Verdrängung

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cawowu

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Verdrängung

Jeder muss sterben. So ist das nun mal. Eine einfache Wahrheit. Doch deren Bedeutung ist das, was uns bis zu dem Moment, in dem es dann wirklich passiert verborgen bleibt. Wer glaubt schon wirklich ernsthaft daran, zu wissen wie das ist, wenn dich das Leben Stück für Stück verlässt. Das ist etwas, dass in unserem normalen Alltag zwischen Netflix und Papierkram, U-Bahn und Rushhour, Beziehungsstress und Fickgedanken einfach nicht stattfindet. Das Schwein denkt ja auch erst über den Schlachter nach, wenn der Bolzen schon im Gehirn steckt. Und dann ist es – nun ja – irgendwie zu spät.

Auch ich will es in diesem Moment eigentlich nicht so wirklich glauben. Dabei spüre ich den für mich vorgesehene Bolzen quasi schon auf der Stirn. Mit nur einem Unterschied: Bei meinem Bolzen handelt sich um einen scheißgroßen Ozean. Unter mir nichts. Nur Dunkelheit. Eine Tiefe, die mich erschaudern lässt und mir die Panik in den Hypothalamus treibt. Also versuche ich es mir gar nicht erst vorzustellen. Nein, nein, nein … denk an was Schönes! Denk an was Schönes! DENK AN WAS SCHÖNES!!!
Denk an das schöne Mädchen aus Manila. Daran wie sie dich in der Strandbar angeschaut hat. Die Unschuld in ihrem Blick. Ihre haselnussbraunen Augen und die Wärme … verdammt mir ist kalt.

Das Wasser umarmt mich erbarmungslos. Und es fällt mir immer schwerer dagegen anzukämpfen. Wie lange bin ich schon hier? Eine Stunde, zwei Stunden, drei Stunden. Wie am Ereignishorizont eines schwarzen Loches verschwimmt die Zeit hier, zusammen mit allem, was ich mal werden wollte, zu etwas das sich mir entzieht. Etwas, das eigentlich gar nicht mehr existiert. Das Einzige, was hier existiert, ist meine Angst und das Nichts unter meinen Füßen.
SCHEIßE! WAR DA GERADE WAS?
Was hat mich da gestreift? Ein Fisch? Müll? Oder vielleicht …
Denk doch einfach an was Anderes. Denk an das schöne Mädchen. An ihr Lachen. Ihre Stimme. An den Duft ihrer Haut. Sie nahm deine Hand und zog dich weg. Weg von dem Lärm und den Lichtern der Strandbar, hinaus in die Dunkelheit. Am Meer entlang. Und immer weiter, bis die Bar von den Sternen am Nachthimmel kaum noch zu unterscheiden war. Es wurde still. Nur noch das Rauschen der Wellen war zu hören.

So wie jetzt auch. Die Musik des Meeres wird zu meinem ganz persönlichen Requiem. Zu meinem Totenlied, das gnadenlos seine ewiggleiche Melodie spielt und mich dabei immer weiter an den Rand des Wahnsinns treibt. Doch noch bin ich am Leben. Hoffnung durchströmt meinen komplett unterkühlten Körper. Und ich schreie so laut ich kann – um Hilfe, vor Wut und aus Verzweiflung.
Es ist wie das letzte Aufbäumen eines verwundeten Rehs, bevor es versteht, dass es da nichts mehr gibt – außer der Gewissheit, dass es vorbei ist.
Aber bin ich schon an diesem Punkt? Gibt es für mich nur noch die Dunkelheit unter mir? Ich verdränge diese Gedanken genauso wie das Wasser, das mich umgibt.
Ich will zurück. Zurück in die Behaglichkeit meiner Erinnerung und zurück zu dem Mädchen aus Manila. Wieder an den Strand und zu diesem Moment, in dem einfach alles stimmte. Wie sie mich anschaute. Ein Blick voller Lust aus einem Paar unschuldiger Augen.
Sie wollte mich und ich wollte sie. Ihr Körper über mir hob und senkte sich, krümmte sich vor Ekstase. Ihre schweißnasse Haut glänzte im Mondschein und die tropische Nachtluft umgab unsere Leiber. Ich kam in ihr, ergoss mich in sie. In diesem Moment waren wir, zwei Fremde, eins – verbunden durch nicht mehr als das pure Glück zu sein. Noch eine Weile lagen wir genauso da, dann lachte sie mich an, wie die aufgehende Sonne. Ich sah sie nie wieder.

Jetzt bin ich hier, mitten in meinem nassen Grab. Wie ich hierhergekommen bin? Ist doch scheißegal. Ich bin, wo ich bin, und kurz vor meinem Ende. Das Meer hat die Haut aufgeweicht, die Sonne das Gesicht und den Nacken verbrannt. Meine Muskeln schmerzen. Mir ist kalt und vom Schlucken des Salzwassers ist mir übel geworden. Ich habe das Gefühl, alles gegeben zu haben. Und trotzdem war es umsonst. Nicht nur diese letzten elendigen Stunden. Nein, mein ganzes Leben.
Was habe ich schon getan? Was bleibt von mir? Nichts! Nur verschenkte Zeit.
Ich blicke nach oben.
Schließe meine Augen.
Schwärze umgibt mich.
 

Bo-ehd

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Hallo, willkommen in der Leselupe und Gratulation zu deinem Text. Das Sterben ist ein schwieriges Thema, weil Stimmung und Sprache so perfekt harmonieren müssen. Das ist dir weitgehend gelungen. Richtig gut sind Passagen wie diese:
So wie jetzt auch. Die Musik des Meeres wird zu meinem ganz persönlichen Requiem. Zu meinem Totenlied, das gnadenlos seine ewiggleiche Melodie spielt und mich dabei immer weiter an den Rand des Wahnsinns treibt. Doch noch bin ich am Leben. Hoffnung durchströmt meinen komplett unterkühlten Körper. Und ich schreie so laut ich kann – um Hilfe, vor Wut und aus Verzweiflung.
Wirklich gern gelesen.
Gruß Bo-ehd
 



 
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