche Angebote kann und will ich nicht ausschlagen. Die Schreie kommen vom Waldrand her, von Osten, Pfeilschreie, fordernde, ängstigende, frei schnellende Geschosse. Erst über dem Kronenschluss des Walds verlieren sie sich. Ich suche den blassen Himmel nach ihm ab, vom Waldrand aus langsam nach Norden hin, wo sich hinter den hohen Kiefern ein weites Abendrot ausbreitet, mächtiges Zinnober, auf dem er sich gut abheben müsste. Aber er zeigt sich nicht. Ich drehe mich weiter um und sehe die Mondsichel wie verschleiert im Westen stehen, weit weg von seinen Pfeilen. Und doch, da kommt etwas Fliegendes auf mich zu mit ausladenden schräg zurückfallenden Flügeln. Das könnte er sein. Aber er fliegt merkwürdig starr und geradlinig, ich höre auch ein vages Heulen, das immer näher kommt – leider – ist nur ein Jet, wahrscheinlich in Frankfurt gestartet, vielleicht nach Antalja, Nikosia, Beirut, Tel Aviv unterwegs. Und ich da unten, die da oben, wahrscheinlich gelangweilt, sind schon zigmal nach Altalja, Nikosia, Beirut, Tel Aviv geflogen, oder auch gespannt - zum ersten Mal all inclusiv . Ich bin froh, festen Boden unter den Füßen zu haben. Wenn ich nur nach oben schaue, überlege, wie riskant es ist, da oben einfach so drin zu sitzen, in so einem leicht gebauten Gehäuse, sich auf die schmalen dünnwandigen Tragflächen verlassen und auf den Schub der Düsen über mir bodenständigen Typ, bin ich froh, statt mit dem Airbus mit dem schreienden Bussard unterwegs zu sein.
Mir fällt die Frau aus der Nachbarschaft ein, die selbst Stewardess ist und, wenn sie gerade aus Buenes Aires, New York oder San Francisco gekommen ist, an meinem Haus vorbei geht. Als ich sie einmal frage, wie sie diese Spannung überhaupt aushielte innerhalb zweier Tage zwischen NYC und hier, sagt sie ganz entspannt: Hier bin ich daheim, hier komm ich immer wieder an, hier tank ich auf, hier ist mein Zentrum.
Aber ich bleibe jetzt auf den Bussard gepolt. Er hat mich gepackt, hat es geschafft, dass ich das alles aufschreiben werde, und da muss er sich schon zeigen.
Endlich, gleich bei den Espen, als gerade ein Bock weit hinten verärgert schreckt, vielleicht wegen mir, sehe ich den Bussard, oder ist es ein anderer, jedenfalls kurz über dem Kronenschluss am Waldrand kreisen, ruhig, gelassen, souverän über den Kronen der Eichen und Kiefern, als ob er mir, nicht ohne eine gewisse Arroganz, gar mit der Hoffnung auf Unsterblichkeit, wenn ich denn schriftlich seinen Flug festhielte, zu verstehen gibt, jetzt, wo er sich noch einmal zeigt, wenn auch in angemessener Distanz, das alles aufzuschreiben, festzuschreiben, ehe er dann nach ein paar lässigen weitausgreifenden Flügelschlägen über dem Wald verschwindet.
27. August 2017
Sitze an diesem wunderbaren sonnigen Sonntagvormittag auf der Terrasse, trinke meinen Darjeeling wie immer aus der Sonntagstasse mit dem Unterteller, auf denen die herrliche Rosa muscosa multiplex abgebildet ist, wie sie der große französische Zeichner Pierre-Joseph Redouté um vielleicht 1800 ins Bild gesetzt hat, eine sehr alte Sorte, die natürlich nicht remontiert, dafür aber dieses eine Mal im Jahr immer besonders schöne Knospen und Blüten bildet und intensiv duftet. Ein Exemplar davon habe ich einmal von einem Kollegen geschenkt bekommen. Seither steht diese Rose gleich hinter dem Lattenzaun und blüht Jahr für Jahr überaus reich, eine muscosa, eine Moosrose, deren Blütenstiele mit moosartigen Drüsen bewachsen sind, die ich gerne einmal zwischen die Finger nehme und den Stiel entlang streiche, um den wunderbaren würzigen Duft wie ein Parfum mir unter die Nase zu halten. Sie blüht natürlich nur im Juni. Und wenn ich nun die Tasse ansehe, blüht sie eben jetzt auch wieder, jetzt im August. Ihre schalenförmigen rosafarbenen sehr gut und intensiv duftenden Blüten lassen vermuten, dass sie von den sehr alten Bourbon-Rosen abstammen, mit denen französische Siedler auf der Île de Bourbon, heute Réunion, ihre Felder abgrenzten. So, denke ich, und leiste mir jetzt, warum auch nicht, den Luxus, die Tasse mal wieder genauer anzusehen, die zarten, geradezu duftenden Farben wahrzunehmen, mit der beiläufigen Bemerkung meines Freundes von gestern im Hinterkopf, man müsse auch mal gar nichts machen, einfach nichts tun. Und mir fällt das herrliche Gedicht von Hans Magnus Ernzensberger ein, d.h. nur dieser Vers über den Teller von Chardin. Und ich leiste mir, den ganzen Text nachzuschlagen: Vielen Dank für die Wolken/Vielen Dank für das Wohltemperierte Klavier/ ...Vielen Dank für mein sonderbares Gehirn/und für allerhand andre sonderbare Organe./Für die Luft , und natürlich für den Bordeaux/...und natürlich für die Erdbeeren auf dem Teller, gemalt von Chardin, und, damit ich es nicht vergesse, für den Anfang und das Ende/und die paar Minuten dazwischen...
Ja, die paar Minuten dazwischen, erlebe ich eben, erlaube ich mir, trotz der begrenzten Zeit, mich zu fragen, wieso ich eigentlich alte Rosen so schätze, obwohl die neuen Züchtungen überaus abwechslungsreich sind und noch dazu mehrmals im Jahr blühen. Bin schon mitten im Nichtstun. Ich schätze eben Altes, Althergebrachtes, ist es doch suggestiver als die meisten neuen Sachen, bestückter mit alten, oft geheimnisvollen Geschichten. So lebe ich ich auch sehr gern in diesem alten Haus, hinter dicken Mauern aus Sandsteinen, durch die in manchen Zimmern zwar kein Netz mehr dringt, aber dafür die Generationen vor mir präsent sind in den Mauern, den Fenstern, den Türen, den Dielen. Nur in einem Zimmer ganz oben unterm Dach im ausgebauten ehemaligen Speicher funktioniert das Internet sehr gut, und dorthin gehe ich mit meinem Laptop, wenn ich das Internet brauche. Und ich brauche es oft, kann mir gar nicht mehr vorstellen, wie das früher war.
Ich unterlaufe gleichsam die moderne Welt mit ihren eigenen Mitteln, indem ich mit ihren Medien mühelos Kontakt halte zur sogenannten Großen Welt, ohne die kleine, ruhige verlassen zu müssen.So leiste ich mir auch, nichts zu tun, Zeitung zu lesen. Da springt mir die Schlagzeile Manche mögen´s heiß entgegen über einem großen Foto, auf dem ein fliegender Drachen Feuer speit, aus der Fantasy-Serie Game of Thrones, einer Serie, so steht es unter dem Foto, nach deren Figuren bereits in einem Ort bei Melbourne Straßen benannt werden, also nicht mehr nach William Shakespeare oder James Cook, sondern vielleicht nach Sansa Stark oder Jon Schnee, aus dem Mittelalter unserer Zeit? Und während ich das zu verstehen versuche, höre ich direkt hoch oben über mir wieder Pfeilschreie, diese penetranten Pfeilschreie, gleich mehrere ineinander, die meine Zeitungslektüre geradezu ausschießen. Drei Bussarde, die unmissverständlich über mir kreisen, mein Vorhaben, einmal nichts zu tun, systematisch torpedieren. Anders kann es nicht sein, denn hier auf der Terrasse, auf dem gepflasterten Hof und der Straße gibts keine Mäuse zu erbeuten. Dazu kommt, dass sie auffällig, ja bedrohlich lange über mir kreisen und ununterbrochen schreien. Hitchcocks Vögel fallen mir ein. Ihre Botschaft ist klar: Sofort aufschreiben, die drei da oben unbedingt erwähnen. Aber nicht sofort. Das müssen sie akzeptieren. Erstmal gar nichts machen und Tee trinken
10. September 2017
Sitze zwei Wochen später wieder auf der Terrasse, diesem eingegrünten Terrain von Landleben, meinetwegen auch von Landlust, auf den ersten Blick vielleicht auch städtisch, aber eigentlich nicht, nicht hier, wo noch die letzten Salatköpfe und die Lauchstangen, aufdringlich bäurisch nützlich zwischen den vier Buchskugeln an den vier Ecken des Gartens stellenweise sich bis zu den Sandsteinplatten vordrängen, nicht hier, wo Sonntage, Kyriakí, Tag des Herrn, wie die Griechen sagten, noch Sonntage sind, man sich gut anzieht, oft auch noch in die Kirche geht, und ich den Tee in der silbernen Kanne aus der Zeit der Queen Ann aufgieße und aus der Redouté-Tasse trinke, nicht hier, wo kaum ein Auto zu hören ist. Solche Sonntage schaffen dir leichteren Zugang zu dir, zu anderen, vielleicht auch nach oben. Und ich hätte natürlich gern Kontakte mit Leuten, so allein, wie ich da sitze, höre auch nebenan auf der Straße Spaziergänger reden, ganze Familien, die sich Kaffee und Kuchen in der Sonne vertreten. Und manchmal schnellt beinahe lautlos einer mit dem Fahrrad vorbei, mit kurzem markanten Knacken in der Schaltung, hier die leichte Anhöhe hinauf. Bestimmt kenne ich einige davon, aber über ein bloßes Hallo würden wir nicht hinaus kommen. Deswegen spreche ich auch keinen an, rufe ihnen nicht nach, allein schon deshalb nicht, weil ich mich dann aus meinem Liegesuhl erheben müsste, diese Stille unterbrechen, die beinahe jedem Besucher sofort auffällt: Wie still das hier bei euch ist, und nachts erst, wie klar der bestirnte Himmel über mir – das sagen sie nicht – das moralische Gesetz in mir - sagen sie schon gar nicht. Wer weiß schon noch was von Immanuel Kant? Doch andere Kontakte habe ich schon und könnte sie mir auch an diesem Sonntagnachmittag leicht schaffen, bewährte Kontakte, enge, nachhaltige und jederzeit verfügbare – aus Büchern, aus Filmen. Da begegne ich Personen, die mir so sehr entgegen kommen, dass ich sie ganz für mich vereinnahme, mich mit ihnen identifiziere, obwohl sie manchmal nicht gerade begeistert darüber gewesen sein würden, wenn sie mich kennenlernt hätten. Aber sie können sich nicht wehren, natürlich nicht, das macht sie besonders attraktiv.
Und irgendwann haben sie sich auch abgefunden mit meiner Unart, ständig alles anzustreichen, Kommentare an den Rand zu schreiben in meiner Begeisterung über das Gelesene. Dann habe ich sie auch endlich ganz für mich. Einer dieser Vereinnahmten ist Dubslav von Stechlin aus dem gleichnamigen Roman, alter Adel, aber kein Programmedelmann, wie Theodor Fontane den Pfarrer Lorenzen sagen lässt. Er war recht eigentlich frei. Erst ziemlich spät bin ich ihm begegnet, aber dann fand ich mich bei ihm gleich wie zu Hause. Dass ich ihm selbst nur wenig gerecht werde, weiß ich, aber sein Herrenhaus, so ein gelbgetünchter Bau, den er gelegentlich Kate nennt, eine solche vor allem, meine ich auch zu bewohnen. Da drücken kryptische Bilder, mythische Szenen durch, vielleicht gar frühere Leben, die allemal mehr entscheiden als alle schnellen Kopfgeburten. Ehe ich ins Haus gehe, denn die Sonne sticht regelrecht, um einen Espresso zu machen, Mediterranes zu evozieren, Rom, das ewige wunderbare, hier in der fränkischen Provinz auf die Terrasse zu dampfen, den caffè aufsteigen zu lassen, wie den roten Hahn, der aus dem Stechlin-See steigt, wenn es draußen was Großes giebt, fällt mir der Habicht ein, wieder so ein Greifvogel, der bei mir eingreift, als hätte ich ihn jemals dazu aufgefordert. Ich bin unterwegs im Wald vor ein paar Tagen, als ich ihn von weitem auf einer Kanzel, einem Hochsitz, sehe, ich also vorsichtig nahe an die Kanzel heranfahre, da streckt er mir seine weißgrau geringelte Brust unverschämt demonstrativ entgegen und fliegt erst sehr zögerlich auf, als ich unmittelbar unter ihm stehen bleibe. Ich meine, hier im Wald ist ein Auto immer noch absolute Ausnahme, nichts, an das er sich gewöhnt haben könnte wie andere Vögel an viel befahrenen Straßen. Warum also blieb er auf der Kanzel sitzen? Wollte er mich vielleicht provozieren mit seiner aufgesetzten Gelassenheit, vielleicht darauf verweisen, wie einst jener Hahn, der aufstieg aus dem Stechlin-See wegen des verheerenden Erdbebens von Lissabon am 1. November 1755, mich darauf hinweisen, dass dieser Tage in der Karibik, weit weg von unserer Waldidylle, der Hurrican Irma wütet? Aber natürlich weiß er nicht, was ich schon längst weiß aus dem Radio und dem Fernseher, weiß gar nichts, agiert nur in meinem Bewusstsein, kann nicht wahrnehmen, wie weit wir uns Heutige schon abgesetzt haben von wegweisenden Gesten, von Rauchzeichen und krähenden Hähnen auf Misthaufen oder Kirchtürmen früherer Zeiten, sind überall einstürmenden Informationen ausgesetzt, ganz zu schweigen vom dreimal krähete der Hahn aus der Matthäus-Passion. Unsere Habichte nisten auf Satelliten im All, da hat der analoge Habicht von der Kanzel keine Chance, da kann er seine weißgrau geringelte Brust noch so herausstellen. Was für Spinnereien, denke ich, als ich den dampfenden Espresso vom Herd nehme. Aber die stellen sich eben ein, solche Spinnereien, wenn man allzu lange allein hier auf der Terrasse sitzt, allein hier auf dem Lande lebt, solche Spinnereien werden real, passen einfach, steuern dich irgendwann angemessen durch die tägliche Flut der Informationen.
Am 23. August 1977, einem Dienstag, einer dieser Tage, die flach und fahl sich anschicken zu kommen und zu gehen, als ob sie nie gewesen wären, an diesem Tag las ich wie üblich nach der Arbeit in der FAZ. Bundeskanzler Schmidt habe einige Minister zu seinem Ferienort an den schleswig-hosteinischen Brahmsee gebeten, um mit ihnen über neue Sanierungsmaßnahmen in der Rentenversicherung zu reden.
Englands Flugaufsicht stünde vor einem Streik, Präsident Carter plane einen „Abstecher” nach Berlin, Miniserpräsident Karamanlis übermittele eine Botschaft an Schmidt, und Dajan mache einen unerwarteten Kurzbesuch in London.
Der Leitartikel schließlich befasste sich mit der amerikanischen Unzuverlässigkeit in dem Sinne, dass den amerikanischen Steuerzahlern die Verteidigung der Grashalme Mitteleuropas zu teuer sei.
Ich wollte eigentlich die Zeitung nicht weiter lesen, lieber die dreizehn Stockwerke herunter fahren zur Tiefgarage und dem öden Tag wenigstens am Nachmittag noch ein paar Kilometer über Land abgewinnen. Aber da sah ich an der großen Fensterscheibe vor meinem Schreibtisch den Pulk der Regentropfen unglaublich zäh herunter rinnen. Wie ich das hasste, diese Regentropfen am Fenster und vor allem die, die vorbei nach unten rasten, ohne dass ich ihren Aufprall sehen, ihren Aufprall spüren konnte. Wie sehnte ich mich nach Erde, nach Bodenhaftung, nach einem Fundament.
Wir hatten uns auch schon oft umgesehen nach einer ebenerdigen Bleibe, nach alten Häusern, die nicht zu teuer waren, irgendwie was Handfestes. Aber da gabs nichts. Ich blieb weiter auf halber Höhe zwischen Himmel und Erde, nirgendwo zu Hause, fahrstuhlversklavt. Und unten würde es auch nicht besser werden, im Auto den Regentropfen im Rhythmus des Scheibenwischers zusehen, das wärs gewesen.
Also blätterte ich weiter in der Zeitung.
Auf der dritten Seite fragte ich mich auch, wie der Verfasser des Artikels, ob die Briten in Australien tatsächlich so arbeitsscheu seien, und auf der fünften, ob besseres Wetter aus dem Westen zu erwarten sei, nachdem auf der Zugspitze ein heftiger Schneesturm getobt hatte.
Interessierte mich nicht.
Im Wirtschaftsteil ging es um neue Rekorde im Auslandstourismus, während ich hier im dreizehnten Stock herumhing, und Minister Gscheidle plane einen weiteren massiven Ausbau der Autobahnen angesichts der letzten heißen Wochenenden im diesjährigen Urlaubsverkehr.
Urlaub? Wie lange war das schon her, ein Monat, ein Jahr, eine Ewigkeit? Griechenland hatten wir gewählt, von Quelle zu Quelle waren wir gefahren, von Nymphe zu Nymphe, zwischen Tempeln und Göttern, Theatern und Schlachtfeldern hatten wir unser Zelt aufgeschlagen. Vergangenes war gegenwärtig geworden, wir mittendrin.
Das weiße Stück Marmor aus dem Athener Dionysostheater, das ich mitgenommen hatte, lag nun vor mir auf dem Schreibtisch, es sollte strahlen, aufladen mit gleißendem mediterranen Licht. Aber ich sah nur die Regentropfen am Fenster rinnen, den diesigen Himmel, das glatt geschliffene, an den Bruchstellen leicht maserierte Stück Marmor. Da tat sich nichts.
Ich blätterte weiter, kam zum Feuilleton, schon Literatur aus diesem Herbst wurde besprochen, auch eine Passage aus Gerhard Meiers zweitem Roman Der schnurgerade Kanal. Ich fing an zu lesen:
Das Land gibt sich heute, wie Leute sich geben können: schwerfällig, zu keiner Tiefe sich hochraffend, zu keiner Weite sich hinreißen lassend.
Es ging um Meiers Schweizer Heimat, und bei uns…? ich las weiter, bis zum letzten langen Satz, leicht nach unten blickend, daß man verhältnismäßig schnell das Feld räumt, um dann irgendwo auf einem Grundstück, einem kleinen Feld zu landen oder eingegraben zu werden... da sah ich plötzlich meinen Namen, es war wie eine Erscheinung. Ich sah wieder und wieder hin. Und da stand es, da stand es tatsächlich abgedruckt am Ende der Spalte, die Gerhard Meiers Text nicht ganz ausgefüllt hatte, da stand mein Gedicht:
Olymp
Die Fähigkeit der alten Völker
die Dinge gültig ins Wort zu fassen
lässt uns Späteren wenig Chancen.
Sie sind die Quellen wir die Zisternen.
Sie haben Ödipus wir den Komplex.
Sie das Atom wir den Reaktor.
Unsere Stories sind ihre Mythen.
Unsere Antworten ihre Orakel.
Ratlos bleiben wir zurück
eine äußerste Nuance.
Dieses Gedicht in der FAZ – ein Wunder. Ich konnte es kaum glauben.
Und Griechenland stieg wundervoll heraus aus dem bedeckten Himmel. Es klarte auf.
Der Tag war gewonnen.
Ich musste mich losreißen, aufstehen, sofort. Das musste gefeiert werden.
Ich nahm natürlich nicht den Fahrstuhl, sondern lief die Treppen runter, brauchte keinen Schirm, ging einfach zu Fuß in die Stadt, sehr offen allem gegenüber und doch ganz für mich. Ging zu Helen und erzählte ihr, was ich eben gelesen hatte. Sie fand das ganz toll und meinte natürlich auch, dass wir das feiern müssten.
Ich hatte von einem Kollegen gehört, dass es in einem der Dörfer auf der Höhe am Rand der Gemarkung Helbingens eine Wirtschaft gäbe. die guten Wein habe, für wenig Geld.
Wir kannten uns hier oben nicht wirklich aus, waren allenfalls mal durchgefahren und hatten ein, zwei alte Häuser gesehen, ohne Gardinen in den Fenstern, also solche, die vielleicht leer standen und verkauft werden sollten. Aber wir fanden den Adler dann sehr schnell, in einem Ortsteil vonMergatshausen.
Und der Wein war tatsächlich gut, unsere Stimmung nicht minder. Und ich fragte den Gastwirt in einem Anflug von Übermut und eher beiläuwirfig, ob er nicht hier in der Gegend ein altes Haus wüßte, das leer stünde, das man kaufen könnte.
Der Wirt winkte ab, als wir auf die gardinenlosen Häuser verwiesen. Das eine würde demnächst abgerissen, das andere sollte zu einer Garage umgebaut werden. Das sei alles nichts. Aber hinter der ersten Häuserzeile, nicht weit von hier, rechts den landwirtschaftlichen Weg runter, da wäre eins zu verkaufen. Zuletzt hätten Türken drin gewohnt, in Veitl Hanses Haus. Er schien kurz nachzudenken, dann sagte er: Oh lieber Gott! das alte Gelump müsst man sowieso gleich abreißen und eben einen schönen Bungalow drauf bauen.
Veitl Hanses Haus?
Ja, sagte der Wirt, so wird das Haus hier im Dorf genannt. Alte Häuser hätten noch immer ihre Hausnamen. Der Besitzer halte sich übrigens oft sonntags in dem Haus auf und schaffe was drin, aber was – da lohne sich eigentlich nichts mehr.
Wir zahlten gleich und gingen wie elektrisiert los. Den spärlich beleuchteten Weg rechts runter fanden wir gleich und auch das Haus, das schemenhaft vor uns auftauchte. Wir gingen, soweit das überhaupt möglich war, um das Haus herum. Als wir an dem kleinen Garten vorbeikamen, der offensichtlich zu dem Anwesen gehörte, nahmen wir uns einen schon leicht geschossenen Salatkopf mit. Der Kontakt war hergestellt, sehr konkret, als wir am nächsten Tag den freilich schon leicht bitteren Salat aßen.
Vielleicht war es ja d a s Haus?
Mir war es schon oft passiert, dass Literatur ganz konkret ins Leben eingreift.
Sollte dieses Gedicht uns wirklich das lang ersehnte Haus verschaffen?
Am nächsten Sonntag fuhren wir heraus und trafen den Besitzer des Hauses auch an. Er sei Maurer, habe schon viel an der alten Burg gerichtet, aber jetzt habe er genug, sei in die Stadt gezogen und wolle das Altertum loswerden. Und während er uns die Zimmer zeigte, die Kammern, den Speicher, alles in einem katastrophalen Zustand, den völlig verwilderten Garten, den er großenteils mit Dachpappe zugedeckt hatte, um, wie er sagte, die Nesseln zu bekämpfen, sah die mit Tapeten überklebten Balken, die er übrigens unsinnigerweise wieder mit Holzdekor überklebt hatte, stellte mir die lange Reihe der Generationen vor, die hier schon gelebt hatten, schätzte die Stabilität ab und die Räumlichkeiten, die Südlage auf der Breitseite, den alten Rosenstock neben der Haustür, die jungen Katzen auf dem leicht vermoderten Heuhaufen unter den Wohnzimmerfenstern. Und es durchfuhr mich: Das ist unser Haus! Das ist die Göttergabe Griechenlands. Das ist der Lohn der Poesie. Das ist die Münze des Dichters. Das ist Poesie! Der kleine Marmorbrocken aus dem Dionysostheater schien doch abgestrahlt zu haben, bis hierher, in dieses alte Gemäuer.
Ich kaufte das Haus, nachdem ich den Preis noch etwas heruntergehandelt hatte.
Zuerst zogen wir mit den Büchern um. An jedem Wochenende, und wir verbrachten nun beinahe jedes freie Wochenende hier, nahmen wir einen Kofferraum voll mit und deponierten sie nach und nach in der so genannten Nebestub, der Kammer, in der die jeweiligen Großeltern, Herrle und Fraale, ihren Lebensabend verbracht hatten.
Nachts, wenn wir auf Matratzen am Boden in der Wohnstube übernachtet hatten, fanden wir morgens die Zeitung neben uns einmal ganz von Mäusen zerfressen. Erst später konnten wir in einem Zimmer im ersten Stock wohnen, in dem wir alle Mäuselöcher mit Glassplittern zugestopft hatten. Gekocht wurde auf der Stahlplatte eines kleineren Ofens, dem einzigen im Haus, mit Bauholzresten.
Und bald brachte uns auch ein Nachbar eichene Weidenpfähle, die er aus einer Wiese entfernt hatte. Der nächste Winter komme bestimmt, Holz macht paarmal warm, sagte der Nachbar.
Nachdem wir die Phähle mit einer Bügelsäge auf Ofenlänge zugesägt hatten, draußen auf einer Betonterrasse, verheizten wir sie dann im neu gesetzten Kachelofen, als es immer kälter wurde.
Die schiefen Wände haben wir nicht begradigt, im Gegenteil, wir haben die Balken sogar freigelegt, um die alte Struktur des Hauses wahrzunehmen. Wir bauten nicht gegen das Haus. Wir übernahmen vielmehr, was sich bewährt hat. Das schafft Vertrauen, Geborgenheit. Beton und Kunststoff ersetzten wir mit dem traditionellen Baustoff Lehm, mit dem hier überall die Fachungen der alten Häuser ausgefüllt sind. Und wir rissen nach und nach die Tapeten von den Wänden, die wahrscheinlich aus den letzten hundert Jahren stammten, es waren vier Lagen, wahrscheinlich, weil man sich dann überhaupt erst Tapeten leisten konnte. Unter den Tapeten kamen ältere, meist farbig gemusterte Wandbeschichtungen heraus, die vermutlich mit Rollen auf die Wände aufgetragen wurden, grelle blaue oder grünstichige Blumenornamente, nicht gerade nach unserem Geschmack. Die lösten wir mit der Spachtel Schicht für Schicht ab und ließen ein paar Stellen des ersten Anstrichs frei: ein historisches Fenster mit vielen kleinen weißen Blüten, Margariten vielleicht, auf grünem Hintergrund.
So sahen uns wohl die zehn Generationen vor uns an, die hier in diesen Haus geboren wurden, gelebt haben und gestorben sind.
Eine dentrochronologische Untersuchung von zwei Eichenbalken aus dem Haus ergab, dass die Eichen für die beiden Balken laut Jahrringanalyse 1587 bzw. 1617 gepflanzt und 1701 bzw. 1703 gefällt wurden. Da aber in dieser Zeit Bauholz sofort saftfrisch verbaut wurde, weil es so leichter zu bearbeiten war, gerade auch Eiche, dürfte unser Haus tatsächlich 300 Jahre alt sein. Also hat wahrscheinlich ein Johann Veit dieses Haus ungefähr 1710 gebaut.
Hier lebten damals die Bauern mit ihren Haustieren zusammen unter einem Dach. Es roch sicher nach den Tieren, man hörte sie wiederkäuen in der Küche nebenan aus dem Stall. Der war mit Pflastersteinen ausgelegt und von einem Eichenbalken in der Mitte abgefangen , an dem noch heute die Ränder zu sehen sind, bis wohin der Mist, die Miste, wie man hier sagt, reichte. Ausblühungen vom Salpeter in den Mauern müssen wir bis heute immer wieder entfernen. Aber der Stall wärmte das Haus in den langen Wintern und ersparte lange Wege zum Füttern der Tire, , wenn der Schnee hoch lag. schaffte Geborgenheit. Die Frucht, das Getreide, wurde nach oben in den Speicher getragen und dort gelagert, eine verdammt schwere Arbeit. Mäuse gehörten dazu. Zum Keller, mit gestampftem Erdboden und einer Decke aus mächtigen Tragbalken und Stickscheiten, alles aus Eiche, mit Lehm ausgefüllt, gab es vor der Küchentür eine Luke, die mit einer Klapptür verschlossen wurde und über die man wohl u. a. Kartoffeln und Rüben in den Keller befördern konnte.
Die Wochenenden wurden immer länger, in denen wir aus der Stadt hierher kamen, arbeiteten in jeder freien Stunde im Haus. Und nach und nach wurde es tatsächlich bewohnbar, machte einfach Freude, stiftete auch sowas wie die ursprüngliche Geborgenheit, auch ohne Haustiere nebenan, zumal unsere Kinder bald das Haus in ihrer ganz eigenen Weise belebten.
Und zu diesem Haus hat uns nicht nur ein Gedicht geführt - es ist ein Gedicht.
Kühl im Sommer, warm im Winter, geheizt wird mit selbstgemachtem Brennholz aus dem heimischen, mittlerweile eigenen Wald.
Vielleicht schaut ja Johann Veit mal herein, um zu sehen, was aus seinem Haus in den 300 Jahren geworden ist. Aber ich glaube, er fände es ganz o.k.
I
Zu Hause war seine Terrasse die Loge, von der aus er sämtliche Königreiche der Erde überblicken konnte.
Colm Tóibín über Henry James
26.August 2017
Es ist Samstag, Hauptarbeitstag im Dorf. An diesem Tag der Woche kommt das Dorf regelmäig wieder zu sich selbst. Viele müssen nicht zur Arbeit fahren, können sich endlich um das kümmern, was sie wirklich beschäftigt. Bulldogs sind häufig unterwegs, oft mit Hängern, in denen Holz transportiert wird, Rasenschnitt, Äste. Und die Straße wird gekehrt, die Wäsche gelegentlich auch noch aufgehängt, obwohl viele auch einen Trockner benutzen. Man trifft Nachbarn und plaudert miteinander. Ich gehe auch raus, will nach dem Wald sehen, ob Bäume trocken gefallen sind, will Kühle spüren in diesen heißen Tagen, Abstand haben.
Als der Bussard mich begrüßt, mit seinen viermal schärferen Augen meine Entfernungen aufheben und meine Verhältnisse auf seine Spannweite abschätzen lehren will, muss ich ihn unbedingt sehen. Solche Angebote kann und will ich nicht ausschlagen. Die Schreie kommen vom Waldrand her, von Osten, Pfeilschreie, fordernde, ängstigende, frei schnellende Geschosse. Erst über dem Kronenschluss des Walds verlieren sie sich. Ich suche den blassen Himmel nach ihm ab, vom Waldrand aus langsam nach Norden hin, wo sich hinter den hohen Kiefern ein weites Abendrot ausbreitet, mächtiges Zinnober, auf dem er sich gut abheben müsste. Aber er zeigt sich nicht. Ich drehe mich weiter um und sehe die Mondsichel wie verschleiert im Westen stehen, weit weg von seinen Pfeilen. Und doch, da kommt etwas Fliegendes auf mich zu mit ausladenden schräg zurückfallenden Flügeln. Das könnte er sein. Aber er fliegt merkwürdig starr und geradlinig, ich höre auch ein vages Heulen, das immer näher kommt – leider – ist nur ein Jet, wahrscheinlich in Frankfurt gestartet, vielleicht nach Antalja, Nikosia, Beirut, Tel Aviv unterwegs. Und ich da unten, die da oben, wahrscheinlich gelangweilt, sind schon zigmal nach Altalja, Nikosia, Beirut, Tel Aviv geflogen, oder auch gespannt - zum ersten Mal all inclusiv . Ich bin froh, festen Boden unter den Füßen zu haben. Wenn ich nur nach oben schaue, überlege, wie riskant es ist, da oben einfach so drin zu sitzen, in so einem leicht gebauten Gehäuse, sich auf die schmalen dünnwandigen Tragflächen verlassen und auf den Schub der Düsen über mir bodenständigen Typ, bin ich froh, statt mit dem Airbus mit dem schreienden Bussard unterwegs zu sein.
Mir fällt die Frau aus der Nachbarschaft ein, die selbst Stewardess ist und, wenn sie gerade aus Buenes Aires, New York oder San Francisco gekommen ist, an meinem Haus vorbei geht. Als ich sie einmal frage, wie sie diese Spannung überhaupt aushielte innerhalb zweier Tage zwischen NYC und hier, sagt sie ganz entspannt: Hier bin ich daheim, hier komm ich immer wieder an, hier tank ich auf, hier ist mein Zentrum.
Aber ich bleibe jetzt auf den Bussard gepolt. Er hat mich gepackt, hat es geschafft, dass ich das alles aufschreiben werde, und da muss er sich schon zeigen.
Endlich, gleich bei den Espen, als gerade ein Bock weit hinten verärgert schreckt, vielleicht wegen mir, sehe ich den Bussard, oder ist es ein anderer, jedenfalls kurz über dem Kronenschluss am Waldrand kreisen, ruhig, gelassen, souverän über den Kronen der Eichen und Kiefern, als ob er mir, nicht ohne eine gewisse Arroganz, gar mit der Hoffnung auf Unsterblichkeit, wenn ich denn schriftlich seinen Flug festhielte, zu verstehen gibt, jetzt, wo er sich noch einmal zeigt, wenn auch in angemessener Distanz, das alles aufzuschreiben, festzuschreiben, ehe er dann nach ein paar lässigen weitausgreifenden Flügelschlägen über dem Wald verschwindet.
27. August 2017
Sitze an diesem wunderbaren sonnigen Sonntagvormittag auf der Terrasse, trinke meinen Darjeeling wie immer aus der Sonntagstasse mit dem Unterteller, auf denen die herrliche Rosa muscosa multiplex abgebildet ist, wie sie der große französische Zeichner Pierre-Joseph Redouté um vielleicht 1800 ins Bild gesetzt hat, eine sehr alte Sorte, die natürlich nicht remontiert, dafür aber dieses eine Mal im Jahr immer besonders schöne Knospen und Blüten bildet und intensiv duftet. Ein Exemplar davon habe ich einmal von einem Kollegen geschenkt bekommen. Seither steht diese Rose gleich hinter dem Lattenzaun und blüht Jahr für Jahr überaus reich, eine muscosa, eine Moosrose, deren Blütenstiele mit moosartigen Drüsen bewachsen sind, die ich gerne einmal zwischen die Finger nehme und den Stiel entlang streiche, um den wunderbaren würzigen Duft wie ein Parfum mir unter die Nase zu halten. Sie blüht natürlich nur im Juni. Und wenn ich nun die Tasse ansehe, blüht sie eben jetzt auch wieder, jetzt im August. Ihre schalenförmigen rosafarbenen sehr gut und intensiv duftenden Blüten lassen vermuten, dass sie von den sehr alten Bourbon-Rosen abstammen, mit denen französische Siedler auf der Île de Bourbon, heute Réunion, ihre Felder abgrenzten. So, denke ich, und leiste mir jetzt, warum auch nicht, den Luxus, die Tasse mal wieder genauer anzusehen, die zarten, geradezu duftenden Farben wahrzunehmen, mit der beiläufigen Bemerkung meines Freundes von gestern im Hinterkopf, man müsse auch mal gar nichts machen, einfach nichts tun. Und mir fällt das herrliche Gedicht von Hans Magnus Ernzensberger ein, d.h. nur dieser Vers über den Teller von Chardin. Und ich leiste mir, den ganzen Text nachzuschlagen: Vielen Dank für die Wolken/Vielen Dank für das Wohltemperierte Klavier/ ...Vielen Dank für mein sonderbares Gehirn/und für allerhand andre sonderbare Organe./Für die Luft , und natürlich für den Bordeaux/...und natürlich für die Erdbeeren auf dem Teller, gemalt von Chardin, und, damit ich es nicht vergesse, für den Anfang und das Ende/und die paar Minuten dazwischen...
Ja, die paar Minuten dazwischen, erlebe ich eben, erlaube ich mir, trotz der begrenzten Zeit, mich zu fragen, wieso ich eigentlich alte Rosen so schätze, obwohl die neuen Züchtungen überaus abwechslungsreich sind und noch dazu mehrmals im Jahr blühen. Bin schon mitten im Nichtstun. Ich schätze eben Altes, Althergebrachtes, ist es doch suggestiver als die meisten neuen Sachen, bestückter mit alten, oft geheimnisvollen Geschichten. So lebe ich ich auch sehr gern in diesem alten Haus, hinter dicken Mauern aus Sandsteinen, durch die in manchen Zimmern zwar kein Netz mehr dringt, aber dafür die Generationen vor mir präsent sind in den Mauern, den Fenstern, den Türen, den Dielen. Nur in einem Zimmer ganz oben unterm Dach im ausgebauten ehemaligen Speicher funktioniert das Internet sehr gut, und dorthin gehe ich mit meinem Laptop, wenn ich das Internet brauche. Und ich brauche es oft, kann mir gar nicht mehr vorstellen, wie das früher war.
Ich unterlaufe gleichsam die moderne Welt mit ihren eigenen Mitteln, indem ich mit ihren Medien mühelos Kontakt halte zur sogenannten Großen Welt, ohne die kleine, ruhige verlassen zu müssen.So leiste ich mir auch, nichts zu tun, Zeitung zu lesen. Da springt mir die Schlagzeile Manche mögen´s heiß entgegen über einem großen Foto, auf dem ein fliegender Drachen Feuer speit, aus der Fantasy-Serie Game of Thrones, einer Serie, so steht es unter dem Foto, nach deren Figuren bereits in einem Ort bei Melbourne Straßen benannt werden, also nicht mehr nach William Shakespeare oder James Cook, sondern vielleicht nach Sansa Stark oder Jon Schnee, aus dem Mittelalter unserer Zeit? Und während ich das zu verstehen versuche, höre ich direkt hoch oben über mir wieder Pfeilschreie, diese penetranten Pfeilschreie, gleich mehrere ineinander, die meine Zeitungslektüre geradezu ausschießen. Drei Bussarde, die unmissverständlich über mir kreisen, mein Vorhaben, einmal nichts zu tun, systematisch torpedieren. Anders kann es nicht sein, denn hier auf der Terrasse, auf dem gepflasterten Hof und der Straße gibts keine Mäuse zu erbeuten. Dazu kommt, dass sie auffällig, ja bedrohlich lange über mir kreisen und ununterbrochen schreien. Hitchcocks Vögel fallen mir ein. Ihre Botschaft ist klar: Sofort aufschreiben, die drei da oben unbedingt erwähnen. Aber nicht sofort. Das müssen sie akzeptieren. Erstmal gar nichts machen und Tee trinken
10. September 2017
Sitze zwei Wochen später wieder auf der Terrasse, diesem eingegrünten Terrain von Landleben, meinetwegen auch von Landlust, auf den ersten Blick vielleicht auch städtisch, aber eigentlich nicht, nicht hier, wo noch die letzten Salatköpfe und die Lauchstangen, aufdringlich bäurisch nützlich zwischen den vier Buchskugeln an den vier Ecken des Gartens stellenweise sich bis zu den Sandsteinplatten vordrängen, nicht hier, wo Sonntage, Kyriakí, Tag des Herrn, wie die Griechen sagten, noch Sonntage sind, man sich gut anzieht, oft auch noch in die Kirche geht, und ich den Tee in der silbernen Kanne aus der Zeit der Queen Ann aufgieße und aus der Redouté-Tasse trinke, nicht hier, wo kaum ein Auto zu hören ist. Solche Sonntage schaffen dir leichteren Zugang zu dir, zu anderen, vielleicht auch nach oben. Und ich hätte natürlich gern Kontakte mit Leuten, so allein, wie ich da sitze, höre auch nebenan auf der Straße Spaziergänger reden, ganze Familien, die sich Kaffee und Kuchen in der Sonne vertreten. Und manchmal schnellt beinahe lautlos einer mit dem Fahrrad vorbei, mit kurzem markanten Knacken in der Schaltung, hier die leichte Anhöhe hinauf. Bestimmt kenne ich einige davon, aber über ein bloßes Hallo würden wir nicht hinaus kommen. Deswegen spreche ich auch keinen an, rufe ihnen nicht nach, allein schon deshalb nicht, weil ich mich dann aus meinem Liegesuhl erheben müsste, diese Stille unterbrechen, die beinahe jedem Besucher sofort auffällt: Wie still das hier bei euch ist, und nachts erst, wie klar der bestirnte Himmel über mir – das sagen sie nicht – das moralische Gesetz in mir - sagen sie schon gar nicht. Wer weiß schon noch was von Immanuel Kant? Doch andere Kontakte habe ich schon und könnte sie mir auch an diesem Sonntagnachmittag leicht schaffen, bewährte Kontakte, enge, nachhaltige und jederzeit verfügbare – aus Büchern, aus Filmen. Da begegne ich Personen, die mir so sehr entgegen kommen, dass ich sie ganz für mich vereinnahme, mich mit ihnen identifiziere, obwohl sie manchmal nicht gerade begeistert darüber gewesen sein würden, wenn sie mich kennenlernt hätten. Aber sie können sich nicht wehren, natürlich nicht, das macht sie besonders attraktiv.
Und irgendwann haben sie sich auch abgefunden mit meiner Unart, ständig alles anzustreichen, Kommentare an den Rand zu schreiben in meiner Begeisterung über das Gelesene. Dann habe ich sie auch endlich ganz für mich. Einer dieser Vereinnahmten ist Dubslav von Stechlin aus dem gleichnamigen Roman, alter Adel, aber kein Programmedelmann, wie Theodor Fontane den Pfarrer Lorenzen sagen lässt. Er war recht eigentlich frei. Erst ziemlich spät bin ich ihm begegnet, aber dann fand ich mich bei ihm gleich wie zu Hause. Dass ich ihm selbst nur wenig gerecht werde, weiß ich, aber sein Herrenhaus, so ein gelbgetünchter Bau, den er gelegentlich Kate nennt, eine solche vor allem, meine ich auch zu bewohnen. Da drücken kryptische Bilder, mythische Szenen durch, vielleicht gar frühere Leben, die allemal mehr entscheiden als alle schnellen Kopfgeburten. Ehe ich ins Haus gehe, denn die Sonne sticht regelrecht, um einen Espresso zu machen, Mediterranes zu evozieren, Rom, das ewige wunderbare, hier in der fränkischen Provinz auf die Terrasse zu dampfen, den caffè aufsteigen zu lassen, wie den roten Hahn, der aus dem Stechlin-See steigt, wenn es draußen was Großes giebt, fällt mir der Habicht ein, wieder so ein Greifvogel, der bei mir eingreift, als hätte ich ihn jemals dazu aufgefordert. Ich bin unterwegs im Wald vor ein paar Tagen, als ich ihn von weitem auf einer Kanzel, einem Hochsitz, sehe, ich also vorsichtig nahe an die Kanzel heranfahre, da streckt er mir seine weißgrau geringelte Brust unverschämt demonstrativ entgegen und fliegt erst sehr zögerlich auf, als ich unmittelbar unter ihm stehen bleibe. Ich meine, hier im Wald ist ein Auto immer noch absolute Ausnahme, nichts, an das er sich gewöhnt haben könnte wie andere Vögel an viel befahrenen Straßen. Warum also blieb er auf der Kanzel sitzen? Wollte er mich vielleicht provozieren mit seiner aufgesetzten Gelassenheit, vielleicht darauf verweisen, wie einst jener Hahn, der aufstieg aus dem Stechlin-See wegen des verheerenden Erdbebens von Lissabon am 1. November 1755, mich darauf hinweisen, dass dieser Tage in der Karibik, weit weg von unserer Waldidylle, der Hurrican Irma wütet? Aber natürlich weiß er nicht, was ich schon längst weiß aus dem Radio und dem Fernseher, weiß gar nichts, agiert nur in meinem Bewusstsein, kann nicht wahrnehmen, wie weit wir uns Heutige schon abgesetzt haben von wegweisenden Gesten, von Rauchzeichen und krähenden Hähnen auf Misthaufen oder Kirchtürmen früherer Zeiten, sind überall einstürmenden Informationen ausgesetzt, ganz zu schweigen vom dreimal krähete der Hahn aus der Matthäus-Passion. Unsere Habichte nisten auf Satelliten im All, da hat der analoge Habicht von der Kanzel keine Chance, da kann er seine weißgrau geringelte Brust noch so herausstellen. Was für Spinnereien, denke ich, als ich den dampfenden Espresso vom Herd nehme. Aber die stellen sich eben ein, solche Spinnereien, wenn man allzu lange allein hier auf der Terrasse sitzt, allein hier auf dem Lande lebt, solche Spinnereien werden real, passen einfach, steuern dich irgendwann angemessen durch die tägliche Flut der Informationen.
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