Verrückte Weihnachten in Berlin

Na ja, ich gebe zu, es ist eigentlich noch ein bisschen früh dafür. Aber die Temperaturen sind einstellig geworden, die Heizungen werden aufgedreht, und ich trinke Earl Grey statt Coca Cola. Leute, es geht auf Weihnachten zu. In nur zwei Monaten begehen die Christen ihren höchsten Feiertag.

„Schnell ein paar Storys zu diesem Thema aus dem Ärmel gezaubert, als Vorgeschmack auf Weihnachten.“ So dachte ich mir das jedenfalls. Dumm nur, dass mir in diesem Jahr die Einfälle irgendwie versiegt sind.

Aber jemand, der aus dem Land der Dichter und Denker kommt, gibt nicht so schnell auf, und letztendlich sind sogar vier Geschichten draus geworden.

Das alternative Weihnachtskonzert oder The show must go on

Das kleine Zettelchen flatterte einsam in der kalten Winterluft an einem dieser länglichen, grauen Stromkästen, die hier überall die Straßenränder säumen, und gerne für wilde Plakatiererei genutzt werden. Neugierig geworden, trat ich näher, und las mir den Anschlag durch. Am 22. Dezember wurde im Eisenbahner in der Pfarrstraße ein Konzert angekündigt. Wir schrieben das Jahr 1991. Die Mauer war zwei Jahre zuvor gefallen.

Ich kannte weder den Eisenbahner noch die Pfarrstraße. Deshalb faltete ich den Stadtplan auseinander, und erfreulicherweise stellte es sich raus, dass sie sich ganz in der Nähe vom Ostkreuz, wo ich lebe, befand, nur auf der Lichtenberger Seite der S-Bahnbrücke, die die Boxhagener Straße überspannt.
Als ich das Haus in der Dunkelheit gefunden hatte, entpuppte sich der Eisenbahner als Besetzerkneipe.

Ich war eigentlich enttäuscht, rechnete ich doch, da der Name typisch Ostberlinisch klang, mit einer Klubgaststätte, die auch Konzerte veranstaltete, oder so etwas in der Art, die von den Leuten aus der Umgebung frequentiert wurde.

Nicht etwa, dass ich gegen Hausbesetzer eingestellt war, ganz im Gegenteil, hatte aber schon meine schlechten Erfahrungen mit ihnen gemacht. Auf die hochnäsigen Autonomen, die aus Kreuzberg zu uns rüberkamen, und sich hier angesiedelt hatten, war ich schon im SEK in der Scharnweber, dem X-Beliebig in der Liebigstraße, dem Supamolly in der Jessner, und wie die Lokale alle hießen, getroffen.
Zwischen den ganzen coolen Leuten aus dem Westen Deutschlands, saß ich, die mütterlicherseits und väterlicherseits von neugierigen, redseligen Leuten abstammt, und versuchte vergeblich, angefeuert vom Bier, Kontakte zu knüpfen. Sie, die das Gegenteil vorgaben, waren in Wirklichkeit sehr konservativ. "Und der König hat ja keine Kleider an." dachte ich.

Aber trotzdem gingen wir immer wieder dorthin, um die neuen Landsleute kennenzulernen, für uns Vorboten der neuen Zeit, die unvermutet über uns hereingebrochen war, mit denen wir, außer unsere Sprache, nicht viel gemeinsam zu haben schienen. Die Neugierde aufeinander war leider nur einseitig.

Sie hatten wenig Interesse an Kontaktaufnahme. Zu einem Freund sagte eine Frau mal ganz unverblümt: „Merkst du nicht, dass du hier nicht reinpasst.“ was ihn völlig verstört zurückließ

Dort in der Pfarrstraße stand eine ganze Straßenseite zum Abriss bereit, und war im Frühjahr nach der Wende von Hausbesetzern bezogen worden.
Sie, die fast alle aus Westdeutschland stammten oder aus Westberlin, haben diese Häuser und eine Menge andere historische Bausubstanz in Lichtenberg, Friedrichshain, Pankow und Mitte vor der Abrissbirne gerettet. Heute sind dort schick sanierte Wohnungen.

In dem Eckhaus, wo sich die Besetzerkneipe befand, war früher wirklich eine Kneipe dieses Namens. Eines Tages kam ein Mann vorbei, einstmals Gast dieser Lokalität, und fragte: „Wann eröffnet ihr die Kegelbahn wieder?“ Er blickte in verblüffte Hausbesetzer*innengesichter. Man hatte vorher nicht die leiseste Ahnung davon, dass in dieser alten Arbeiterkneipe einmal Bowlingkugeln gerollt waren. Jetzt wurde allen klar, warum der Raum sich nach hinten hin so langstreckte wie ein Handtuch.

Der Eintritt für das Konzert betrug lediglich fünf Mark. Das Publikum war in dieser bitterkalten Dezembernacht, nur zwei Tage vor Weihnachten, natürlich überschaubar.

Außer der Band waren noch ein paar Leute aus dem Haus und ein paar Studenten da. Die Band, die übrigens Death Metal spielte, damals total angesagt, kam mit ihrem klapprigen Van auf vereisten Straßen aus dem tiefsten Westdeutschland angereist.
Man spielte einen Titel, der ganz vielversprechend klang und pausierte dann, um auf weiteres Publikum zu warten, was ich auch verstand, jedenfalls am Anfang, denn nach einer halben Stunde passierte das gleiche. Die Akustik im Eisenbahner, einem riesigen, einer Gruft ähnlichen Raum, entpuppte sich übrigens als genial.

Wir standen alle um einen kleinen Kanonenofen herum und wärmten uns die Hände, ein Effekt, der durch die kühlschrankkalten Bierflaschen wieder zunichte gemacht wurde, bei deren Berührung einem ein kalter Schauer durch den ganzen Körper lief.

Warum die Leute hinter der Bar in den ungeheizten besetzten Häusern immer solchen Wert darauf legten, die Bierflaschen in der kalten Jahreszeit im Kühlschrank zu lagern - ein Frontalangriff auf die Blase und die Nieren ihrer Gäste - im Sommer, wo es angebracht gewesen wäre, sahen sie das dafür nicht ganz so verbissen und servierten gerne lauwarmes Bier, erschloss sich mir nie.

Nach zwei Stunden begann ich langsam zu resignieren. Es waren zwar schon ein paar mehr Zuschauer eingetroffen, aber der Band reichte das immer noch nicht aus. „Warum ziehen sie die Sache nicht einfach durch? The show must go on.“ fragte ich mich, denn aus Biografien weiß ich, dass meine Lieblingsband, die Rolling Stones, ihre ersten Konzerte auch nur vor einer Handvoll Zuschauern spielte für ein paar Freibier, und wo sind sie heute.

Wenn man aber gar nicht erst anfängt, dann wird es nichts mit der Weltkarriere. Nach drei Stunden vergeblichen Wartens begriff ich, dass die Band tatsächlich die Arbeit verweigerte, und ging sauer wieder nach Hause. So eine laxe Einstellung zur Pflichterfüllung war mir noch nie begegnet. „Sie hätten uns wenigstens die fünf Mark Eintritt zurückgeben können.“ fand ich. Bei den damaligen Preisen würde das immerhin für zwei Döner gereicht haben.

Ich bin dann im drauffolgenden Sommer und auch noch im nächsten Jahr oft mit meiner Freundin dort gewesen. Wir saßen die ganze Nacht unter der Kastanie vor dem Eisenbahner und unterhielten uns mit den Bewohnern.
Es war ein bisschen wie am Ende der Welt, nachts ein ausgestorbenes Fleckchen Erde. Dann fuhren kaum mehr Autos, und der Platz wurde zu einem idyllischen Ort, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagten. Nebenan war gleich die Bahntrasse.

Unweit vom Eisenbahner befand sich ein stillgelegtes Gaswerk, vom Baustil her wie die abgerissenen Gasometer im jetzigen Thälmannpark im Prenzlauer Berg, nur kleiner. Eine Gruppe junger Leute aus der Gegend war auch oft da. Im tristen Lichtenberg der Nachwendezeit war ja sonst nicht viel los.

Im Eisenbahner hielten sich meist immer dieselben Leute auf, viele Hausbesetzer aus der Pfarrstraße haben ihn wohl nie betreten.
Ich habe dort sogar meinen Geburtstag mit zwei Flaschen Whiskey - eine Johnny Walker Red Label war von mir und ein Kumpel aus Lichtenberg hat noch eine Black Label beigesteuert - gefeiert.

"Im Wein liegt Wahrheit." sagt man. In meinem Falle handelte sich zwar um Whiskey, aber mir schwante trotzdem undeutlich, dass es mit mir und der alternativen Szene nichts werden würde, und dass ich da nicht reinpasste.

Hanna, ein Mädel aus Schwaben, und ich hockten, behext vom Charme eines gewissen Mr. Johnny Walker, auf einer Schiene von dem Gleis, das neben dem Eisenbahner verlief, und auf dem früher immer eine Lok die Kohlewaggons zum Gaswerk Lichtenberg zog, und das jetzt ins Nirgendwo führte. Sollte das eine Metapher sein?

Überhaupt hatten sie in dieser Ecke von B, die Gegend entlang der Rummelsburger Landstraße war früher ein reines Industriegebiet, alles plattgemacht, einschließlich des Senders in der Nalepastraße, woher auch die Funkwellen des Rockradios kamen, das mich früher in meinem Dorf in Mecklenburg immer mit Musik versorgt hatte. Die Fabrikgebäude aus der Gründerzeit konnten zum Glück wegen dem Denkmalschutz nicht abgerissen werden, und stehen heute noch.

"Es kommt mir so vor, als ob mein Leben genauso stillsteht, wie die kleine Bahn, die noch vor kurzem hier lang fuhr.“ sagte ich nachdenklich zu Hanna. "Irgendwie bin ich an einem toten Punkt." Sie sah mich erstaunt an.
Vielleicht hatte sie mich immer für einen sorglos, fröhlichen Typ gehalten, und fing an, an mir zu zweifeln, und ich hatte wohl zu viel Tiefgang bei ihr vermutet. „Was dachten die westdeutschen Hausbesetzer eigentlich über die Ostdeutschen aus der umliegenden Gegend, die bei ihnen Anschluss suchten?“ fragte ich mich. Für uns stellte die Wende ja auch einen Identitätsverlust dar.

Ein paar Jahre danach traf ich mal einen Kumpel von ihr. „Sie hat ein Kind.“ erzählte er mir. „Und was macht sie so?“ fragte ich ihn. „Sie zieht immer noch rum.“ „Was versteht man wohl darunter?“ überlegte ich bei mir.
Heute gibt es keinen Eisenbahner mehr, und die Kastanie, vor der einst die Feuerpfanne stand, ist auch abholzt. Der nette Opa von gegenüber ist leider schon verstorben.
Die Räumung lief übrigens friedlich ab. Ich glaube es war im Sommer1997. Man hatte sich wohl vorher geeinigt. Einige Hausbesetzer scheinen Wohnungen in einem Haus mehr nach vorne zum Markgrafendamm hin bekommen zu haben.

Dort sieht man öfter noch Leute rein und raus laufen, die etwas bunter aussehen, als der Rest der Umgebung.
Zu denen habe ich aber keinen Kontakt mehr. In meinen Augen grenzen sich die alternativen Wohnprojekte, die ja zu Anfang mal Inseln des Fortschritts hier im Friedrichshain zu sein schienen, zu sehr vor der Umgebung ab, und schmoren im eigenen Saft.

Letztens kuckte mich hier in der Boxhagener Straße eine Frau verblüfft an. Sie schien mich zu erkennen. Das kann Hanna gewesen sein. Ich bin mir aber nicht sicher. Wir hatten uns fast drei Jahrzehnte nicht mehr gesehen. Damals war sie fast noch ein Mädchen, und hat jetzt schon erwachsene Kinder.

Nachtwache vor Heiligabend oder Keinen Bock auf Coming home for...

Ich saß in der Nacht vom 21. zum 22. Dezember in der Pförtnerloge der Mensa Nord in Mitte, nahe dem Deutschen Theater. Was hatte mich dahin verschlagen? Ich war neunzehn, im ersten Studienjahr in Berlin, damals noch Hauptstadt der DDR, und wir mussten für vierzehn Tage in der Mensa aushelfen.

Die erste Woche war ich an der Abwäsche zusammen mit anderen Studentinnen. Die drei Medizinstudentinnen, die auch dabei waren, redeten nicht mit mir und den anderen aus meinem Studienjahr, und sahen durch uns hindurch. Das war schon komisch. Später traf ich mal eine von ihnen wieder, die mir viel von sich erzählt hatte, als wir beide allein an der Geschirrspülmaschine arbeiteten, und die nicht so eingebildet wie die anderen zu sein schien, jedenfalls dachte ich das. Die Begegnung werde ich nie vergessen. Wir liefen direkt aufeinander zu, in einem schmalen Gang, der zu beiden Seiten durch Bauzäune aus Planen begrenzt wurde, und konnten uns nicht ausweichen. Sie erwiderte meinen Gruß nicht, und blickte im rechten Winkel an mir vorbei.

In der zweiten Woche musste ich Nachtschicht in der Pförtnerloge machen, langweilig, aber besser als Abwasch. Die anderen im Studentenwohnheim, bewunderten mich für meinen Mut, nachts ganz alleine in dem riesigen Gebäude zu sitzen. Aber mir machte das überhaupt nichts aus.

Mehr Sorgen machte mir meine Finanzlage. Jetzt, am Monatsende, war ich völlig pleite, und mir knurrte der Magen. Am Tag zuvor hatte ich noch in unserer Studentenküche schrumpelige Kartoffeln, dass letzte was ich noch hatte, zu Kartoffelpuffern zerrieben und mich darüber gewundert, dass der Kartoffelbrei völlig blau wurde.

Auf meinem vorgeschriebenen Rundgang durch die chromblitzende Großküche sah ich mich nach etwas Essbarem um. Zwischen den Riesenkesseln und Kippbratpfannen musste doch etwas zu finden sein. Die Tage zuvor hatten mir nette Senioren, die dort ihre Weihnachtsfeiern hatten, Schokoladentafeln zugesteckt, die sie wegen ihres Diabetes nicht essen konnten.

Und einmal hatte eine Küchenfrau mir Brötchen mit Fleischsalat geschenkt. Ich mag eigentlich keinen Fleischsalat, aber Hunger treibts rein.
Aber heute, am letzten Tag, stand ich völlig auf dem Schlauch und war enttäuscht, dass in der Küche nichts Essbares zu finden war außer einem einsamen Glas mit einer Creme, die aber schon ziemlich angetrocknet war. Aber ich aß sie trotzdem.

Am Morgen, wenn der Chef ankam, sollte ich mein Geld erhalten. Ich hatte mir schon mit den Nachtschichtzuschlägen eine schöne Summe ausgerechnet und träumte von einer Tasche, die ich in einem Schaufenster Unter den Linden gesehen hatte.
Ich wollte sie nachher gleich kaufen.
Als morgens endlich das Büro geöffnet wurde, ich musste nach meiner Nachtschicht noch eine Stunde davor warten, schob der Leiter der Mensa mir ein kleines Häuflein Scheine zu.

Ich war geschockt. Ich hatte viel mehr erwartet. Irgendwie musste sich wohl ein Rechenfehler bei mir eingeschlichen haben. Traurig steckte ich das Geld ein. Mit der Tasche wurde es nichts. Aber eine Fahrkarte nach Hause konnte ich mir leisten und was zu essen auch.

Im Studentenwohnheim war ich ganz allein, da die Anderen schon nach Hause gefahren waren. Am liebsten wäre ich über Weihnachten hiergeblieben, aber wir mussten über die Feiertage aus dem Wohnheim raus, zu meinem Leidwesen, denn ich fuhr ungern aus Berlin weg, aber umso lieber wieder hin.

Nachmittags machte ich mich auf den Weg zum Bahnhof. Es herrschte leichtes Schneetreiben. Irgendwo in der Prärie hielt plötzlich der Zug. „Alles aussteigen. Der Zug endet hier.“ Ich fragte die Schaffnerin, wann der nächste fährt. „Morgen früh um vier.“ war ihre lakonische Antwort.

Na schön, es war elf Uhr abends. So musste ich noch fünf Stunden in einer einsamen, ungeheizten Bahnhofswartehalle zubringen. Am Fahrkartenschalter war auch niemand mehr. Mir wurde etwas mulmig, und außerdem war es kalt.

Das, was mir geholfen hat, die Nacht zu überstehen, war das Buch, das ich als Weihnachtsgeschenk für meine Mutter gekauft hatte. Es ging um den Friedrichstadtpalast. Ich las viel von Fritzi Massary, dunklen Mädchen, die sich Bananen um die Hüfte gebunden hatten und jüdischen Komikern.

Übrigens, mit diesem Buch habe ich bei meiner Mutter einen Nerv getroffen.
Sie, die eigentlich nie etwas las, hat es geliebt. Vor ein paar Jahren fiel es mir zufällig in die Hände, und es bestand nur noch aus fliegenden Blättern, so oft hatte sie darin gelesen.

Zum Glück betrat niemand anderes in dieser Dezembernacht den Wartesaal. Ich hatte keinen Bock auf aufdringliche, besoffene Kerle. Morgens gegen vier kam dann endlich die Fahrkartenverkäuferin und ebenso mein Zug in die Heimat.

In unserer Kreisstadt angekommen, hatte ich immer noch eine Menge Zeit, bis der erste Bus in mein Dorf abfuhr.

So blieb mir nichts anderes übrig, als in die Bahnhofskneipe zu gehen, da es sehr kalt war. Normalerweise traute sich da keine Frau rein, wenn man da abends reingegangen wäre, hätten einen alle für eine Prostituierte gehalten, aber jetzt am Morgen, wo die harten Trinker noch schliefen, ging es.
Ich saß mit Teetasse und Bockwurst vor einem überfüllten Aschenbecher an einem Tisch, auf dem eine fleckige Tischdecke mit Brandlöchern lag, und atmete, unter den misstrauischen Blicken der Kellnerin, die sich wunderte, dass hier eine Frau allein reinkam, die rauchgeschwängerte Luft ein.

Es wurde Zeit, zur Bushaltestelle zu gehen. Dort sah ich das Mädchen, das mit ihrer Mutter über mir wohnte, mit einem blonden Jungen stehen. Sie hatte wohl bei ihm übernachtet, und er brachte sie zum Bus. Beide sahen sehr erst und traurig aus. Vielleicht hatten sie Schluss gemacht.

Sie war 16, drei Jahre jünger als ich und machte in der Kreisstadt ihre Lehre. Wie beide hatten eigentlich nie etwas miteinander zu tun gehabt, obwohl wir schon fünf Jahre im selben Haus wohnten. Auch jetzt nickte sie mir nur kurz zu.

Die hübsche Bea, denn so nannte man sie, verdrehte den Jungs in der Umgebung die Köpfe. Ich weiß noch, wir beide waren mal zusammen zu einer Jugendweihe eingeladen, da war sie erst dreizehn und ich sechzehn.
Sofort hatte sie einen Jungen am Hals, der sie zu jedem Tanz aufforderte. Später waren sie auch noch eine Weile zusammen.

Da hatte sie mit dreizehn schon ihren ersten Freund, etwas, was ich mit neunzehn noch nicht geschafft hatte. Bea passte gut in ihre Umgebung, was ich von mir leider nicht behaupten konnte.

Sie war ein Nachkömmling und wurde von allen sehr verwöhnt, ihre Mutter, eine reservierte Frau, die aber trotzdem im Dorf allgemein Achtung genoss, war Witwe. Sie war schwarzhaarig und brünett, genauso wie Bea und ihre Schwestern.
Die größte Freude meiner Mutter und von den meisten anderen Frauen im Dorf waren Klatschereien, die sich stundenlang hinziehen konnten.

Oft hörte ich interessiert in unserer Wohnung dabei zu, wenn sich zwei Frauen von Fenster zu Fenster über die neuesten Gerüchte austauschten.
Es ist aber ungerecht, sich darüber lustig zu machen. Sie hatten ja nichts anderes. Obwohl es natürlich für den Betroffenen, der die öffentliche Meinung gegen sich hatte, sehr unangenehm werden konnte.
Aus so etwas hielt sich Beas Mutter raus, aber wurde trotzdem von den Leuten auf dem Dorf akzeptiert. Normalerweise kann man sich da schlecht ausschließen, ohne es mit den anderen zu verscherzen.

Bea hatte noch vier ältere Schwestern und einen Bruder und zahlreiche Nichten und Neffen. Sie war vollkommen in ihre große Familie eingebunden und eigentlich ständig auf Hochzeiten, Geburtstagen und Kindstaufen, ganz im Gegensatz zu mir, die eigentlich, außer meiner Mutter, keine Familie hatte. Weihnachten wurde natürlich immer besonders groß gefeiert.

Als der Bus in unserm Dorf angekommen war, stiegen wir an der Bushaltestelle aus, die in der Mitte von meinem Dorf lag und gingen schweigend zusammen zu den Neubauten, die an einem Ende des Dorfes auf einem Berg lagen, zusammen mit der Schule. Diese Häuser hatte die Produktionsgenossenschaft gebaut, weil sie Arbeitskräfte brauchte.

Es gab das alte Bauerndorf, in dem die alteingesessenen Bauern lebten, die früher eigene Äcker hatten und die sogenannten Neubauten, wo die Zugezogenen lebten. Wahrscheinlich sind meine Mutter und ich in unserem Dorf nie richtig angekommen.

Als wir zu unserem Haus kamen, sahen wir schon von weitem ihre Mutter, die sich aus dem Fenster lehnte und nach Bea Ausblick hielt. Daneben stand eine von ihren vielen Schwestern.

Da öffnete sich auch eine Etage tiefer das Küchenfenster und meine Mutter winkte mir freudig zu. Es war der 23. Dezember. Weihnachten konnte kommen. Heile Welt. Damals noch.

IM unterm Tannenbaum

Es war an einem Heiligen Abend irgendwann in meiner Teeniezeit, vielleicht war ich vierzehn oder eher jünger. Ich langweilte mich. Meine Mutter hatte sich schon nebenan schlafen gelegt, und ich durfte anlässlich des Heiligen Abends bis Sendeschluss Fernsehen kucken. Wir konnten nur das erste Programm vom Ostfernsehen empfangen.

Auf dem Bildschirm sah man eine Gesprächsrunde vor Weingläsern sitzen. Eine bekannte Liedermacherin, damals noch ganz jung, war auch dabei. Sie erzählte von einem ungewöhnlichen Weihnachten.
Sie stammte aus einer Pfarrersfamilie in der Provinz. In ihrer ersten Zeit in Berlin, sie studierte hier, wollte sie Weihnachten einmal ganz anders verleben.

So fuhr sie einfach nicht nach Hause, sondern setzte sich am Heiligabend allein in eine Berliner Arbeiterkneipe, wo ein hübsches junges Mädchen wie sie bald in Gespräche verwickelt wurde. Wahrscheinlich erweckte sie auch Hoffnungen in einsamen Männerherzen.

Das war wohl eine Art Ausbruchsversuch. Vielleicht hatte sie das heilige Getue zu Haus sattgehabt. So was macht man aber auch, wenn man Liebeskummer hat. Da geht man irgendwo hin, wo einen niemand kennt.

Vielleicht hatte sich der Germanistikprofessor in spe, mit dem sie was zu laufen hatte, anderweitig umgesehen, und sie flippte aus.
Sie war behütet aufgewachsen, am Heilig Abend wurde bei ihnen immer Hausmusik betrieben, und staunte, wie viele alleinstehende Berliner es gab, die an Weihnachten in der Kneipe waren und tief ins Glas schauten.

In ihren Songs gab sie sich früher immer als eine Rebellin. Aber nach der Wende ist sie als Stasimitarbeiterin geoutet worden. Wie alle diese Leute, behauptet auch sie, niemandem geschadet zu haben.

Damals, vor dem Fernseher in meinem Dorf in Mecklenburg/Vorpommern, imponierte mir aber ihr Mut, sich am Heiligen Abend allein in eine Kneipe mit lauter Männern zu setzen. Natürlich wird sie im Grunde mit der Klientel in der Kneipe nichts anzufangen gewusst haben, und hat alle für Alkoholiker und verkrachte Existenzen gehalten, was die meisten gar nicht waren.
Sie stammte aus einem Bildungsbürgerhaushalt und kannte sowas nicht. „Der größte Feind des Menschen ist das Vorurteil.“ Hölderlin

Das werden die anderen auch gemerkt haben. Man hat ein feines Gespür dafür, was der Gesprächspartner über einen denkt.
Sie werden auch gemerkt haben, dass sie, der man die Intellektuelle drei Meilen gegen den Wind ansah, da gar nicht rein passte, haben es ihr aber nicht übelgenommen. Sie erkannten wohl die gute Absicht an, und außerdem sah sie gut aus.

Ein paar Jahre danach war auch ich in Berlin gelandet und saß ebenfalls an einem Weihnachtsabend vor einem Glas Bier und einem Teller mit einem Kotelett mit Kartoffelsalat in einer Arbeiterkneipe an der Frankfurter Allee, bekam eine Menge Getränke ausgegeben, und lieh mitteilungsbedürftigen Männern, Frauen waren eher schwach vertreten und wenn, hatten sie kein Bedürfnis sich mit mir zu unterhalten, mein Ohr.

Ich hörte viel von Scheidungen und Alimente Schulden. Eigentlich waren die meisten ganz in Ordnung. Sie freuten sich, dass eine junge Frau in ihrer Mitte war, und ich bekam viel Aufmerksamkeit. Und es gefiel mir. Vielleicht half man sich gegenseitig.

Der Schlüssel zur Tür und der Weihnachtsabend

Begeistert sagte ich zu dem Hausbesetzer aus Stoke Newington, bei dem ich die englischsprachige Ausgabe von „The Key at the Door“ gesehen hatte, ein Roman von Alan Sillitoe: „I know the book also and I like it. I was a child, then I wrote this book the first time.
Schlechtes Englisch ist die Sprache, in der sich die Jugend der Welt verständigt.

Er blickte mich uninteressiert an, und ignorierte meinen freundschaftlichen Annäherungsversuch.

Unsere Anwesenheit schien ihm gegen den Strich zu gehen. Insgeheim dachte er wohl bei sich: „Was willst du Möchtegernautonome mit deiner Kampflesbenfreundin eigentlich hier?“ Diese Begriffe waren gefallen, als sich am Abend zuvor einige der Leute aus dem Haus über uns unterhielten, und ich zufällig Ohrenzeuge wurde.
Aber vielleicht wollten sie auch, dass ich das höre. Mir wurde klar, dass unsere Tage hier gezählt waren. Es tat mir leid, denn ich mochte sie. Aber trotzdem hatten wir die Zeit unseres Lebens in London.

Dieses englische Buch liebte ich zu Teenagerzeiten. Es gefiel mir besonders deshalb so gut, weil die Kindheit von dem Held Brian irgendwie genauso ablief wie meine eigene. Immer Zank und Streit und Vorwürfe. Seine Eltern waren zwar verheiratet, aber nicht gerade durch Liebe miteinander verbunden.
Im Gegenteil, sie hassten sich. So ein rauer Ton wie in seiner Familie, herrschte auch zwischen mir und meiner Mutter.

Das Kapitel aus diesem Buch, das an Weihnachten spielt, reservierte ich mir für den Weihnachtsabend. Na ja, ich gebe zu, es gibt bessere Beschäftigungen für den Heiligen Abend, als in seinem Lieblingsbuch zu lesen. Aber für mich war das OK. Ich war in der Beziehung nicht allzu verwöhnt.

Unsere Kleinfamilie bestand nur aus mir und meiner Mutter, mit der ich mich ständig stritt. Wir beide waren zu eng miteinander, wie es bei vielen Alleinerziehenden ist. Da fehlte jemand drittes wie Vater, Bruder, Schwester, Onkel, Oma als Puffer.

Aber leider hatte meine Mutter auch keine Geschwister, und ihre Mutter war lange verstorben. An Weihnachten eskalierten unsere Streitereien regelmäßig, wahrscheinlich weil wir beide da unsere Isolation richtig spürten.
Damals wusste ich noch gar nichts davon, dass mein Vater verheiratet war, als er mit meiner Mutter zusammen war.

Im Kindergarten hatte ich früher stolz verkündet, dass ich ohne Vater entstanden bin, sozusagen die unbefleckte Empfängnis, womit wir wieder bei der Weihnachtsgeschichte wären.
Das kam meiner Freundin spanisch vor, und sie machte sich bei ihren Eltern schlau. Seit ich wusste, dass ich auch einen Vater hatte, erwartete ich ihn täglich, stündlich. Ich stellte ihn mir als eine Mischung aus Ernst Thälmann und Daniel Boone vor. Aber mein Gefühl sagte mir, dass er niemals kommen würde.

Leider erfüllten sich meine bescheidenen Wünsche nach einem harmonischen Fest auch dieses Jahr wieder nicht.
Anstatt das ich, wie ich das geplant hatte, friedlich in meinem Buchkapitel las und mich von Weihnachtsstimmung übermannen ließ, artete alles mal wieder in Geschrei aus wie die Jahre zuvor auch schon.

Nach Weihnachten zu Hause habe ich nie Sehnsucht verspürt, und war immer froh, wenn ich weit weg war. Meine Mutter und ich kamen erst einigermaßen miteinander aus, als die Strecke Mecklenburg / Berlin zwischen uns lag. "Coming home for Christmas" war kein Thema für mich.

Aber stellt euch vor, das Buch „The key at the door“ habe ich doch tatsächlich in einem besetzten Haus in London wiedergefunden.

Im ersten Sommer nach der Wende stellten meine lesbische Freundin und ich uns an die Tankstelle in Schöneweide und trampten nach London, und wohnten für ein paar Wochen in einem besetzen Haus, bis wir den Leuten auf den Wecker gingen.
Meine Freundin wollte ihren Liebeskummer vergessen, und ich wollte endlich mal die Heimat der Rolling Stones kennenlernen. Die Adresse hatte mir ein Wagenburgler aus der Adalbertstraße in Kreuzberg gegeben.

Nachdem wir aus dem ersten Haus rausgeflogen waren, standen wir zum Glück nicht unbehaust auf der Straße, wie Josef und Maria an Weihnachten, sondern lernten Leute in einem anderen Haus, nur ein paar Straßen weiter, kennen. Dort wurden wir beide mit offenen Armen aufgenommen.

Hier lebte eine Kommune bestehend aus einer offenen jungen Frau und drei Männern. Die vier liebten sich, anders kann man die Freundschaft, die zwischen ihnen herrschte, nicht beschreiben, und hielten die Tür für Gäste auf.

Am liebsten wäre ich für immer in London geblieben, aber das ging natürlich nicht. Sie mochten uns, und wollten uns gar nicht mehr weglassen, und uns sogar Geld geben, damit wir länger bleiben können.

Irgendwie war ich wohl im Paradies gelandet, das, nachdem die Christen und auch die Muslime und Juden sich so sehnen, und das sie im Himmel zu finden hoffen.
 
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petrasmiles

Mitglied
Liebe Friedrichshainerin,

ich frage mich, warum Du die Geschichten hintereinander weg und nicht einzeln eingestellst hast.
Dann wäre es auch für den Leser leichter, Feed back zu geben. Ich beziehe mich jetzt erst einmal auf die erste Geschichte.

Zunächst einmal gefällt mir die erste Geschichte gut - da kommt gut dieses 'Reden wie man denkt' zum Ausdruck, wie ich es an (vielen) Berlinern liebe.
Und auch der Schlenderschritt, die immer wieder auftauchenden Rückblenden, tun der Geschichte für meine Begriffe gut. Daurch ergibt sich dann eine gewisse Üppigkeit an Wörtern, die man noch einmal (gnadenlos :cool:) überarbeiten muss und alles ausmerzt, was keinen Nährwert hat, was Doppelungen sein könnten, oder wo ein Satz kompliziert erscheint, weil ein überflüssiges Wort den Sprachfluss hemmt.

Vielleicht komme ich später noch einmal dazu, die anderen zu lesen.

Liebe Grüße
Petra
 
Hallo Petra,
danke für Dein Feedback. Ich habe die vier, in meinen Augen kurzen Geschichten, zusammengefasst, weil ich sie einzeln literarisch zu schwach fand.
Verwerfen wollte ich sie aber auch nicht. Als Vorweihnachtsgeschichten schienen sie mir geeignet.
Jeder kann sich aus den vier Geschichten etwas raussuchen, was ihn interessiert, oder ihn an sein eigenes Leben erinnert. Das ist es ja, was man in Literatur sucht. Entweder besetzte Häuser, Studentenzeit, Kindheit auf dem Dorf oder Londonreise. Für jeden Geschmack etwas dabei.
Ich dachte, Quantität macht Qualität.
Gruß Friedrichshainerin
 



 
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