VERPASST

4,00 Stern(e) 3 Bewertungen

AliasI

Mitglied
Es geschah in den Ferien, die ich immer im Dorf bei meiner Oma verbrachte, nachdem meine Eltern in die Großstadt gezogen waren.
Er zwang mich nieder auf einer abgemähten Wiese, küsste mich - und spuckte mich dann an. Da war ich zwölf Jahre alt und er vielleicht vierzehn.
Zwei Jahre später trafen wir uns auf einem Schützenfest, wir fuhren auf dem Karusssell und er küsste mich wieder, diesmal zaghaft und ohne Anspucken.
Zig Jahre später gab es ein Treffen auf einem Fußballplatz in der Heimat. Er stand hinter mir, hatte seine Hände auf die Rückenlehne meines Stuhls gelegt und ich fand es erregend.
„Bist du schon verheiratet?", fragte ich ihn. Auf dem Dorf heiratet man früh - und lässt sich früh scheiden.
„Nein“, sagte er. „Ich bin doch nicht verrückt!“
„Genauso wie ich!“
Es gab noch eine Begegnung: Ich war an Weihnachten wieder im Dorf zu Besuch bei den Eltern. Und als ich nach den Feiertagen zurück in die Großstadt fahren wollte, sprang der verdammte Karmann nicht an wegen der verdammten Kälte dort. Mein Vater rief jemanden zu Hilfe. Er war es, machte alles klar und ging dann wieder, nachdem ich mich bei ihm bedankt hatte. Danach sah ich ihn nie wieder. Ich hatte ihn verloren. Erst aus den Augen, dann aus dem Sinn.
Wieso muss ich jetzt an ihn denken, jetzt, wo ich fast am Ende meines Lebens angekommen bin?
Was hätte sein können? So viele nicht genommene Straßen, so viele verpasste Ausfahrten. Aber er ist davon die verlockendste, weil er so vertraut wie die Heimat war - und trotzdem erregend und rätselhaft.
 
Zuletzt bearbeitet:

GerRey

Mitglied
Hallo Aliasl,

manchmal tauchen solche Sachen aus den Untiefen des Unterbewussten auf. Das ist wie, wenn man was verloren Gelglaubtes wiederfindet. Sofort melden sich die Gefühle zurück, die daran haften- Hätte er Dich beim ersten Kuss nicht angespuckt, wären Dir vielleicht die anderen Begegnungen nicht in Erinnerung geblieben?

Ich kann mich an eine ähnliche Situation Ende der Neunziger erinnern. Ich saß auf dem Barhocker eines Lokals, das gesteckt voll mit Gästen war. Jemand hinter mir bestellte etwas beim Kellner. Plötzlich spürte ich, wie sich etwas sanft und weich gegen meinen Rücken drückte und sich zu reiben begann. Es elektrisierte mich. Ich wollte mich nicht umdrehen, um das Gefühl nicht zu verlieren.

Das Getränk kam; Geld wurde übergeben; ich sah eine elegante Frauenhand mit rotlackierten Fingernägel. Danach war die Hand weg und auch der Druck in meinem Rücken baute sich nicht wieder auf. Als ich mich umdrehte, standen dort zwei Burschen, die dem Kellner winkten.

Bis heute weiß ich nicht, wer das gewesen war. Ich meine, es war sicher Heidi Klum, die mir lange als Ideal vorschwebte.

Behalte das Erregende und Rätselhafte, dass Dich aus der Vergangenheit anficht - wer weiß, was daraus andernfalls geworden wäre!

Danke für die Erinnerung an Heidi

Gruß

GerRey
 

AliasI

Mitglied
@ GerRey
Gerne geschehen, solche Erinnerungen sind zu kostbar, um sie zu verlieren. Ich muss lachen: Dein Kommentar ist ja fast länger als meine Story, die natürlich auch wahr ist. Nur sein Gesicht taucht nicht mehr richtig aus den Untiefen des Unterbewusstseins auf. Er war aber groß, das weiß ich noch. Himmel, das ist schon über 50 Jahre her.
Ich kann mich nicht dran erinnern, was ich gestern gekocht habe, aber an das, was damals passierte schon und es hilft mir über die jetzige Zeit hinweg.
Einen lieben Gruß sende ich dir
 

aliceg

Mitglied
Hallo Aliasl,

sehr tiefe Gedanken zu einer schön melancholischen Geschichte, den Tränen nahe.
Denke, dass manche Straßen in Sackgassen münden, andere in einer Weggabelung, wer weiß schon, wohin euch das Schicksal gedrängt hätte?

Eine Kleinigkeit am Ende noch: bei verlockendste fehlte das weiche 'd' im Wort. Vielleicht symptomatisch für deine Rückerinnerung, das 'Weiche auslassend'?

lg aliceg
 

Blue Sky

Mitglied
Man kann sich aber auch glücklich schätzen, dass man verschont geblieben ist, von dem was einem auf den Straßen und hinter den Ausfahrten, die man nicht genommen, erwartet hätte. Da ist ja nicht immer Gutes am Start. Die Rätsel aber bleiben immer schön.
Vielen Dank!

PS,
?
 

AliasI

Mitglied
@ Liebe aliceg,
nein, es war nur ein blöder Rechtschreibefehler. Natürlich klammere ich mich an das 'Weiche'. Aber die Vergangenheit ist wie alles vergangene in Beton gemeißelt. Und ich kann's einfach nur neu erträumen.
 

AliasI

Mitglied
@ Blue Skey.
Auch dir danke ich. Ja, ohne die Rätsel wäre das Leben ziemlich öde. Und 'Karussel'... Ich bin mit dem Namen auf Kriegsfuß, kriege ihn nur hinkend hin, entweder ist er zu lang oder zu kurz. Genauso wie die Erinnerungen ...
Lieben Gruß
 



 
Oben Unten