Verschollen

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rubber sole

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Er stand in der feuchten Nachtluft nahe am Ufer des River Mersey in Liverpool, wo es nach Salz und Altmetall roch. Die Straßen der nahen Altstadt schienen von der Musik der Vergangenheit durchzogen zu sein, und der Klang von Gitarrenriffs und Schlagzeugwirbeln flimmerte in seiner Vorstellung. St. Pauli, die bunte, wilde Seite Hamburgs, die erste Station dieser Reise, lag hinter ihm, und nun stand er hier, am Cavern Club. Diese legendäre Kneipe war originalgetreu wieder aufgebaut und inzwischen eine Touristenattraktion geworden, aber die Atmosphäre, die er aus Beschreibungen seiner Kindheitserinnerungen zu spüren glaubte, schien immer noch präsent zu sein.

Er kannte nur vage Geschichten, die von seiner Großmutter und ihrem unbekannten Leben auf St. Pauli der frühen Sechzigerjahre handelten, von Ausschweifungen im Dunstkreis englischer Rockmusiker. Die Spur war immer schwach gewesen – ein Name hier, eine Andeutung dort - und das Gerücht um Paul McCartney. Und irgendwann hatte seine Mutter sich aufgemacht, auf die Suche nach ihrem leiblichen Vater. Aber warum hatte sie danach nichts mehr von sich hören lassen? Die Spur auf der Suche nach seiner Mutter führte nach Liverpool. Und dort hatte er die richtigen Fragen gestellt, sich mit den richtigen Leuten in den Pubs unterhalten. Alle Hinweise hatten ihn weit in die Vergangenheit geführt, zu einem Punkt, an dem er sich nicht sicher war, ob er noch etwas finden konnte. In den Ecken der Kneipen, bei den alten Männern, die an abgewetzten Tischen saßen, auf denen sich die Jahre wie Schichten gelegt hatten, blieben die Erzählungen diffus – Geschichten von verlorenen Träumen und gelebten Leben.

Dann in einem winzigen Pub, irgendwo in einer engen Gasse zwischen den alten Gemäuern, stieß er auf eine Frau, die ihn musterte, als ob sie ihn kennen würde. Ihre Augen ließen eine Geschichte erahnen, die sie anscheinend schon lange umtrieb. Sie umgab eine spezielle Aura, die ihn ihre Nähe suchen ließ, obwohl er nicht wissen konnte, wie sie die Annäherung auffassen würde, als er sich zu ihr an den Tisch setzte. Und als er ihr nach einer Weile von der Suche nach seiner Mutter erzählte, von den wenigen Erinnerungen an diese, von den Gerüchten, die ihn hierher verschlagen hatten, hörte sie still zu und nickte dann. Ja, sie habe diese Frau gekannt. Sie war hier gewesen, auf der Suche nach dem Vater, nach einem anderen Weg im Leben. Er wollte wissen, was sie damit gemeint hätte und erhielt eine Antwort, die ihn verwirrte. Seine Mutter wäre nie zurückgekehrt, weil sie in Liverpool eine Familie gefunden hat, erklärte sie. Und weiter, dass er hier in Liverpool einen Halbbruder und eine Tante hat. Die Mutter hat dem Vernehmen nach jedoch nie wieder eine Verbindung zu ihrer früheren Familie in Deutschland gewollt. Sein Herz raste. Ein Halbbruder, eine Tante - er fühlte, wie sich Schichten seiner Vergangenheit öffneten, wie sich Lücken füllten. Doch dann, als er Näheres erfragte, kam der Schlag. Er erfuhr, dass seine Mutter nicht mehr lebt, sie hat nie nach Deutschland zurückkehren wollen, weil sie in Liverpool ihr neues Leben führen wollte, ein komplett anderes. Der Schock traf ihn hart Die Frau erhob sich, für sie war das Gespräch beendet, sie wandte sich dem Ausgang zu. Er saß regungslos da, den Kopf in den Händen, während der Klang von Musik von weitem zu ihm herüberdrang. Er hatte hier von Teilen eines anderen Lebens erfahren, von einem Geheimnis, das seine Mutter verborgen hatte. Und er? Auch er war ein Teil einer völlig anderen Geschichte geworden, deren wahre Hintergründe im Schatten lagen
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Ubertas

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Hallo @rubbersole,
mir gefällt deine Geschichte sehr! Zerschlagene Hoffnung und die nackte, bittere Wahrheit, nichts zu finden von der Mutter. Vielleicht neue Hintergründe, aber keine Absolution.
Lieben Gruß ubertas
 

rubber sole

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@Ubertas:

Hallo Ubertas,

vielen Dank für dein Interesse an meiner Geschichte, die Zustimmung und die Vergabe der Sterne. Ja, zerschlagene Hoffnung kann am Ende von Suchen nach Wahrheit entstehen: mit Wünschen kann man Andeutungen entziffern, oder auch Lücken schließen – die Gefahr besteht allerdings, dass sich neue, unerwünschte Wahrheiten öffnen...

Gruß von rubber sole
 

Ubertas

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Hallo @rubbersole,

das ist, was mir an deiner Geschichte so gefällt: sie löst sich nicht auf mit der Art Wunscherfüllung, wie der Mensch sie sich gern erhofft. Das haben die an sich und die Liebsten gerichteteten Wünsche und Erwartungen gerne an sich: Sie wünschen sich meist gutes. Einen guten Ausgang. Nicht unbedingt die Wahrheit. Lieber eine Lüge, die nicht weh tut. Und alle Sehnsucht im Wunsch stört sich nicht daran.
Die Ausgänge sind unterschiedlich.
Die einen wünschen und wünschen, ganz frei vom Hinterfragen. Sie haben Wünsche. Punkt.
Andere begraben ihre Wünsche völlig und erfinden sich Wahrheiten, die Wünschen gleichen.
Wieder andere haben genügend von beidem erlebt, um selbst in der größten inneren Unzufriedenheit, nichts mehr zu wünschen.
Danke für deine wunderbaren Worte in und zu deiner Geschichte!
Sie erzählt mehr als nur eine:)

Lieben Gruß zurück ubertas.
 

wiesner

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Die Unbekannte, versteckt im Pub einer winzigen Gasse, ist die Mutter. Sie weiß zu viel, fixiert den Suchenden, weil sie ihn erkennt (Mütter erkennen immer ihre Kinder!), offenbart sich ihm aber nicht - sie verriete ihre neue Familie. Der Höhepunkt: Sie erzählt ihren eigenen Tod. Der Suchende erfasst es nicht und kann den wie selbstverständlich wirkenden Abgang der Unbekannten nicht aufhalten. Die Mutter ist tot - und doch ist sie es nicht.

Mit Freude gelesen, bester rubber sole!

Gruß
Béla
 

rubber sole

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@wiesner:

Danke, Bela, freut mich sehr, dass meine Geschichte dich anspricht. An deine Version habe ich beim Schreiben ehrlicherweise nicht gedacht – sie hebt die Handlung auf eine andere Ebene.

Gruß von rubber sole
 

petrasmiles

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Wieder ein feines Stück Prosa, rubber sole!
So werden Traumata vererbt. Ist es nicht erstaunlich, wie wichtig diese Herkunftsfrage wird, wenn man sie nicht geklärt hat?
Ich gehe übrigens mit Wiesner - und es ist vollkommen gleichgültig, ob Du dabei daran gedacht hattest - Du hast etwas geschaffen, das ein Eigenleben bekommt. DAS ist Literatur!

Liebe Grüße
Petra
 

rubber sole

Mitglied
<petrasmiles:

vielen Dank für deine lobende Bewertung, liebe Petra. Es ist wohl so, dass eine Geschichte komplett erst vom Leser abgeschlossen wird, wenn der Autor seine Arbeit abgeliefert hat, aus seiner Sicht dargelegt und manches eventuell nur angedeutet hat - immer mit der Option zu einer anderen Sichtweise. Deine Zuordnung meiner Geschichte zum Begriff Literatur verbinde ich in diesem Zusammenhang mit einem gewissen Qualitätsmerkmal. Herzlichen Dank besonders dafür.

Gruß von rubber sole
 



 
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