Dichter Erdling
Mitglied
Bei meinem Eintreffen sind die meisten Eigentümer bereits versammelt.
„Haben Sie sich in die Liste eingetragen?“ werde ich an der Tür abgestoppt. Dies ist keine Veranstaltung, zu der man sich einfach so dazusetzen kann. Ich muss erklären, dass mein Vermieter heute verhindert ist und ich deshalb von ebenjenem hergeschickt wurde, um für ihn Protokoll zu schreiben. Der Mann mit der Liste lässt sich das Papier mit der Vollmacht des Vermieters zeigen, wodurch mein Dasein legitimiert wird. Dann erst darf auch ich mich eintragen und mich hinsetzen.
Im schmucklosen Saal sind reihenweise Stühle aufgestellt. Ich setz mich ganz hinten hin. Um mich herum sind Leute, die im Mehrparteienhaus meine Nachbarn sind. Daneben ein paar andere, die ihren Wohnungsbesitz weitervermietet haben, selbst aber woanders wohnen. Ihre Gesichter sind mir fremd.
Ein bisschen wundern sie sich schon, sie alle, was ich heute hier mache; vor allem die, die meine Erklärung beim Hereinkommen nicht mitgekriegt haben - aber keiner fragt nach.
Man kennt sich untereinander und man weiß, dass ich bloß Mieter bin. Ich, der Mieter, gehöre nicht wirklich dazu, wenn sich die Besitzenden über ihr Eigentum beraten, aber meine Anwesenheit wird schon ihre Richtigkeit haben, denken sie vermutlich. Sie haben Vertrauen in die Welt und ihre Richtigkeit. Vielleicht, so mögen sie mutmaßen, habe ich ja im Lotto gewonnen und habe mir daraufhin kurzerhand die von mir bewohnte Immobilie gekauft, sodass ich jetzt auch Mitglied im Club bin.
Nach und nach trudeln die Eigentümer ein, bis quasi alle Stühle im Raum belegt sind und die Versammlung offiziell losgehen kann.
Vorn steht ein Vertreter der Wohnbaugenossenschaft, der durch den Abend führen wird. Er fängt an, vorzurechnen, wie viele Rücklagen die Hausgemeinschaft mittlerweile gebildet hätte (ein Hunderttausend-Euro-Betrag) und dass es neue Vorgaben zur monatlichen Mindestrücklage gäbe, sodass sich dieses Guthaben verlässlich mehren wird.
Ob nun der Zeitpunkt für eine Dachsanierung gekommen sei oder ob man noch abwarten und weitere Rücklagen ansparen soll? - ist denn auch der erste große Punkt auf der Tagesordnung. Das letzte Gutachten hatte keinen dringlichen Handlungsbedarf ergeben, allerdings wird in der obersten Etage zeitweise Wassereintritt beklagt. Die Ursachen für den Wassereintritt sind indes unklar. Es muss nicht zwingend am Dach liegen, sondern vielleicht eher am Abfluss der Dachterrasse, meint jemand aus der dritten Reihe. Man einigt sich darauf, weitere Gutachter zu bestellen, voraussichtlicher Kostenpunkt ca. € 3000,-.
Nächstes Thema: Müllentsorgung. Die korrekte Mülltrennung sei ein Problem, vor allem bei den vermieteten Wohnungen.
„Das muss man denen klarmachen!“ findet die Blonde aus dem Fünften. Die Anwesenden, da sind sich die Anwesenden sicher, wüssten ja, im Gegensatz zu so manchem Mieter, wie das mit der Mülltrennung geht.
Ich als Anwesender muss hier ebenfalls kein schlechtes Gewissen haben. Ich trenne meinen Müll schon lange korrekt, also kann ich selbstbewusst mitlächeln und auf jene Mieter herabschauen, die angeblich zu blöd sind, ihre Kartonverpackungen für die Abfalltonne korrekt zusammenzufalten.
„…Und dann geht der Papiercontainer über“, moniert einer, der den Zusatz „Ingenieur“ auf dem Klingelschild stehen hat. „Wegen der vielen Amazon-Kartons, die täglich geliefert werden. Es wird heutzutage ja bestellt, als gäbe es kein Morgen…“
„Ja, dafür haben sie immer genug Geld“, ätzt die Dicke, die untervermietet.
Dann geht es noch um Allfälliges. Eine jährliche Baumkatasterprüfung für die Botanik rund ums Haus oder eine „1300-Prüfung“, um etwaige Stolperfallen, Brandschutz oder fehlende Handläufe im Treppenhaus zu begutachten. Die Sanierung der Hauslifte wird noch nicht als dringend erachtet.
Ich hör mir alles an und bin fast schon stolz, hier dabei sein zu dürfen, fast, als würde ich dazugehören. Für den Vermieter mache ich fleißig Notizen, um ihn später über die Versammlung zu unterrichten. Von der letzten Reihe aus kann ich alles gut beobachten, auch für mich selbst.
Meine Menschenkenntnis hat sich einmal mehr bestätigt. Die Nachbarn, mit denen ich normal nur Smalltalk übers Wetter mache, verhalten sich hier genau so, wie zu erwarten war. Es hat mich nicht überrascht, dass sich der korrekt gescheitelte Kurzhaar-Bob, das breitbeinig sitzende Hemd oder der dunkelblaue Blazer ständig und wiederholt zu Wort melden, um sich wichtig zu machen. Immer wissen sie etwas einzuwerfen oder reden - einfach nur, um gehört zu werden und um sich als besonders gescheit hervorzutun.
„Gibt es noch Fragen?“ will der Diskussionsleiter die Diskussion, als ohnehin schon alles gesagt ist, manches mehrfach, irgendwann Richtung Ende dirigieren. Auch mir reicht es an dieser Stelle bereits.
Aber klar haben sie noch Fragen, die sich keine Gelegenheit entgehen lassen, anderen ihre Worte aufs Aug zu drücken.
Der Mann neben mir, der mit dem eckigen, zerfurchten Gesicht, ich kenne ihn flüchtig, hebt wie aufs Stichwort die Hand: „Hat vielleicht irgendjemand einen Tipp, wie man – das Problem kennen vermutlich viele – die Tauben von den Balkonen und Fenstersimsen fernhält?“
Es sei wirklich ein Problem, wie das Federvieh alles verdrecken würde, schiebt er nach.
In den Reihen weiter vorne wird hörbar und zustimmend geseufzt.
„Stimmt, es ist ärgerlich. Alles scheißen sie voll, diese Mistviecher!“ echot es.
„Ja, ich weiß eh, es gibt welche im Haus, die diese Vögel auch noch füttern und anlocken. Es gibt so Verrückte…“ tönt es von vorn.
„Im ersten Stock, nicht wahr? Da wohnen die, die die Tauben füttern…“
„Ja, irgendwo im ersten…“
Ich spüre, wie ich dunkelrot anlaufe. Nicht jeder im Raum scheint zu wissen, wer genau die blöden Taubenfütterer, also die Mieter im ersten Stock sind.
Die Frau, von der ich weiß, dass sie Oberschwester im Krankenhaus und ihr Mann nochmal was Höheres ist, ahnt wohl nicht, dass sie gerade über mich redet. Vertrauensvoll beugt sie sich zu mir herüber und schimpft zustimmungsheischend über die Ratten der Lüfte, die sie am liebsten eigenhändig massakrieren würde.
Der Mann neben mir, der das Thema aufgebracht hat, weiß vielleicht schon eher, was Sache ist, aber direkt sagt er nichts. Der Seitenblick auf mich, während er sich über meine Lieblinge beschwert hat, war indes vielsagend.
Ich sage auch nichts.
Es erscheint mir unklug, mich jetzt und hier vor meinen Nachbarn zu outen. Zu sehr sind sie alle getragen von ihrem Furor, den sie als gerecht empfinden. Nichts könnte ihre Empfindung stören. Ich meine, ist besser, wenn sie mein Gesicht nicht mit ihrem vermeintlichen Problem in Verbindung bringen und wir uns auch morgen noch unbeschwert im Stiegenhaus grüßen können.
Bloß die ältere Frau mit dem Hinkebein weiß Bescheid. Oft schon hat sie freundlich von der Straße herauf gewunken, wenn meine Frieda, das weiße Friedenstäubchen, zu mir ans Fenster geflogen kam. Die Hinkefrau würde mich nicht verpetzen. Ich glaube, sie liebt die Gefiederten ebenso wie ich. Heute sitzt sie rechts von mir und schaut grad verschmitzt herüber. Sie lächelt mir zu, als wären wir Verbündete. Zum Thema äußert sie sich genauso wenig wie ich.
Ein bisschen komme ich mir feig vor.
Ich meine, ich könnte der versammelten Mannschaft ja gut erklären, dass ich gar keine Vogelscharen anlocke, wie sie behaupten, sondern Freundschaft mit nur einer Taube pflege, eben mit der lieben Frieda. Jeden Morgen kommt meine Frieda, ein schneeweißes Taubenmädchen, zu mir ans Küchenfenster, welches ich ihr sogleich bereitwillig öffne, auf dass sie hereinkommen kann. Mit einem Flügelschlag landet sie vom Fenstersims auf meinem Küchentisch, trippelt fröhlich auf mich zu, setzt sich auf meinen Unterarm und lässt sich von mir mit Sonnenblumenkernen füttern. Das haben wir lange trainiert und es hat gedauert, bis das Tier Vertrauen gefasst hat. Jetzt verlässt sich Frieda auf mich und ihre tägliche Körnerration und ich will sie auf keinen Fall jemals enttäuschen. Das soll nun ein Verbrechen sein?
Dieses unschuldige Tun muss man doch anrührend finden! Und: Unsere kleine, harmlose Freundschaft lassen wir uns nicht nehmen! - denke ich trotzig bei mir. Zeitgleich habe ich Angst, dass die Vogelsache meinem Mietverhältnis schaden könnte. Immerhin geht es um Wohnen oder nicht, um Sein oder obdachlos sein. Immerhin, nur als Mieter sitze ich hier. Als Mieter, dem man immer auch kündigen oder die Miete noch weiter raufsetzen kann.
Plötzlich bin ich sehr müde.
Augenblicklich wird mir klar, dass, egal wie harmlos mein Ansinnen, wie gut meine Argumente auch sein mögen: An die Versammelten hier käme ich nicht ran. Mit nichts in der Welt kann ich sie von ihrer vorgefassten Meinung, ihrem selbstgerechten Ärger abbringen. Sie wollen mich nicht verstehen oder Milde walten lassen. Sie wollten Recht haben und in ihrer wütenden Rechthaberei einen anderen dominieren – weil sie es können.
Dies ist etwas, das auch gar nicht nur in der Tauben-Sachen gilt; es gilt grad in so vielen heiklen Punkten da draußen. Selbst, wenn ich rhetorisch alles in die Waagschale schmeißen würde, ich würde, ich könnte die meisten meiner Mitmenschen nicht mehr erreichen. Sie halten sich alle für furchtbar gescheit, weil sie konsequent wiederkäuen, was sie gehört oder gelesen haben. Das sind die Gewissheiten, die sie durchs Leben tragen, und dazu gehört eben auch: Tauben sind schmutziges Ungeziefer. Pfui Teufel. Wer das anders sieht, muss mindestens verrückt sein.
Ich befinde mich in einem Raum mit Menschen, die mich offenkundig hassen – und ich kann nichts daran ändern, ohne Verrat an mir selbst zu begehen, Verrat an meinen Idealen oder Verrat an denen, die ich liebe.
Es erscheint mir auf einmal alles ganz aussichtslos. Ich sacke zusammen und kann nur noch drauf hoffen, dass alles schnell vorbeigeht.
Ganz so schnell geht es leider nicht.
Ich merke, wie sie sich alle geradezu lustvoll zusammentun gegen den herbeifabulierten Feind im ersten Stock. Wieviel Freude sie daran haben, gemeinsam gegen diesen vorzugehen. Kann nicht der entsprechende Vermieter Druck machen…? „Man müsste ihn nochmal explizit anschreiben“ und andere kreative Ideen kommen auf.
Die Versammlung lechzt nach handfesten Ergebnissen.
Jemand rät zu Luftballons, die man auf dem Balkon aufhängen soll, um das lästige Getier zu vertreiben; also vorerst, bis man das Problem zur Gänze gelöst hätte. Das heißt, jene, die über einen Balkon verfügen, könnten so tun.
Außerdem wird man am schwarzen Brett ein neuerliches Info-Blatt aufhängen, um einmal mehr drauf hinzuweisen, dass das leidige Taubenfüttern ausnahmslos zu unterlassen sei, darauf einigt man sich sofort. „Bitte ein gaaanz großes!“ wünscht sich eine Frau aus der ersten Reihe. „Damit es auch wirklich ein jeder kapiert!“ - Gelächter.
Haha, über mich lachen sie, ohne es zu ahnen.
Dass ich nicht mit lache, macht mich vielleicht schon verdächtig.
Der Mann neben mir lacht ebenfalls nicht.
Abwartend schaut er mich an, aber ich bleibe freundlich, ruhig.
Natürlich nichts davon werde ich in mein Protokoll schreiben, beschließe ich. Von der Taubensache muss der Vermieter gar nichts erfahren, zumindest nicht von mir.
Meinem Nebenmann lächle ich eiskalt ins Gesicht. Dann, endlich: Die Versammlung ist beendet.
„Haben Sie sich in die Liste eingetragen?“ werde ich an der Tür abgestoppt. Dies ist keine Veranstaltung, zu der man sich einfach so dazusetzen kann. Ich muss erklären, dass mein Vermieter heute verhindert ist und ich deshalb von ebenjenem hergeschickt wurde, um für ihn Protokoll zu schreiben. Der Mann mit der Liste lässt sich das Papier mit der Vollmacht des Vermieters zeigen, wodurch mein Dasein legitimiert wird. Dann erst darf auch ich mich eintragen und mich hinsetzen.
Im schmucklosen Saal sind reihenweise Stühle aufgestellt. Ich setz mich ganz hinten hin. Um mich herum sind Leute, die im Mehrparteienhaus meine Nachbarn sind. Daneben ein paar andere, die ihren Wohnungsbesitz weitervermietet haben, selbst aber woanders wohnen. Ihre Gesichter sind mir fremd.
Ein bisschen wundern sie sich schon, sie alle, was ich heute hier mache; vor allem die, die meine Erklärung beim Hereinkommen nicht mitgekriegt haben - aber keiner fragt nach.
Man kennt sich untereinander und man weiß, dass ich bloß Mieter bin. Ich, der Mieter, gehöre nicht wirklich dazu, wenn sich die Besitzenden über ihr Eigentum beraten, aber meine Anwesenheit wird schon ihre Richtigkeit haben, denken sie vermutlich. Sie haben Vertrauen in die Welt und ihre Richtigkeit. Vielleicht, so mögen sie mutmaßen, habe ich ja im Lotto gewonnen und habe mir daraufhin kurzerhand die von mir bewohnte Immobilie gekauft, sodass ich jetzt auch Mitglied im Club bin.
Nach und nach trudeln die Eigentümer ein, bis quasi alle Stühle im Raum belegt sind und die Versammlung offiziell losgehen kann.
Vorn steht ein Vertreter der Wohnbaugenossenschaft, der durch den Abend führen wird. Er fängt an, vorzurechnen, wie viele Rücklagen die Hausgemeinschaft mittlerweile gebildet hätte (ein Hunderttausend-Euro-Betrag) und dass es neue Vorgaben zur monatlichen Mindestrücklage gäbe, sodass sich dieses Guthaben verlässlich mehren wird.
Ob nun der Zeitpunkt für eine Dachsanierung gekommen sei oder ob man noch abwarten und weitere Rücklagen ansparen soll? - ist denn auch der erste große Punkt auf der Tagesordnung. Das letzte Gutachten hatte keinen dringlichen Handlungsbedarf ergeben, allerdings wird in der obersten Etage zeitweise Wassereintritt beklagt. Die Ursachen für den Wassereintritt sind indes unklar. Es muss nicht zwingend am Dach liegen, sondern vielleicht eher am Abfluss der Dachterrasse, meint jemand aus der dritten Reihe. Man einigt sich darauf, weitere Gutachter zu bestellen, voraussichtlicher Kostenpunkt ca. € 3000,-.
Nächstes Thema: Müllentsorgung. Die korrekte Mülltrennung sei ein Problem, vor allem bei den vermieteten Wohnungen.
„Das muss man denen klarmachen!“ findet die Blonde aus dem Fünften. Die Anwesenden, da sind sich die Anwesenden sicher, wüssten ja, im Gegensatz zu so manchem Mieter, wie das mit der Mülltrennung geht.
Ich als Anwesender muss hier ebenfalls kein schlechtes Gewissen haben. Ich trenne meinen Müll schon lange korrekt, also kann ich selbstbewusst mitlächeln und auf jene Mieter herabschauen, die angeblich zu blöd sind, ihre Kartonverpackungen für die Abfalltonne korrekt zusammenzufalten.
„…Und dann geht der Papiercontainer über“, moniert einer, der den Zusatz „Ingenieur“ auf dem Klingelschild stehen hat. „Wegen der vielen Amazon-Kartons, die täglich geliefert werden. Es wird heutzutage ja bestellt, als gäbe es kein Morgen…“
„Ja, dafür haben sie immer genug Geld“, ätzt die Dicke, die untervermietet.
Dann geht es noch um Allfälliges. Eine jährliche Baumkatasterprüfung für die Botanik rund ums Haus oder eine „1300-Prüfung“, um etwaige Stolperfallen, Brandschutz oder fehlende Handläufe im Treppenhaus zu begutachten. Die Sanierung der Hauslifte wird noch nicht als dringend erachtet.
Ich hör mir alles an und bin fast schon stolz, hier dabei sein zu dürfen, fast, als würde ich dazugehören. Für den Vermieter mache ich fleißig Notizen, um ihn später über die Versammlung zu unterrichten. Von der letzten Reihe aus kann ich alles gut beobachten, auch für mich selbst.
Meine Menschenkenntnis hat sich einmal mehr bestätigt. Die Nachbarn, mit denen ich normal nur Smalltalk übers Wetter mache, verhalten sich hier genau so, wie zu erwarten war. Es hat mich nicht überrascht, dass sich der korrekt gescheitelte Kurzhaar-Bob, das breitbeinig sitzende Hemd oder der dunkelblaue Blazer ständig und wiederholt zu Wort melden, um sich wichtig zu machen. Immer wissen sie etwas einzuwerfen oder reden - einfach nur, um gehört zu werden und um sich als besonders gescheit hervorzutun.
„Gibt es noch Fragen?“ will der Diskussionsleiter die Diskussion, als ohnehin schon alles gesagt ist, manches mehrfach, irgendwann Richtung Ende dirigieren. Auch mir reicht es an dieser Stelle bereits.
Aber klar haben sie noch Fragen, die sich keine Gelegenheit entgehen lassen, anderen ihre Worte aufs Aug zu drücken.
Der Mann neben mir, der mit dem eckigen, zerfurchten Gesicht, ich kenne ihn flüchtig, hebt wie aufs Stichwort die Hand: „Hat vielleicht irgendjemand einen Tipp, wie man – das Problem kennen vermutlich viele – die Tauben von den Balkonen und Fenstersimsen fernhält?“
Es sei wirklich ein Problem, wie das Federvieh alles verdrecken würde, schiebt er nach.
In den Reihen weiter vorne wird hörbar und zustimmend geseufzt.
„Stimmt, es ist ärgerlich. Alles scheißen sie voll, diese Mistviecher!“ echot es.
„Ja, ich weiß eh, es gibt welche im Haus, die diese Vögel auch noch füttern und anlocken. Es gibt so Verrückte…“ tönt es von vorn.
„Im ersten Stock, nicht wahr? Da wohnen die, die die Tauben füttern…“
„Ja, irgendwo im ersten…“
Ich spüre, wie ich dunkelrot anlaufe. Nicht jeder im Raum scheint zu wissen, wer genau die blöden Taubenfütterer, also die Mieter im ersten Stock sind.
Die Frau, von der ich weiß, dass sie Oberschwester im Krankenhaus und ihr Mann nochmal was Höheres ist, ahnt wohl nicht, dass sie gerade über mich redet. Vertrauensvoll beugt sie sich zu mir herüber und schimpft zustimmungsheischend über die Ratten der Lüfte, die sie am liebsten eigenhändig massakrieren würde.
Der Mann neben mir, der das Thema aufgebracht hat, weiß vielleicht schon eher, was Sache ist, aber direkt sagt er nichts. Der Seitenblick auf mich, während er sich über meine Lieblinge beschwert hat, war indes vielsagend.
Ich sage auch nichts.
Es erscheint mir unklug, mich jetzt und hier vor meinen Nachbarn zu outen. Zu sehr sind sie alle getragen von ihrem Furor, den sie als gerecht empfinden. Nichts könnte ihre Empfindung stören. Ich meine, ist besser, wenn sie mein Gesicht nicht mit ihrem vermeintlichen Problem in Verbindung bringen und wir uns auch morgen noch unbeschwert im Stiegenhaus grüßen können.
Bloß die ältere Frau mit dem Hinkebein weiß Bescheid. Oft schon hat sie freundlich von der Straße herauf gewunken, wenn meine Frieda, das weiße Friedenstäubchen, zu mir ans Fenster geflogen kam. Die Hinkefrau würde mich nicht verpetzen. Ich glaube, sie liebt die Gefiederten ebenso wie ich. Heute sitzt sie rechts von mir und schaut grad verschmitzt herüber. Sie lächelt mir zu, als wären wir Verbündete. Zum Thema äußert sie sich genauso wenig wie ich.
Ein bisschen komme ich mir feig vor.
Ich meine, ich könnte der versammelten Mannschaft ja gut erklären, dass ich gar keine Vogelscharen anlocke, wie sie behaupten, sondern Freundschaft mit nur einer Taube pflege, eben mit der lieben Frieda. Jeden Morgen kommt meine Frieda, ein schneeweißes Taubenmädchen, zu mir ans Küchenfenster, welches ich ihr sogleich bereitwillig öffne, auf dass sie hereinkommen kann. Mit einem Flügelschlag landet sie vom Fenstersims auf meinem Küchentisch, trippelt fröhlich auf mich zu, setzt sich auf meinen Unterarm und lässt sich von mir mit Sonnenblumenkernen füttern. Das haben wir lange trainiert und es hat gedauert, bis das Tier Vertrauen gefasst hat. Jetzt verlässt sich Frieda auf mich und ihre tägliche Körnerration und ich will sie auf keinen Fall jemals enttäuschen. Das soll nun ein Verbrechen sein?
Dieses unschuldige Tun muss man doch anrührend finden! Und: Unsere kleine, harmlose Freundschaft lassen wir uns nicht nehmen! - denke ich trotzig bei mir. Zeitgleich habe ich Angst, dass die Vogelsache meinem Mietverhältnis schaden könnte. Immerhin geht es um Wohnen oder nicht, um Sein oder obdachlos sein. Immerhin, nur als Mieter sitze ich hier. Als Mieter, dem man immer auch kündigen oder die Miete noch weiter raufsetzen kann.
Plötzlich bin ich sehr müde.
Augenblicklich wird mir klar, dass, egal wie harmlos mein Ansinnen, wie gut meine Argumente auch sein mögen: An die Versammelten hier käme ich nicht ran. Mit nichts in der Welt kann ich sie von ihrer vorgefassten Meinung, ihrem selbstgerechten Ärger abbringen. Sie wollen mich nicht verstehen oder Milde walten lassen. Sie wollten Recht haben und in ihrer wütenden Rechthaberei einen anderen dominieren – weil sie es können.
Dies ist etwas, das auch gar nicht nur in der Tauben-Sachen gilt; es gilt grad in so vielen heiklen Punkten da draußen. Selbst, wenn ich rhetorisch alles in die Waagschale schmeißen würde, ich würde, ich könnte die meisten meiner Mitmenschen nicht mehr erreichen. Sie halten sich alle für furchtbar gescheit, weil sie konsequent wiederkäuen, was sie gehört oder gelesen haben. Das sind die Gewissheiten, die sie durchs Leben tragen, und dazu gehört eben auch: Tauben sind schmutziges Ungeziefer. Pfui Teufel. Wer das anders sieht, muss mindestens verrückt sein.
Ich befinde mich in einem Raum mit Menschen, die mich offenkundig hassen – und ich kann nichts daran ändern, ohne Verrat an mir selbst zu begehen, Verrat an meinen Idealen oder Verrat an denen, die ich liebe.
Es erscheint mir auf einmal alles ganz aussichtslos. Ich sacke zusammen und kann nur noch drauf hoffen, dass alles schnell vorbeigeht.
Ganz so schnell geht es leider nicht.
Ich merke, wie sie sich alle geradezu lustvoll zusammentun gegen den herbeifabulierten Feind im ersten Stock. Wieviel Freude sie daran haben, gemeinsam gegen diesen vorzugehen. Kann nicht der entsprechende Vermieter Druck machen…? „Man müsste ihn nochmal explizit anschreiben“ und andere kreative Ideen kommen auf.
Die Versammlung lechzt nach handfesten Ergebnissen.
Jemand rät zu Luftballons, die man auf dem Balkon aufhängen soll, um das lästige Getier zu vertreiben; also vorerst, bis man das Problem zur Gänze gelöst hätte. Das heißt, jene, die über einen Balkon verfügen, könnten so tun.
Außerdem wird man am schwarzen Brett ein neuerliches Info-Blatt aufhängen, um einmal mehr drauf hinzuweisen, dass das leidige Taubenfüttern ausnahmslos zu unterlassen sei, darauf einigt man sich sofort. „Bitte ein gaaanz großes!“ wünscht sich eine Frau aus der ersten Reihe. „Damit es auch wirklich ein jeder kapiert!“ - Gelächter.
Haha, über mich lachen sie, ohne es zu ahnen.
Dass ich nicht mit lache, macht mich vielleicht schon verdächtig.
Der Mann neben mir lacht ebenfalls nicht.
Abwartend schaut er mich an, aber ich bleibe freundlich, ruhig.
Natürlich nichts davon werde ich in mein Protokoll schreiben, beschließe ich. Von der Taubensache muss der Vermieter gar nichts erfahren, zumindest nicht von mir.
Meinem Nebenmann lächle ich eiskalt ins Gesicht. Dann, endlich: Die Versammlung ist beendet.
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